Ein sich wundernder Widerspruchsgeist bewegt sich durch „Gewölk, Gestein, Gewässer“
Elke Heinemanns zweisprachiger Gedichtband „Gewölk, Gestein, Gewässer“ erkundet in präzisen Siebenzeilern das Spannungsfeld zwischen Naturbeobachtung, Formstrenge und emotionaler Bewegung. In ihrer Rezension analysiert Mayjia Gille, wie Heinemann zwischen Klang und Struktur eine poetische Forschung über Materie, Vergänglichkeit und Wahrnehmung entfaltet.
Gleich zu Beginn wirken die dichterischen Worte wie Meditationen, erscheinen eher ausgesprochen als aufgeschrieben. Liest man die deutsche und italienische Entsprechung laut und bestenfalls parallel zu zweit, dann ist es ein Klang, der dialogisch Sinn im Unbegreiflichen findet, um dann doch etwas Persönliches zu offenbaren. Es fließt und stoppt. Stoppt und fließt. Pittoresk, nicht musikalisch, eine gewollte Diskrepanz zwischen Form und Freiheit. Bewusste Naturnotate in Siebenzeilern. Das Ganze liest sich dann so: Die Verse wirken wie Gewässerrauschen, Steinrollen an Küsten, können berauschen. An manchen Stellen sind sie wie freie Flüsse, Havel oder Mulde, die in Weidelandschaften fließen, dann wieder wie harsche Kanäle ‒ zusammengepfercht und untergeordnet. Dabei aber wirkt alles unzufällig.
Schon rein äußerlich positioniert sich der Gedichtband von Elke Heinemann in einem Disput zwischen Formstrenge und lebendiger Bewegung, sowie der Mensch Liebe zur Natur und den Gebrauch und Missbrauch mit Natur gleichermaßen auslebt. Er will deutlich machen und deutet hin. Auf eine sichtbare Diskrepanz: zwischen der Genauigkeit des Aufbaus der Materie und der Anwesenheit von Licht und Nichtmaterie im Nichtgesagten. Zwischen Unsagbarem und Anfassbarem. Sachlichkeit greift in die Lenden der Emotionalität. Zunächst recht unauffällig wie zarte Wolkenformation schieben sich die Gedichte in sieben Zeilen geordnet sowohl Italienisch als auch deutschsprachig voran, bleiben schön trocken im Blocksatz, der ohne Gnade Worte trennt. Pittoreske Beschreibungen, die gleichzeitig entstehende Bilder dekonstruieren und zu gekritzelten Informationen werden, die sich nicht stante pede erschließen:
ein feiner strich eine klare linie die ihren schatten voraus
wirft die einen abdruck hinterlässt weiß auf blau der sich
ausdehnt der das maß verliert der in die breite geht der
die kontur aufgibt kein feiner strich mehr ist keine klare li
nie (…)
Gedichte, für die man sich Zeit lassen kann, die wie Zeichnungen eines Kohlestiftes skizzierend, anfangs undeutlich scheinen und dennoch etwas behaupten wollen: Forscherdrang, Anspruch und Gestalt. Unter alledem schwingt sich dann ein Ton des Hochpersönlichen in einem Zentrum auf: in Venedig. Worte kreisen um die Stadt, wie die schier endlosen Gedanken um eine verkrachte Liebesbeziehung. Aber Heinemanns Dichtung ist fern von Bekenntnissen und Worterfindungslaune und bemächtigt sich nicht der Fantasie oder billigen Einfallsreichtums, sondern der rigorosen Beobachtung dessen, was scheinbar ist:
jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre
jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre
jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre
jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre
jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre jahre
yearsandyearsandyearsandyearsandyearsandyearsand
years and years old und viel älter noch ist jeder stein [noch so klein
Hier wird nicht gespielt. Hier wird geforscht. Die Dichterin wagt sich nicht aus der sicheren Behausung, der Eremitenklause, in der sie die Beobachtungen von Insel zur Insel aufsammelt wie eine Gesteinskollektion. Und bei der Wolkenbeobachtung geht es um Formgestalten und kleine Geschichtsumrisse. Etwas Leben taucht auf – so plötzlich, so jäh tauchen die Wolken nur ganz selten auf und wirken dann dafür umso überdeutlicher:
und wo ist gott fragt das kind in der wolke
Dieser Satz ragt derart heraus, man fragt, woher er kommt, während man noch mitten in der Meditation steckt über das Blau der Wolken, das Grau und das Licht und schon in Lust gerät, sich aus den Machenschaften der Menschheit herauszudissoziieren, taucht doch plötzlich wie aus dem Nichts, Gesellschaft auf:
(…) der
mann wie aus stein ist er auf einem stein hockt er er hat einen topf aufgestellt er bittet um eine spende aber wen
bittet er um eine spende nur er ist da (…)
Aber hier ist keine Erzählung, hier wird der Himmel auf die Erde verpflichtet. Wegsehen wird Hinsehensollen und Sich-Wegwünschen, man landet in der Realität der menschlichen gefallenen Natur, die durchaus im Subtext normativ klingen kann:
du weißt dass es im zentrum venedigs in der mitte des markusdoms eine weißgraue marmorplatte gibt die die venezianer das meer nennen das meer das im laufe der zeit geschliffen wurde von den schuhen der menschen das meer das riefen hat wegen der instabilen fundamente das meer das geschützt wird und bedroht das meer das abbild ist des meeres das unendlich ist und unvermeidlich
Ein persönliches Klagelied über den Umgang mit dem Unverbrüchlichen:
modrig riecht es muffig faulig wie ein abgestorbener teich nach verderben riecht es am ende der nacht und nach tod
Das trägt keine Aussicht auf Besserung in sich. Aber dann Venedig: Hier rechnet Heinemann hautnah mit der Maskerade ab und verwischt die ergraute Clownsschminke ‒ hier ist Untergang der Venezianerglorie. Die Dichterin macht plötzlich Halt, kann nicht länger nur Beobachterin sein, genehmigt sich kein Gefallenwollen, keine Ruhe und ist betroffen. Das kann nur eins bedeuten: Liebe zu dieser Stadt. Hier wollen die Gedichtkonstrukte unbedingt Struktur auflösen und sich hingeben. Gedichte, die sich wundern und trauern können über den Umgang der materialistischen Menschheit mit der mitlebenden Natur. Beschreibung von Lebewesen gehen einher mit dem zornigen Fürwahrnehmen des bedrohlich ansteigenden Wasserspiegels ‒ das nimmt auf einmal existenzialistisch den rotapokalyptischen Faden auf: Man findet Ankündigung und Bedrohung in Bewegung und Farben, in den Wolkenbildern schon am Anfang des Buches. Hier steht also ein moderner Gedichtband voll in seiner Zeit und kann von der Beobachterin nicht getrennt werden. Trotz aller Fachterminologie, die hier und da auftaucht, ist in diesem Fall ein subjektives Bewusstsein fleißig am Werkeln, das von der Größe der Umstände und der Differenziertheit der Gesteine, Gewässer und des Gewölks überwältigt scheint und sich menschlich äußern kann:
(…) kein
gedicht und wäre es in stein gemeißelt set in stone kommt gestein an alter gleich auch nicht das älteste gedicht der welt ein liebesgedicht von einer frau an einen mann und doch ist da der wunsch dichtung möge steine überdauern
Abstoßung und Anziehung liegen in den Worten und im Bild: Heinemanns Gedichte werden von Fotos leise begleitet, die der Dichtung vollkommen entsprechen. Dem entgegen kerben sich die Grafiken von Erik Schumacher hart ins Geschehen. Lässt man sich aber auf das Gesamte ein, findet auch dies seine Logik, denn die meditativen Worte zeigen sich in bedeutungsarmer geometrischer Anordnung und detailgenau, was sich in den Grafiken widerspiegelt. Der Versuch der Dichterin gelingt, sich dennoch von nihilistischer Zügellosigkeit oder gefühliger philosophischer Interpretation zu lösen, sie nimmt in Anspruch, Fehler zu begehen, um nur ja weiterforschen zu können. Der Versuch darf scheitern. Der Versuch darf gelingen. Elke Heinemanns Lyrikband bleibt bei aller Beschreibung des Außen im Innen berührt und wird gleichzeitig eins mit der Menschlichkeit, die doch ohne Hoffen nicht leben kann:
selbst wenn ich das wasser in der nacht nicht sehen kann so sehe ich doch die lichter der boote ihr leuchten als farbklang in der tiefe darüber der himmel der himmel in der nacht der für mich so unsichtbar ist wie das wasser in der nacht und doch muss der himmel da sein muss das wasser da sein weil es sonst die lichter der boote nicht gäbe und auch nicht ihr leuchten den farbklang in der tiefe (…)
Angaben zum Buch:
Elke Heinemann: „Gewölk, Gestein, Gewässer“, Gedichte in Italienisch und Deutsch
ISBN: 9783949792281
Gebundenes Buch
Umfang: 108 Seiten
Verlag: etcetera press berlin
Erscheinungsdatum: 15.07.2025
Preis: 18,00 Euro zzgl. Porto beim Verlag https://www.etceterapressberlin.com/
Letzte Änderung: 12.11.2025 | Erstellt am: 12.11.2025
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