Die kleinen Schriften eines großen Gelehrten
Was darf der König nicht erkennen? Briefliche Äußerungen von Rubens zu einem royalen Gruppengemälde hatten einst den kritischen Kunsthistoriker Martin Warnke die Sozialgeschichte des modernen Malers erforschen lassen und sein verbreitetes Buch „Hofkünstler“ hervorgebracht. Anderthalb Jahre nach seinem Tod sind nun, wie Martin Lüdke schreibt, zum Teil überraschende Aufsätze aus seinem Nachlass veröffentlicht worden.
Er wurde, Ende 1937, in Brasilien, und zwar mittendrin, in Ijul, Rio Grande del Sul, geboren, wurde, zurück in Deutschland, Kunsthistoriker, blieb jedoch, als Fußballer, so lang er sich entsprechend bewegen konnte, Brasilianer, technisch brillant, leicht verspielt und trotzdem effizient. Im Dezember 2019 ist er in Halle gestorben. Er hat in Marburg, dann lange bis zu seiner Emeritierung 2003 in Hamburg gelehrt. Er wurde u. a. mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet. Das Geld steckte er vor allem in die Forschungsstelle für Politische Ikonographie im Hamburger Warburg-Haus.
Überlegungen zu „Cranachs Luther“ oder zu „Jacob Burckhardt und Karl Marx“, die bis auf wenige Tage Differenz gleichalt und zudem Studienkollegen waren, „Gedanken zu Goya“ und „Erinnerungen an Aby Warburg“, solche kleineren Aufsätze und Studien darf man von einem Nachlassband dieser Art erwarten. Beschreibungen wie die des „langen Wegs von Warburg Schnecke“, die konnte man erhoffen. Eine wirklich hübsche Anekdote.
Dass sich Martin Warnkes Beitrag zu der Sammlung von Jürgen Habermas, anlässlich des 1000. Bandes der Edition Suhrkamp aus dem Jahre 1979, „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit’“, einer der originellsten Aufsätze dieser beiden Bände, hier wieder findet, nämlich der Aufsatz „Zur Situation der Couchecke“, ist dagegen eine wirkliche Überraschung und ein Glücksfall dazu. Denn anhand der Couchecke im (klein-)bürgerlichen Wohnzimmer entfaltet Warnke eine luzide Sozial- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Denn wer weiß schon, dass nach der Trennung von Wohn- und Schlafbereich „wichtige Inventarstücke“ des Wohnzimmers, etwa das „Paradekissen“, mit abwandern mussten? Viele der Ausstellungsstücke, die sich im Wohnzimmer präsentieren, werden erst dann verständlich, „wenn man sie in ihren ursprünglichen Zusammenhang zurückversetzt“. In den funktionalen Leerraum, der dann im 19. Jahrhundert entstanden war, zog schließlich die „Couchecke“ ein. Dieses Ensemble, das sich später im zwanzigsten Jahrhundert „als Symbol einer abgeschirmten, intimisierten Privatexistenz“ durchgesetzt hatte, sei jetzt (1979) „im Begriff, sich wieder, vor allem durch das Fernsehen, in der Außenwelt aufzulösen.“ Ob damit eine Gegenwelt „aufgezehrt“ oder unsere Welt „wohnlicher“ wird, sei noch nicht auszumachen. Und ist es bis heute nicht.
Die „Rede zum Tod des Vaters“, einem protestantischen Pfarrer, die Martin Warnke am 11. März 1968 gehalten hatte, zeigt die hohe Achtung vor dem Vater und zugleich eine nicht überwindbare Ferne. Es ist nicht nur eine anrührende, von einem tiefen Verständnis des in sich verschlossenen Vaters geprägte Rede, sondern mehr noch der Versuch, das Unverständliche an dem Vater als Rätsel zu belassen. Warnke greift dabei oft auf das zurück, was sich der Vater bei seinen Lektüren angestrichen hatte. Etwa bei Wilhelm Raabe die Frage: „Was haben wir vom wachen Leben mehr als unsere Träume?“ Der Vater war Pfarrer geworden und für einige Jahrzehnte nach Brasilien gegangen. Bei einem Krippenspiel hatte er seine spätere Frau kennengelernt.
Er „pflegte Leute, die ihm unerschütterliche Überzeugungen vortrugen, mit verschränkten Armen und großen Augen anzublicken, worin sich Mitleid mit Achtung zu vermengen schien.“ Seine „Gebrochenheit“ sei das „Menschliche“ an ihm gewesen. Martin Warnke schließt: „So steht er uns vor Augen nicht als einer, von dem wir ‚was wüssten’, sondern als einer, der uns etwas tief Humanes zu wissen gibt und aufgibt.“
Direkt im Anschluss an diesen Nachruf folgt ein zweiter persönlich/biographischer Beitrag: „Der ‚Fall Cèsar’ zu Dortmund. Rede zur Ehrenpromotion.“ Diese Rede, auch noch in einer Kirche gehalten, weil die Dortmunder Universität über keine geeigneten Räumlichkeiten für diesen hehren Zweck zu verfügen schien, gehört zu dem Verblüffendsten, was ich je gelesen habe. Warnke beschreibt hier den Fall des Thüringer Pfarrers August Cèsar, der am 19. April 1906 von der Reinoldigemeinde in Dortmund für eine ihrer Pfarrstellen vorgeschlagen worden war und sich, als Auswärtiger, in einem dreieinhalbstündigen Kolloquium auf „seine Anstellungsfähigkeit und Vorbildung“ hin prüfen lassen musste. Pastor Cèsar nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, behauptet, dass Christus wie jeder Mensch geboren worden sei, von einer jungfräulichen Geburt keine Rede sein könne. Jesus sei ein Gottessohn nicht in einem physischen oder metaphysischen Sinn, sondern weil er mit Gott allerdings religiös-sittlich eins sei. Und so weiter. Und so weiter. Die Gemeinde wollte einen solchen Pfarrer haben. Die Kommission hingegen lehnte ihn ab. Das Verfahren, das ausführlich beschrieben wird, zog sich hin. Am Ende musste August César in Thüringen bleiben. Er war dort mit vielen einflussreichen Geistern, darunter dem bekannten Liberalen Friedrich Naumann befreundet. Und so beschreibt Warnke bei seiner Rede zur Verleihung des Ehrendoktors der Universität Dortmund in aller Ausführlichkeit diesen Lebensweg des Pastors August César, bis hin zu der Tatsache, dass die Familie César, die kinderlos geblieben war, sogar einen Ziehsohn aufgenommen hatte, um dem begabten Kind Schulausbildung und sogar Studium zu ermöglichen. Die Rolle, die Dortmund nicht nur im Leben dieses Pastors gespielt hatte, wird dabei überdeutlich. Dann kommt er zum Ende. Es folgt ein kurzer Satz. Fünf Worte nur. Eine Pointe. Allein deshalb lohnt sich der Kauf dieses Buches, vor allem natürlich die Lektüre.
Letzte Änderung: 27.12.2021 | Erstellt am: 05.04.2021
Martin Warnke Warburgs Schnecke - Kulturwissenschaftliche Skizzen
Herausgegeben von Matthias Bormuth
Mit einem Essay von Horst Bredekamp
Gebunden, 245 Seiten
Wallstein Verlag, Göttingen, 2021