Die Götter reisen in der Nacht

Die Götter reisen in der Nacht

Der fünfte Roman von Louis-Philippe Dalembert

Während Leben in Haiti zunehmend unter anarchischen Umständen gestaltet werden muss, gibt es eine starke literarische Bewegung, die die ursprünglichen Kräfte dieser Gesellschaft im Blick hält und Visionen von einer alternativen Zukunft entwickelt. Louis-Philippe Dalembert erinnert sich in seinem Roman „Die Götter reisen in der Nacht" mit diesem Wissen an Szenen aus der Kindheit und des Vaudou, berichtet Andrea Pollmeier.

Vagabundentum schafft Leere, aber auch Unabhängigkeit

Autoren der Frankophonie, die früheren Kolonialstaaten entstammen, haben es weiterhin schwer, im deutschsprachigen Raum publiziert zu werden. Den Filter des Buchmarktes passieren sie am ehesten, wenn sie Klischeethemen bearbeiten. Für einen haitianischen Autor springt dieser Mechanismus zum Beispiel immer dann an, wenn es um den Vaudou geht.

Louis-Philippe Dalembert, 1962 in Port-au-Prince geboren, hat sich lange gewehrt, über den Vaudou zu schreiben. In seinem fünften Roman, der 2006 entstand und jetzt in der deutschen Übersetzung von Bernadette Otte in dem auf haitianische Literatur spezialisierten Litradukt Verlag erschienen ist, hat Dalembert dem Druck nun scheinbar nachgegeben.

In seinem autobiographisch angelegten Roman „Die Götter reisen in der Nacht“, der 2008 mit dem Literaturpreis der Casa de las Américas ausgezeichnet wurde, schreibt er „mit dem ganzen Hunger und Durst des Ausgeschlossenen“ über sein zwiespältiges Verhältnis zum Vaudou. Als Agnostiker distanziert sich Dalembert von den religiösen Aspekten des Volksglaubens, erkennt jedoch an, dass die eigene Kindheit trotz der Gegenwehr seiner ihn erziehenden, streng protestantischen Großmutter, stark vom Vaudou geprägt worden ist.

Zwischen erklärenden Vor- und Nachbemerkungen erzählt Dalembert darum in als „Mouvement“ bezeichneten Teilen von seiner Kindheit in der Zeit der Duvalier-Diktatur. Auch wenn die politische Seite der Diktatur für das Kind nicht offensichtlich ist, wächst es doch in einer Atmosphäre der Widersprüche und sozialen Konflikte auf. Der Erzähler gibt berührende Einblicke in das familiäre Leben Haitis. Er spricht nach Art eines inneren Dialogs zu sich selbst in der 2. Person ( „Du“) und hält so zugleich Distanz zu seinen im Plauderton entfalteten Geschichten.

Besonders eindrucksvoll schildert er die Wirkung der Trommel im haitianischen Karneval. Die Magie ihres Klangs dringt durch die Mauern bis in den geschützten Innenhof von Großmutter Grannies Haus. Die Rhythmen der Trommeln prägen den Erzählstil. Elliptisch geformte Sätze erzeugen eine Dynamik, die den bezwingenden Sog des Trommelschlags überzeugend nachvollziehbar macht.

Die Trommel hat auch eine visionäre Bedeutung. Weit klingt sie über das Meer hinaus und verbindet die karibischen Inseln und Afrika. Sie verweist ebenso wie der Titel des Romans auf Gemeinschaft stiftende, historische Bezüge, die um 1930 durch die Négritude-Bewegung von Aimé Césaire, Léon-Gontran Damas und Lépold Senghor ins Blickfeld gelangten.

Bis heute ist die Suche nach einer eigenen Identität zentrale Herausforderung postkolonialer Gesellschaften. Für Haiti gilt dies in besonderem Maße. Zum Zeitpunkt der Republikgründung 1804 waren alle Urbewohner durch die Kolonialisierung zu Tode gekommen. Traditionen, die der Gesellschaft jenseits der kolonialen Prägung eine Basis geben konnten, fehlten. Die Suche nach eigenen Wurzeln ist darum oft Thema und macht die Auseinandersetzung mit dem Vaudou jenseits exotisierender Showeffekte so wichtig.

Wenn Dalembert diese Aufgabe nun angeht, folgt er nicht dem Wunsch, Verkaufszahlen zu steigern. Vielmehr versucht er, ein Phänomen zu erfassen, das über Haitis Grenzen hinaus bis heute identitätsstiftend wirkt. Er tut dies auf intellektuellem Weg, konsultiert einerseits die international relevante Vaudou-Forschung und folgt andererseits den Erinnerungsspuren der Kindheit. Das Ergebnis seiner Recherche ist jedoch fiktiv. „Heimat. An die du keine Erinnerung hast, außer du erfindest sie dir“, heißt es im Text.

Louis-Philippe Dalembert hat in vielen Ländern gelebt und spricht sieben Sprachen. Er selbst bezeichnet sich als Vagabund und verbindet damit nicht Abenteuerlust, sondern Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Vagabundentum schafft Leere, aber auch Unabhängigkeit. Von seinem aktuellen Wohnsitz Paris aus engagiert sich Dalembert darum für eine Literatur, die sich nicht an Vorgaben orientiert. Beim Schreiben meidet er beispielsweise bewusst die Themen, die das mediale Bild Haitis bestimmen und von einem Autor aus Haiti erwartet werden. Auch so kann literarisches Schreiben politisch wirksam sein.

Letzte Änderung: 01.12.2021  |  Erstellt am: 01.12.2021

Hinweis:
Am 4./5.12.2021 nimmt Dalembert auch an dem Buchsalon haitianischer Autoren in Paris teil.

Die Götter reisen in der Nacht

Louis-Philippe Dalembert Die Götter reisen in der Nacht

Taschenbuch
200 Seiten
ISBN: 978-3940435194
Litradukt Literatureditionen

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