Die Zukunft der Philologie

Die Zukunft der Philologie

Philologische Essays
Sarah C. Schuster | © Alexander Paul Englert

Was ist Philologie, fragt Sarah C. Schuster, und ihre Antwort ist der Weg, den sie zur Beantwortung dieser Frage beschreitet. Ihre Begleiter sind unter anderem Heidegger und Werner Hamacher und am Ziel steht die Erkenntnis, dass es sich lohnt, mit der Liebe zur Sprache eine Welt zu erhalten, die sich im Wort verkörpert.

Auszug: Sarah C. Schuster, „Die Zukunft der Philologie“

Körper, die sich bewegen, bleiben so lange in Bewegung, bis sie entweder durch eine äußerliche Kraft oder eine innerliche Notwendigkeit zum Stillstand gebracht werden. Für jede Abweichung von einem vertrauten Weg und jede Veränderung einer eingeschlagenen Richtung gibt es triftige Gründe. Indem Menschen, Tiere und Dinge in der Bewegung unterwegs sind, bahnen sie einen Weg, der erst durch das Unterwegs-Sein aus einer Unendlichkeit möglicher Wege als ein einzelner Weg sichtbar wird; ein bestimmter Weg, der zu einer bestimmten Zukunft führt. Durch die Möglichkeit der Abweichung aber, durch die sich immer wieder neue, unbekannte Wege eröffnen können, bleibt die Zukunft so lange unbestimmt, wie es noch Wege zu begehen gibt.

Im Unterwegs-Sein auf dem letzten Weg wird dasjenige, was eine Unendlichkeit an möglichen Wegen war, auf nur eine Möglichkeit, in der Welt zu sein, reduziert, auf diesen einen Weg, dessen einem Ende entgegengegangen wird. Der erste und letzte Weg in der Welt ist der Weg der Sprache, sowohl als Weg des Sprechenden in der Sprache als auch als Weg der Sprache in der Welt. Der Sprechende, der sprechend zur Sprache kommt, kommt im Sprechen zur Welt. Die Gründe für jegliche Bewegung im Unterwegs-Sein auf den Wegen der Sprache liegen in der Tiefe des Sprechenden selbst, nämlich im lógos.

Die Sprache durchbricht alles, was bis dahin als bekannt galt, und öffnet in diesem Bruch sowohl Möglichkeiten des Denkens in der Welt als auch Möglichkeiten, wie die Welt im Denken gedacht werden kann. Selbst dort, wo die Sprache stumm bleibt, findet sie ihren Weg zum Anderen. Das Geheimnis des Anderen bietet der Sprache einen Raum, in dem sich die Sprache noch vor sich selbst geheim halten kann. Der Dialog trägt alles in sich, was im Geheimnis Raum hat, wodurch es der Sprache möglich wird, von ihren eigenen Widersprüchlichkeiten, von ihrem Anfang und ihrem Ende, von Leben und Tod selbst nichts wissen zu müssen.

Derart kann die Sprache eines Sprechers selbst dann noch Sprache sein, wenn der Tod des Sprechenden bereits eingetroffen ist. In jedem Denken, also auch im Andenken, wird das Geheimnis der Seele selbst angesprochen, das sich in der Sprache versteckt. In einem Satz Heraklits heißt es von der Seele in geistiger Hinsicht: Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, wenn du auch alle Wege absuchtest; so tiefgründig ist ihr Wesen. (Die Vorsokratiker: Die Fragmente und Quellenberichte. Übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1968. S. 148). Genauso wie ein Geheimnis kein Geheimnis mehr wäre, sobald man es ergründet, ist das letzte Wort immer noch nicht am Ende, solange es unterwegs ist.

Gerät die Sprache dabei auf Abwege, eröffnet sich nicht nur eine Möglichkeit der Öffnung des Denkens, sondern auch eine Öffnung, durch die Angst in das Denken eintreten kann. Diese Angst ist die Angst eines Sprechenden, der eine Sprache spricht, in der sich alles jederzeit durch die Möglichkeit der Veränderung eines sprachlichen Weges in etwas anderes, vielleicht sogar in sein Gegenteil, verwandeln kann. Durch das Missverständnis kann sich in einer Welt, die durch eine sich ständig verändernde Sprache strukturiert ist, Leben jederzeit in Tod verwandeln und Heimliches jederzeit in Unheimliches. Es liegt an jedem Sprechenden – und damit Philologie Betreibenden –, die Sprache davor zu bewahren, als tyrannisches, willkürliches Instrument missbraucht zu werden. Es ist Sache der Philologie, in jedem „und so weiter“ ein „nicht so weiter“, „nicht und“, „anders als so“ wahrzunehmen, zu realisieren, zu aktualisieren. Das ist die kleinste Geste ihrer Politik, heißt es in Werner Hamachers 36. These zur Philologie. Werner Hamacher: 95 Thesen zur Philologie. Holderbank: Urs Engeler Verlag, 2010. S. 37). Philologie ist so per se ein Widersacher jeder Gewalt- und Willkürherrschaft und der Eitelkeit des Tyrannen.

Angesichts der Unbestimmbarkeit der Sprache sind wir haltlos, unterwegs auf unbetretenen Pfaden der Sprache. Diese unbekannten Pfade werden erst durch ihr Sprechen zugänglich und von uns mit Vorsicht begangen. Diese Aufmerksamkeit ist unumgänglich wie die Veränderbarkeit der Sprache selbst, in der jeder Weg ein unsicherer Weg sein muss. Hier ist die Angst nicht nur dasjenige, was jeden Sprechenden von sich selbst und allem andern wegrücken lässt, sondern auch dasjenige, was jeden Sprechenden mit anderen Sprechenden verbindet. Im Dialog erörtern wir wie im Dekameron Um- oder gar Auswege. Im Dialog miteinander sein zu können, bedeutet nicht nur eine Eröffnung neuer Möglichkeiten des Denkens, sondern auch eine Öffnung der Sprache für eine Offenheit ihrer eigenen Zukunft.

Wo die Angst alle Sprechenden in der Sprache verbindet, wirkt nicht allein sie, denn im Sprechen ist auch immer die Liebe zur Sprache am Werk, die es dem Sprechenden ermöglicht, in der Unheimlichkeit der Sprache immer wieder heimisch zu werden. Wie wir uns um das Feuer herum immer im Kreis anordnen werden, wird im Miteinander jede Sprache zu einer Sprache, in der ein Sprechen zugunsten des Anderen und der Sprache selbst möglich wird. Indem wir eine ins Künftige sprechenden Sprache miteinander teilen, bleibt uns die Möglichkeit erhalten, in der Sprache weiterzuleben – in einer Sprache der Liebe zum Anderen.

Philologie und Literatur – füreinander für das Andere

Das Bestreben der Philologie, ihrer Liebe Ausdruck zu verleihen und ihrer Sache gerecht zu werden, ist kein einfaches. Es richtet sich sowohl auf den lógos, mit dem sie spricht, als auch auf die Form ihres eigenen Sprechens, ohne Gefahr laufen zu dürfen, sich mit dem Gegenstand, den sie liebt, zu identifizieren. Innerhalb dieses heiklen Gesprächs steht mehr auf dem Spiel, als es zunächst den Anschein hat, wenn von der Philologie und ihrer Sache die Rede ist. Denn ihre Sache ist auch immer Sache des Anderen. Das meint einerseits, dass die Sache der Philologie auch immer Sache der Literatur ist. .

Die Philologie kann der gemeinsamen Sache nur gerecht werden, wenn sie der Literatur selbst gerecht wird, indem sie durch den Dialog mit der Literatur dem Denken in der Literatur eine Art von Heim bietet, ohne dieses Denken durch eine bereits gesicherte Perspektive zu entstellen oder zu zerstören. Es bedarf zunächst der Stille, des Ablassens von einer Perspektive, um zu denken, was sich in der Literatur von sich aus darbietet, und zu hören, auf welche Weise Literatur von sich spricht. Nur solcherart kann die Philologie in einem weiteren Schritt durch das Nachvollziehen der Prinzipien eines Denkens und durch das Sprechen über die Notwendigkeit bestimmter Gedanken demjenigen Schwere lassen oder Nachdruck verleihen, was sich in der Literatur freizusetzen sucht, sich aber nicht von selbst versteht.

Andererseits ist die gemeinsame Sache der Philologie und Literatur ihrerseits Sache eines wiederum Anderen: eines unfassbaren Anderen als einer unvorhersehbaren, möglicherweise immer anderen Zukunft der Welt. In ihrer Bestimmung als Hilfssprache liegt der Philologie in jedem Sprechen der Wunsch zugrunde, das zu beschützen, was sie liebt; ein Wunsch, durch ihre Hilfe sowohl den lógos als auch die Liebe selbst, die philía, zu bewahren. Wenn sich philología und Literatur einander mitteilen, kommunizieren sie nicht nur miteinander, sondern sprechen gleichermaßen in gemeinsamer Sache, auch dann, wenn sie sich ihrer gegenseitigen Fürsprache nicht bewusst sind, zugunsten der Welt.

Indem sich die Philologie darum bemüht, angesichts der Probleme bei der Übertragung von Sprache bestimmte sprachliche Zusammenhänge kenntlich zu machen, spricht sie sich für die Erhaltung einer Welt aus, in der eine Sprache gesprochen wird, die einen Anderen erreichen kann. Derart verteidigt sie die Sprache in einem Kampf um Leben und Tod vor ihrem eigenen Stillstand. Philologie ist Sache jedes Menschen, so wie die Sache der Philologie der Mensch und die Welt ist. Es wird Philologie so lange geben, wie es Sprache gibt.

Stirbt die Sprache, so stirbt nicht nur die Philologie, sondern mit ihr die Welt. Das Bestreben der Philologie, eine Welt zu bewahren, in der das lebt, was sie liebt, ist gerichtet auf eine Zukunft, die offen bleibt – die Zukunft der Sprache, die Zukunft des Menschen, die Zukunft der Welt – für die Fortsetzung einer sprachlichen Bewegung. Obwohl es letzten Endes bloß eine Zukunft geben kann, ist dasjenige, was diese Zukunft bringen wird, durch jedes weitere Sprechen noch nicht entschieden. Es gibt so viele Möglichkeiten einer Zukunft der Philologie, wie es Wünsche gibt, ihrer Sache gerecht zu werden und diese dadurch, dass von ihr weiter die Rede ist, zu beschützen.

 
 
 
Aus: Sarah C. Schuster, „An-denken”, Edition Faust Academic, Herbst 2022

Letzte Änderung: 23.09.2022  |  Erstellt am: 23.09.2022

An-denken | © Alexander Paul Englert

Sarah C. Schuster An-denken

Philologische Essays
200 Seiten
Broschur
edition faust academic
ISBN 978-3-949774-06-5

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