Ein Buch für das Leben

Ein Buch für das Leben

Suzanne Maudets Erzählung vom Todesmarsch und der Flucht

Der Titel klingt nach Abenteuerroman. Was Suzanne Maudet beschreibt, ist die Flucht einer Gruppe von Frauen, die von der SS auf den Todesmarsch nach Westen geschickt worden waren – eine Flucht unter permanenter Lebensgefahr. Sie berichtet, was sie in den letzten Kriegstagen selbst erlebt hat. Elisabeth Abendroth stellt das Buch vor.

Neun, die nicht sterben wollten

Es scheint, wir wissen alles über den Holocaust und über seine Folgen. In Wahrheit wissen wir beinahe nichts. Denn was wir wissen, stammt meistens aus den Akten der Täter. Zeugnisse der Opfer wurden erst spät und bis heute – bezogen auf ihre unvorstellbare Zahl – nur äußerst sporadisch zur Kenntnis genommen. Es scheint, wir wissen ziemlich viel über die Todesmärsche, mit denen die SS im Zeichen des verlorenen Krieges letzte Überlebende der Lager zwang, in Frontnähe gen Westen zu marschieren – um die Gebäude der Krematorien und Lager zum großen Teil zu zerstören und so das Ausmaß der Verbrechen vor den Befreiern zu verschleiern. Ausgehungerte, verletzte, entkräftete, in dünnen Lumpen extremer Kälte ausgesetzte Menschen wurden mit Peitschen und Pistolen zum Marschieren gezwungen. Wer nicht weiterkonnte, wurde erschossen. „Räumung“, „Evakuierung“ „auf Transport schicken“, nannte das die SS. „Ganz normale Deutsche“ standen am Wegrand und sahen zu. Es geschah vor aller Augen. Die meisten sahen weg, oder jedenfalls nicht so genau hin. Später wurde nicht darüber gesprochen. Tatsächlich wissen wir nicht sehr viel über die Todesmärsche, obwohl in den vergangenen zwei Jahrzehnten einige grundlegende historische Studien und Zeitzeugenberichte dazu erschienen sind. Erinnerten nicht an wenigen Orten in Deutschland Gedenktafeln, Statuetten, Gedenksteine an dieses Grauen, es wäre weitgehend dem öffentlichen Verdrängen und Vergessen anheim gefallen.

Täter und Zuschauer – sie wollten und konnten vergessen. Die überlebenden Opfer nicht. Viele von ihnen träumten jede Nacht davon, konnten aber erst viele Jahre später darüber sprechen. Manche sprachen erst am Ende ihres Lebens, viele nie. Wenige haben es aufgeschrieben, ganz wenige sogar direkt nach dem Krieg, wie Suzanne Maudet. Im November 1921 in Argenteuil, im Département Seine-et-Oise, geboren, arbeitete sie schon als Jugendliche aktiv in der französischen Jugendherbergsbewegung „Ligue française pour les auberges de jeunesse“ (LFAJ). Sie und einige ihrer Mitstreiter*innen – darunter auch ihr späterer Mann René – gingen in die Résistance, als die deutsche Wehrmacht ihr Land überfiel. Im März 1944, kurz nach der Hochzeit, wurde das junge Ehepaar in Paris verhaftet. Nach schlimmen Verhören wurde Suzanne im Juni 1944 nach Deutschland deportiert, zunächst nach Ravensbrück, von dort nach Leipzig-Schönefeld, ins größte Frauenaußenlager von Buchenwald, wo sie gemeinsam mit über 5.000 anderen jungen Frauen aus ganz Europa unter erbärmlichen Umständen Zwangsarbeit für den Rüstungskonzern Hugo Schneider AG ( HASAG) verrichten musste, der vor allem Panzerfäuste herstellte. Im Herbst 1944 wurde in Leipzig-Schönefeld zusätzlich ein Lager für 700 männliche Zwangsarbeiter eingerichtet. „Dieser Ort (…) steht für Ausbeutung, Gewalt und Tod während der NS-Zeit.“ heißt es in einer im Januar 2022 von über 1.500 engagierten Bürger*innen, von Historiker*innen, Gedenkstättenleiter*innen, Lagergemeinschaften, von Vertreter*innen von Jüdischen Gemeinden und der Sinti und Roma unterzeichneten Erklärung. Weiter heißt es darin: „Seit 2007 ist das Gelände in Privatbesitz und fiel wiederholt durch neonazistische Aktivitäten wie Rechtsrock-Konzerte oder rechtsradikal motivierte Kampfsporttrainings auf. Die Nutzung eines früheren KZ-Geländes durch Neonazis ist ein Skandal und bagatellisiert das Leid der dort inhaftierten Gefangenen. Dieser Zustand ist unwürdig und nicht hinnehmbar.“

Die für viele ihrer Leidensgenoss*innen tödlichen „Arbeits“- und „Lebens“-Bedingungen in Leipzig-Schönefeld hat Suzanne Maudet direkt nach dem Krieg in einigen Rückblick-Sequenzen beschrieben. Auf dem Todesmarsch nach der „Evakuierung“ des Lagers gelang ihr im April 1945 zusammen mit acht jungen Mitgefangenen die Flucht. Ihr aus ganz frischer Erinnerung geschriebener Bericht widmet sich fast ausschließlich den acht Tagen dieser Flucht vor dem Tod, ihrem Weg ins Leben. Diese acht Tage voller Schrecken, aber auch voller Hoffnung, voll ermutigender Erlebnisse von Solidarität (untereinander und von anderen, oft von Leidensgenoss*innen), aber auch voll entmutigender Erfahrungen von Gleichgültigkeit, angsterfüllter Ablehnung und noch immer manifester Bedrohung, diese acht Tage zwischen den Fronten, zwischen den Resten der zwar geschlagenen, aber durchaus noch höchst bedrohlichen deutschen Armee und den Befreiern geben die Form der autobiographischen Erzählung vor. Eine streng komponierte, komprimierte, exzellent erzählte Abenteuergeschichte mit – zumindest vorläufigem – Happyend, die auch Jugendliche gern lesen werden.

Am 2. Mai 1945 kehrte Suzanne Maudet nach Frankreich zurück. Dass sie am besten schreiben konnte aus der Gruppe, war allen klar. Ihre Gefährtinnen haben sie deshalb gebeten, die Geschichte ihrer Flucht aufzuschreiben – für jede von ihnen, damit sie sich später erinnern würden, für ihre Angehörigen, ihre Freunde. Auf eine größere Öffentlichkeit konnten sie nicht hoffen, denn damals wollte ihnen niemand so recht zuhören – nicht nur in Deutschland. Auch in den befreiten Ländern Europas waren die Zeitgenossen „nicht unbedingt erpicht darauf (…), diese Geschichten anzuhören,“ schrieben die Herausgeber der französischen Ausgabe 2004 in ihrem Nachwort: Suzanne Maudets Cousin Patrick Andrivet, 2017 verstorben, lange Jahre hat er als Literaturwissenschaftler an der Universität in Paris gelehrt – und ihr Neffe Pierre Sauvanet, mehr als zwanzig Jahre nach dem Krieg geboren, Professor für Ästhetik in Bordeaux. Suzanne Maudet war damals schon zehn Jahre tot. Sie hat es nicht mehr erlebt, dass aus ihren Erinnerungen ein Buch geworden ist – geschweige denn dessen Ausgabe im Land der Täter, im Herbst 2021 im Verlag Assoziation A. Ingrid Scherf hat den literarisch überraschenden, zwar noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse stehenden, aber durch seine kunstvolle literarische Form durchaus einen reflektierenden Abstand zum Geschehen herstellenden Text einfühlsam und kenntnisreich ins Deutsche übersetzt und mit hilfreichen Anmerkungen versehen.

Dreiundzwanzig war Suzanne Maudet, als sie alles aufgeschrieben hat. Sie hatte die Hölle hinter sich, diese mutige jungen Frau und ihre Mitstreiterinnen, Widerstandskämpferinnen gegen die Nazibarbarei aus drei Ländern: Frankreich, Holland, Spanien. Die Hölle – und die Erfahrung, dass sie sich aus der Hölle freikämpfen konnten, mit Mut, Solidarität und Glück:

„Wir waren neun junge Frauen in einem Lager.
Neun, die sich gut verstanden.
Neun, die nicht sterben wollten
Und die gemeinsam gekämpft haben, um ins LEBEN zurückzukehren …“

endet Suzanne Maudets schmales Buch. LEBEN hat die Autorin selbst in Versalien geschrieben.

Letzte Änderung: 15.06.2022  |  Erstellt am: 11.06.2022

Dem Tod davongelaufen

Suzanne Maudet Dem Tod davongelaufen

Wie neun junge Frauen dem Konzentrationslager entkamen.
Aus dem Französischen von Ingrid Scherf
Herausgegeben von Patrick Andrivet und Pierre Sauvanet
128 S., geb.
ISBN-13: 9783862414888
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2021

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