Ein Referenzzeit-Echo

Ein Referenzzeit-Echo

Eine Replik auf Max Czolleks „Verschlossenes Land“
 | © Bernd Leukert

Immer wenn Lyrik – wie auch Musik und Malerei – in geschichtsphilosophischen Dienst gestellt werden soll, wehren sich Künstler gegen die Instrumentalisierung, vor allem, wenn sie mit politisch-moralischen Wertungen vor sich geht. Max Czollek hatte mit seiner in Faust-Kultur erschienenen Kritik an der Jury des „Literarischen März“ in Darmstadt heftige Reaktionen hervorgerufen, die sich in deutschen Tageszeitungen niederschlugen. Hier reagiert der Lyriker Sascha Anderson auf den Text.

Was an Max Czolleks Text „Verschlossenes Land“* (https://faustkultur.de/literatur-portraets/verschlossenes-land) nervt, ist nicht die auf die von ihm Lyrikbetrieb genannte Sozial- und Bedeutungsachterbahn zielende Vereinnahmungsgebärde, die der deutschen Lyrikkritik und den deutschen Lyrikpreisjurys gilt, dementsprechend das deutsche Literaturbeamtentum ein- und die -produktion selbstverständlich ausschließt. Denn die Produktion erfreut sich seit den Zeiten des Internets ebenso wie die inzwischen mittelständige Lyrikstreamindustrie ihres Untergangs in der Unvergänglichkeit, während die cmyk-Produkte des Lyrik-Festival-Typografie-Gewerbes wenigstens noch händisch entsorgt werden. Nein, jede sogenannte geistige Generation ist seit auch Kulturbetriebsgedenken mit dem Anspruch aufgetreten, das Ding, das sein Fähnchen früher oder später in den Wind ökonomischer Abhängigkeiten hängt, zu kapern. Da spreche ich aus Erfahrung. Und diese Erfahrung mit mir selbst lehrte mich, dass sich das System tatsächlich von innen heraus verändern lässt. Aber keineswegs zum Besseren.

Ich stehe mit meiner DDR-Geheimdienstvergangenheit sicher nicht in Verdacht, noch irgendwie auf Literaturpreise oder Lyrikstipendien zu spekulieren, wodurch mir all meine ritterlichen Gefühle nichts bringen. Aber der Albtraum, dass da im Herbst 2023 in meinem siebzigsten Lebensjahr mein schmaler neuer Gedichtband erscheint, und der verhältnismäßig junge, im zum science-fiction neigenden Lyriksegment die Macht übernommen habende Publizist Max Czollek sitzt in einer Jury oder sitzt ihr, vermute ich mal, vor, und sagt: Novalis diesmal schon auf der U1, Gott bewahre. Motiv auf Seite 5 Montaigne – Hm. Ansonsten hat er zwar einen jüdischen Ur-ur-urgroßvater, aber von Holocaust bzw. Schoah, unseres Ermessens nach keine Spur. Und! Und! Und! Zwar in Weimar und auch noch am Frauenplan geboren, aber an Buchenwald kein einziger Gedanke. Doch selbst wenn, dann siehe Anmerkungen, nichts als alte weiße Männer. Die Qualität der Texte, die sowieso nur in eine auf fast schon kolonialistische Art und Weise angeeignete Form geschüttet scheinen: vollentlarvter Psychodrechselkack.

Warum spreche ich über mich? Da es doch um einen Text Max Czolleks geht. Ganz einfach: Ich habe mich wiedererkannt in seiner mit reichlich Künstlertum übertünchten Pionierleiter-Attitüde. Diese Klassensprecherüberheblichkeit, diese Allianz von Phantomerfahrungsschmerz und Besessenheit. Im Nachhinein von über fünfzig Jahren war es in meinem Fall wahrscheinlich eine Legierung aus Erfahrungslosigkeit und Besessenheit vom antifaschistischen Agitprop. Doch im Grunde ist es ziemlich egal, wovon man besessen ist, da kann jeder bei sich selbst fündig werden. Aber auf einem empiriefreien Niveau sich zur Stimme anderer zu erheben, empfinde ich – bei aller ausgetauschter Erfahrung und woher auch immer geholtem Wissen – als anmaßend. Da war einer „viel im Theater“. Im Staatstheater oder im selbst auf die Beine gestellten? Und „auch mit einigen Prosaautor*innen unterwegs, die an der Neuausrichtung auf den Raum des Gesellschaftlichen arbeiten“. Ein mehr als laveder Satz und als Hintergrund einer Fahrt zu einem Nachwuchspreis für deutschsprachige Lyrik eher disqualifizierend.

Und dieses permanente Wir, dieses enervierende, aus der Weltzeit generierte Wir. Dieses wie eine Prothese an das Ich geschnallte Wir. Nicht das offensichtliche, das ausgesprochene „Wir schreiben das Jahr 2023“, „Beginnen wir beim Fakt“, „müssen wir fragen“, „in der Sprache, die wir sprechen“, „warum und zu welchem Ende wir Lyrik schreiben“, sondern das durchscheinende, vereinnahmende Wir. Jenes Wir, das wir, die wir Gramsci und so weiter gelesen haben, Gruppe nennen. Gruppen, die, wenn sie an die Macht wollen, Verzicht zu üben haben, ökonomisch und gesellschaftlich, und wenn sie herrschen, dann haben sie, zumindest theoretisch, zustimmungsfähige Ideen zu liefern. „Wir“ allerdings wissen, dass die wenigen Lauten im Gegensatz zu den Vielen, vor allem Abstriche an dem machen, worüber sie nicht verfügen und trotz allem die Debatten beherrschen. Dann mag es so sein, dass Max Czollek Lyrik schreibt, weil „die Gesellschaft Lyrik braucht“. Ich schreibe, um zu leben. Und lese, um zu leben. Und jetzt gehe ich kurz hinüber in die Bibliothek, nachschauen, was wirklich Sache ist.

Und siehe da: Die Lyrik ist in den vergangenen Jahren nicht „politischer, kritischer, innovativer, vielfältiger und beweglicher geworden“. Doch um das zu wissen, musste ich mich nicht erst in meine zehn Regalmeter Gedichte versenken. Das weiß ich, seit ich Bücher mit Gedichten kaufe**. Dass Lyrik vielfältig ist. Eher vielfältig als beweglich. Und das ist mir dann schon in den fünfzig Zentimetern Poesiealbum für neunzig Pfennig das Stück aus DDR-Zeiten aufgegangen. Wie wäre es z. B. mit Nummer 140, César Vallejo. Oder mit den von Bert Papenfuß und mir 1997 herausgegebenen Poetischen Boegen Nr. XII, Orsolya Kalász, Babymonster und die Gärtner. Neulich gerade las ich mal wieder Jehuda Amichais Gedichte, übersetzt von Lydia und Paulus Böhmer, und Meine dunklen Hände, moderne Negerlyrik, übertragen von Eva Hesse, erschienen 1953, besitze ich seit 1970. Oder August Wilhelm Schlegels Blumensträuße italiänischer, spanischer und portugiesischer Poesie, 1804 in Kleinoktav erschienen in der Berliner Realbuchhandlung. Innovativer ging und geht es ja wohl kaum.

Ganz nebenbei hat der lyrisch einigermaßen Gebildete – und das erwarte ich selbstverständlich von Menschen, die Gedichte schreiben oder in Lyrikpreisjurys sitzen oder ihnen zuarbeiten – Lyrikanthologien und Lyrikjournale ein Leben lang gelesen und en masse vorrätig. Abgesehen vom Poesiealbum aus dem Osten, auch das wunderbare Format der LCB-Editionen, und fraglos Periodika wie Kursbuch, Schreibheft, Manuskripte und Wespennest, aktuell vielleicht Zwischen den Zeilen und Mütze von Urs Engeler Editor, oder Sinn & Form, BELLA triste, Ostragehege, edit und poet. Bei mir stehen auch noch ein paar Musenalmanache aus dem Ende des 18. Jahrhunderts im Schrank. Die Romantiker waren übrigens durch und durch international. Sie dichteten so gut wie alles nach, was ihnen in die Finger fiel. So viel zur Deutschen Kultur und ihrer Tradition der Offenheit gegenüber anderen Kulturen. So wenig zum „Vogelschiss einer völkisch gestimmten Kulturtradition von der Romantik bis zur Gegenwart“. Mein lieber Scholli, was für ein autosuggestiver Dummdampf vor dem „Hintergrund intersektionaler Positionierung“.            
  • Aller Text in An- und Abführungen zitiert M. Czollek.

** Die ersten von mir gekauften Gedichtsammlungen waren ab 1967 tatsächlich die Poesiealben 2, 11 und 27. Ich weiß nicht, ob man die Reihe abonnieren konnte. Die etwa 150 in meinem Besitz befindlichen Hefte sind vom Zeitungskiosk. 1969 habe ich in einem Dresdener Antiquariat, in dem ich mir stundenweise etwas dazuverdiente, Novalis’ 1942 als Dünndruck im Insel-Verlag Leipzig erschienene Werke und Briefe mitgehen lassen. Mir ist klar, dass ein dem Gedicht verfallener junger Mensch nicht in der Lage ist, sich heutzutage die Neuerscheinungen zu leisten, die nötig wären, um auf dem Stand der Dinge zu sein und zu bleiben. Meine jedoch, dass dieses Manko in hoher Qualität von Lyrikwebsites ausgeglichen wird, die sich im gros sogar mehr als nur der Präsentation von Gedichten widmen.

Letzte Änderung: 08.04.2023  |  Erstellt am: 08.04.2023

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