Der Nachtwächter auf der Epochenschwelle

Der Nachtwächter auf der Epochenschwelle

Bonaventura und Jacob Böhme
 | © Bernd Leukert

Der Philosoph Thomas Regehly ist einer der Herausgeber des äußerst informativen Bandes „Mystik und Romantik“, in dem der Einfluss des Mystikers und Philosophen Jacob Böhme auf die Romantiker untersucht wird. In seinem eigenen Beitrag, „Ultra crepidam“ – Ein Schuster im Athenäum und frühromantische Nachtwachen in Erwartung der Morgenröte –, aus dem wir zwei Kapitel vorstellen, begibt sich Regehly in die Nachtwachen von Bonaventura.

2.5 Nachtwachen: von Bonaventura

Zur ‚Stimme der Romantik’ gehören Walter Benjamin zufolge die Nachtwachen des Bonaventura, ein satirischer Roman des Göttinger Schriftstellers und Theaterregisseurs Ernst August F. Klingemann, der 1805 erschienen ist. In sechzehn Episoden experimentiert der Erzähler Kreuzgang virtuos mit unterschiedlichen Identitäten, Genres und Kunstformen. Neben der Literatur spielen Musik, Theater und Malerei eine Hauptrolle. Romantische Sprachkunst, eine losgelassene Ironie und die Erkenntnis, dass hinter allen Erscheinungen das Nichts gähnt, zeichnen dieses Werk aus.
Das Spektrum der Frühromantik reicht – dem Leitfaden des Nächtigen folgend – von den Hymnen an die Nacht bis zu den Nachtwachen: von Bonaventura. „Das faszinierende, genialisch-nächtliche Büchlein […] ist ein Erzeugnis der Frühromantik. […]. In unbewußtem Querschnitt wird hier alles gezeigt, was den Menschen um 1800 bedrückte, erhob und abstieß […]“ schreibt Wolfgang Pfeiffer-Belli in seinem Nachwort zur Neuausgabe 1947 und stellt damit klipp und klar das Buch, obwohl erst 1805 erschienen, in den Kontext der Frühromantik. Michael Elsässer zufolge endete die „richtungsweisende Phase der Frühromantik […] ungefähr 1804“. Sie reichte also bis zum Jahr der Abfassung der Nachtwachen. Dass „Die Nachtwachen […] dem geistigen Umfeld der Jenaer Frühromantik verpflichtet“ sind, betont auch Steffen Dietzsch, dort seien „ihre geistigen Wurzeln“ zu finden.

Ein weiteres Detail spricht für diese Zuordnung. Die zentrale Rede des Nachtwächters, der in der sechsten Nachtwache für den 31. Dezember 1799 das Weltgericht ankündigt und seine abschließende Rede über die Weltgeschichte in Form einer Generalabrechnung hält, wird in die _Athenäum_-Zeit hineinokuliert. Dieses Datum markiert eine Epochenwende. Der Nachtwächter, auf der Epochenschwelle stehend, zieht in der sechsten Nachtwache in einer unvergleichlichen Weise vom Leder. Seine schonungslose Kritik richtet sich gegen den König, gegen die Philosophen, die Theologen, die Juristen und schließlich gegen die Staatsmänner. Da „es mit der Zeit zu Ende geht“, ist dieser Ton nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Nicht nur die Endzeiterwartung verbindet diese überscharfe Polemik mit Jacob Böhme, auch die Position des ungelehrten, unverbildeten Laien, der ohne Scheu die Dinge beim Namen nennt, weil er sich dazu berufen fühlt und sie benennen muss, erinnert an den Görlitzer Schuhmacher.

Das Büchlein fand lange Zeit kaum Beachtung. Jean Paul war der einzige, der es gleich nach Erscheinen einem Freund zur Lektüre empfahl, mit der irrigen Autorangabe, die dann fast ein Jahrhundert lang nicht ernsthaft angezweifelt wurde: „Lesen Sie doch die Nachtwachen von Bonaventura d.h. von Schelling. Es ist eine treffliche Nachahmung meines Giannozzo; doch mit zu vielen Reminiszenzen und Lizenzen zugleich“.

Die Forschungsgeschichte ist einen eigenen Beitrag wert. Raimund Steinert lässt sie 1914 Revue passieren, und Jost Schillemeit hat sie in seinem Buch von 1973 ausführlich dargestellt. Als mögliche Verfasser wurden lange Zeit Friedrich Schelling, dann Friedrich Gottlob Wetzel, E.T.A. Hoffmann und Clemens Brentano genannt. Jost Schillemeit hat schließlich als Autor einen Vertreter der zweiten Liga – einen der heute vergessenen second rate minds – plausibel gemacht, nämlich Friedrich August Klingemann, einen Theaterpraktiker aus Braunschweig. Diese These wurde 1987 durch einen Dokumentenfund in Amsterdam bestätigt.

Dass die Autorfrage – Wer ist Bonaventura? – lange Zeit im Fokus stand, ist angesichts der Fragen, welche der Text selbst aufwirft, relativ unverständlich, lässt sich aber durch Hinweis auf dessen zerklüftete, jede Art von Einfühlung abweisende Struktur erklären. Der Verfasser spielt in einzigartiger Weise mit Namen und Rollen, Genres und Formgesetzen, Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein. Während die germanistische Bonaventura-Forschung sich vornehmlich um die Verfasserfrage kümmerte, haben zahlreiche namhafte bildende Künstler den Text illustriert und auf diese Weise für seine Verbreitung und sein Weiterleben gesorgt. Karl Walser, der Bruder Robert Walsers, versah die Ausgabe von 1910 mit einem Titelkupfer und Initialen, Karl Thylmann (1915), Bruno Goldschmitt (1923) und Lovis Corinth (1925) illustrierten den Text und verschafften ihm eine gewisse Popularität. Nach dem 2. Weltkrieg legten Wilfried Blecher (1969) und Michael Diller (1991) illustrierte und kommentierte Ausgaben vor.

Der Text selbst lässt ein ‚bekennendes Nicht-Ich’ in vorbildlicher romantischer Zerrissenheit erkennen, die Statistik hat sowohl an dem Protagonisten wie an dem Autor jedes Recht verloren. Steffen Dietzsch, einer der besten Kenner des Textes, schreibt: „Je intensiver sich der Blick auf die Maske Bonaventura richtete, um so undurchdringlicher wurde sie“. Das Ich – stets mit Fichtes Philosophie assoziiert – ist ein durch und durch problematisches Ich (Vierte Nachtwache). Einen „psychologischen Schlüssel zu meinem Selbst“ liefert der fiktive Verfasser erst ganz am Ende, zum Ausklang des Buches in der XVI. Nachtwache nach. Die Nachtwachen sind deshalb auch der genaue Gegensatz eines Bildungsromans, man könnte geradezu von einem Anti-Meister sprechen, der Friedrich Schlegels „Übermeister“ zwar nicht an die Seite tritt, aber aus der Ferne korrespondiert. Eine Entwicklung und allseitige Durchbildung der Persönlichkeit findet nicht einmal ansatzweise statt.

August Klingemann war ein Braunschweiger Theaterpraktiker, der „mimische Grundzug“ des Textes fällt gleich ins Auge, die durchweg starken Sprüche sind sämtlich Bühnensprüche, die einen ausgeprägt theatralischen Charakter haben. Es ist wenig aussichtsreich, anhand ihrer den Verfasser identifizieren zu wollen. „Mangelnde Originalität“ wurde Klingemann zwar bereits von Zeitgenossen vorgeworfen, aber nicht ganz zu Recht. Seinen in den Nachtwachen mehrfach herbeizitierten Figuren Ödipus, Moses, Hamlet, Ahasver, vor allem aber Faust, hat er in seinen Stücken zu einem eigenen Bühnenleben verholfen.

Was wäre noch zum Autor zu sagen? Er ist ein „satirischer Stentor“ bzw. Exekutor, zudem ein halbprofessioneller Indiskretin, der ein virtuoses Spiel mit Professionen und Genres treibt. Die Kritik an der Diktion, die mitunter grell und derb, pathetisch und übersteigert ist, scheint berechtigt zu sein. Schillemeit spricht etwas ungnädig von „Konsumliteratur“. Es gibt aber auch starke, wirkungsmächtige Stellen. Die Hinweise auf Namen und Werke bleiben in der Regel vage und unbestimmt – so wird aus den Brüdern Schlegel ein „Gesamt-Schlegel“. Namen und Bücher lassen sich nur schwer verifizieren, sie stammen aus zweiter oder dritter Hand, vom Hörensagen, aus der Zeitungslektüre. Bemerkenswert ist, dass der Verfasser mit seinem richtigen Namen auf dem berühmten Jenaer Kupferstich mit der Unterschrift Versuch auf den Parnaß zu gelangen vorkommt, der 1803 von literarischen Gegnern wie Gabriel Merkel und August von Kotzebue publiziert wurde, das den Auftrieb der romantischen ‚Schwärmer’ in satirischer Weise zeigt.

Klingemanns Parteinahme für die Frühromantiker und gegen die Berliner Aufklärer um Friedrich Nicolai wurde von Jost Schillemeit dargestellt. Für das Benjaminsche Hörspiel von 1932 ist vermutlich besonders die Nähe zum Athenäum von Bedeutung. Klingemann gab ab Mitte 1800 eine Zeitschrift mit dem Titel Memnon heraus, in der er sich als Vertreter der „neuen, am Athenäum orientierten romantischen Schule“ zeigte, welche die Aufklärer um Nicolai in ihrer „Tabagie“, wie es im Hörspiel heißt, verspotten: „Man kann […] mythologisch und ohne Polemik sagen: die Sonne, von der diese Memnonssäule tönt, ist das Athenäum“. Dass Friedrich Schlegel über diese Art der Nachfolge nicht glücklich war und auch mit Kritik nicht sparte, steht auf einem anderen Blatt: ‚Neu’ wird hier aber in einem überraschenden Sinne gemeint: als Moment der Zersetzungs- und Dekompositionsgeschichte der Frühromantik, für die das Stichwort ‚Potenzierung durch Vergröberung’ erlaubt sein mag – das entspricht in gewisser Weise Benjamins Begriff des ‚positiven Barbarentums’ in dem Essay Erfahrung und Armut aus dem Jahr 1933.

2.6 Jacob Böhme in den Nachtwachen

Jacob Böhme ist der erste Autor, der bereits in der ersten Nachtwache fast physisch herbeizitiert wird. Unter den zahllosen Namen, die den Text durchschwirren, erhält seiner einen ganz besonderen Akzent: „Enger mit dem Gang der Nachtwachen zu verknüpfen sind auf den ersten Blick allein die Namen Jacob Böhmes und William Shakespeares“. Der Nachtwächter gerät auf seinem nächtlichen Rundgang in die Wohnung eines ‚sterbenden Freigeistes’, den er von seiner Familie umringt vorfindet, von einem ‚Pfaffen’ bedrängt, der sich die Seele sichern will, wie es in bewährter kirchenkritischer Tradition heißt. Die Musik ist in dieser Szene das verbindende Element. Der Nachtwächter singt am Bett des sterbenden Freigeistes, um den ‚Feuerruf’ des rasenden Mönchs ‚durch leise Töne zu verdrängen’. Ein Detail aus der Lebensbeschreibung Böhmes, die wir Abraham von Franckenberg verdanken, spielt dabei eine entscheidende Rolle:
Den Sterbenden ist die Musik verschwistert, sie ist der erste süße Laut vom fernen Jenseits, und die Muse des Gesangs ist die mystische Schwester, die zum Himmel zeigt. So entschlummerte Jacob Böhme, indem er die ferne Musik vernahm, die niemand, außer dem Sterbenden hörte.

In Franckenbergs hagiographischer Darstellung, deren Details mit großer Vorsicht aufzunehmen sind, heißt es:
Allwo er […] folgenden 7. (17.) Nov. Sonntags verschieden, da er zuvor seinen Sohn Tobiam rufte und fragte: Ob er auch die schöne Music hörte? Als er sagte Nein, sprach er: man solte die Thüre öffnen, daß man den Gesang besser hören könne.

In der vierten Nachtwache blättert der Nachtwächter in seinem Lebensbuch, dessen Vorhandensein und Zuhandenheit wie eine sonnenklare Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Ähnlich wie Ritter präsentiert er eine fiktiven Biographie, die in wenigen Auszügen und Bildern dem Leser eröffnet wird. Er betrachtet den dritten Holzschnitt, auf dem sein Adoptiv-Vater, ein Schuhmacher, bei der Arbeit an einem Schuh zu sehen ist, während er zugleich ‚eigenen Betrachtungen über die Unsterblichkeit Raum’ gibt. Der Sohn schaut zu:
Das Buch, worauf ich sitze, enthält Hans Sachsens Fastnachtsspiele, das woraus ich lese, ist Jakob Böhmens Morgenröte, sie sind der Kern unserer Hausbibliothek, weil beide Verfasser zunftfähige Schuhmacher und Poeten waren.

Das dritte Kapitel seines Lebensbuches, das sein Vater verfasst hat und in der vierten Nachtwache fragmentarisch ausgebreitet wird, enthält zahlreiche Parallelen zu Böhmes Leben und lässt sich ebensowenig über einen gewöhnlichen biographischen Leisten schlagen. Der Nachtwächter führt eine Parallelexistenz, die Schilderung des Lebens scheint direkt aus den Berichten über Böhme entnommen zu sein. Die natur-philosophischen Studien werden dargestellt, der fast zwanghafte Aufstieg bis zum ‚letzten Grunde’, über den er Aufschluss erhalten möchte:
Ebenfalls nennt er die Blumen oft eine Schrift, die wir nur nicht zu lesen verständen, desgleichen auch die bunten Gesteine. Er hofft diese Sprache noch dereinst zu lernen, und verspricht dann gar wundersame Dinge mitzuteilen.
Neben Böhme spielt der Handwerker- und Dichterkollege Hans Sachs in den Nachtwachen eine wichtige Rolle, und zwar in der vierten, siebten und zwölften Nachtwache. So wird auch der heilige Crispinus, in dessen Schatten der Protagonist zu einer grotesken Episode aufbricht, als Schuhmacher vorgestellt. Vor allem der Vater wird immer wieder als Schuhmacher präsentiert, um die Sphäre des Volkstümlichen und Handwerklichen zu evozieren, auf dessen Basis sich die Spekulationen und Einsichten dann entfalten. Man könnte soweit gehen zu sagen, dass der Name Böhme diffundiert, in verschiedenen Gestalten repräsentiert wird und auch in Wendungen wie dem häufig gebrauchten ‚nec ultra crepidam’ (‚Nicht über deinen Leisten!’) präsent ist, das auf eine der ältesten Schustergeschichten der bildenden Kunst zurückverweist, die Plinius der Ältere im Buch XXXV der Historia naturalis überliefert hat und sich zu dem Satz verdichten lässt ‚Schuster, bleib’ bei deinem Leisten!’. Primarius Gregor Richter griff bekanntlich auf diesen autoritativen Spruch zurück, um Böhme 1612 von der weiteren Abfassung von Schriften abzuhalten, die mit seiner Profession und seiner Kompetenz offenkundig nichts zu tun haben. Das notwendige Komplement zum einfältigen Laien stellt der ‚gelehrte Narr’ dar, der in der dritten Nachtwache in Gestalt des halbtoten, widergängerhaften Juristen mit kräftigen Strichen gezeichnet wird, dessen Frau der Nachtwächter in einer kuriosen Szene beim Ehebruch ertappt.

Aus dem Schuster-Gesellen wird ein Rhapsode, der sich von den kleinen Formen, die beim Publikum Anklang finden, an das Schreiben von Mordgeschichten – Kriminalgeschichten – macht, sich schließlich so allgemein äußert, dass ihm Injurienprozesse gemacht werden. Auch hier ist die Auseinandersetzung mit Gregor Richter als Modell zu nehmen. Die Prozesse führen dazu, dass er als Spinner – wie man heute sagt – ins Irrenhaus eingewiesen wird, wo er dann aber dem Leiter in der Funktion eines Assistenten zur Seite stehen kann. Höhepunkt der Irrenhaus-Szene ist ein Monolog des wahnsinnigen Weltschöpfers, eine großartige Expektoration über die Schöpfungsgeschichte, in welcher die menschliche Geschichte nur drei Sekunden ausmacht. Die dritte und letzte Periode inklusive der Gegenwart ist durch die völlige Selbstüberhebung des Menschen gekennzeichnet. Sein ‚Fünkchen Gottheit’, wie es unter Rückgriff auf einen mystischen Topos heißt, hat ihn verrückt werden lassen: „Zuletzt […] dünkte sich das Stäubchen selbst Gott und bauete Systeme auf, worin es sich bewunderte“. Die Reaktion des Anstaltsarztes auf diese unglaublichen Ausführungen wird mit einer bewundernswerten Lakonie notiert, die als Fußnote zur Schilderung des gelehrten Narren in der dritten Nachtwache angesehen werden kann: „Oelmann schüttelte den Kopf und machte einige bedeutende Anmerkungen über Gemüthskrankheiten überhaupt“.

In diesem Zusammenhang erschließt sich auch die wie eingestreut wirkende Erweckungsgeschichte, eine ins Physiologische gewendete Befreiung aus nächtlicher Blindheit, die in der elften Nachtwache vorgetragen wird. Das „Bruchstück“, dessen Einordnung Schwierigkeiten bereitet hat, buchstabiert die Böhmesche Natureinsicht in eindrucksvoller Weise aus, um sich dann mit einer ‚romantischen’ Volte wieder zur Nacht zurückzuwenden: „O Nacht, Nacht, kehre zurück! Ich ertrage all das Licht und die Liebe nicht länger!“

Die abschließende XVI. Nachtwache führt die verschiedenen Erzählstränge dann in einer theatralischen Friedhofsszene zusammen, in der Kreuzgang den „psychologischen Schlüssel“ zur Erkenntnis seiner Herkunft erhält, die aus allseits bekannten Momenten der Böhme-Biographie kompiliert wird. Die Familiengeschichte spiegelt die großen Themen wie Selbsterkenntnis, Ichlosigkeit, Maskenhaftigkeit und Weltverlust in einer populären Engführung zurück. Seine Mutter ist ein „braunes Böhmerweib“, wobei unter der Herkunftsbezeichnung ‚Böhmen’ stets auch die gefährlichen Hussiten und die von ihnen inspirierten „böhmischen Brüder“ mitgemeint sind, vor denen sich die protestantische Orthodoxie in Görlitz fürchtete. Sein Vater, der ihn an den Ziehvater, den Schuhmacher weitergegeben und so gerettet hat, erweist sich als Alchimist, ein „alter Schwarzkünstler“, der bei der Berührung „in Asche“ zerfällt.

Auch andere Texte Klingemanns erwähnen Böhme. Im letzten Kapitel der Novelle Romano, ‚Camillos Vision’ betitelt, wird nach dem Bericht über die Vision einer ästhetischen Morgenröte, vom Anbruch eines neuen goldenen Zeitalters der Kunst berichtet. Der Maler Camillo gerät von einer Offenbarung in die andere, aus dem Dunkel hört er Stimmen, unter denen auch die des „ehrlichen Sehers“ Böhme ist, rufen: „Die Morgenröthe ist im Aufgehen!“ und „Die Zeit ist da!“. Schillemeit nutzt diese Stelle als Argument, um Klingemanns Verfasserschaft der Nachtwachen plausibel zu machen.

Die Nachtwachen, so die Annahme, stellen – abgesehen von den theatralischen Mitteln der Übersteigerung – eine Übersetzung der frühromantischen Tendenzen ins Populäre dar, für die Jacob Böhme eine Art Kristallisationspunkt bildet. In Anknüpfung an Benjamins Auslegung der Kunstkritik handelt es sich um eine vierfach dimensionierte Übersetzungsarbeit: Zunächst geht es – auch – darum, Poesie in Prosa zu übersetzen, in diesem Falle das dramatische Marionettentheaterstück in eine Druckversion (fünfte Nachtwache). Dann wird in einer souveränen und humoristischen Weise damit gespielt, das Theoretische ins Praktische zu übersetzen. Ein Beispiel sind die Verbrechen, die von den Richtern nicht nur beurteilt, sondern auch quasi zur Probe begangen werden sollten, wie der Verfasser vor Gericht zum nicht geringen Befremden der Richter nahelegt. Des weiteren wird das Ich in einer sehr modernen Weise immer wieder in Rollen übersetzt, die mitunter potenziert werden oder sich zur eigenen Realität auswachsen, was den blanken Wahnsinn zur Folge haben kann. Auch die Übersetzung in Namen, die keine Eigennamen sind, gehört dazu, für welche der Protagonist das beste Beispiel abgibt. Da er von seinem Ziehvater auf einem Kirchhof gefunden wurde, heißt er ‚Kreuzgang’, was an Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders erinnert, eine erste, noch ganz vorläufige Summe romantischen Denkens und Fühlens, die Tieck 1797 aus dem Nachlass des Freundes veröffentlichte. „Weg weg vom Ich!“ ist die Devise. Die letzte Übersetzung, die ebenfalls zu grotesken Zwecken dient, transportiert das Unkörperliche, den Geist, in fast penetranter Weise in Körperliches. Dass der Geist ein Magen ist, sagt nicht erst Nietzsches Zarathustra, sondern bereits der Nachtwächter in der zwölften Nachtwache, der diese Weisheit allerdings ebenfalls übernommen hat, sie aber in höchst eindrucksvoller Weise darstellt. Diese Übersetzungen lassen sich bündeln zu einem ganz bestimmten Begriff von Popularisierung, der in nahezu allen Aspekten seine Entsprechung in Gedanken Böhmes findet: Böhme dichtet nicht, Kern seiner Lehre ist die praktische Philosophie, sein alltägliches Ich wird dissoziiert, ja mediatisiert, und der Geist lässt sich aus dem Sprachkörper herauslesen.

 
 

Literatur:

Walter Benjamin: Was die Deutschen lasen, während ihre Klassiker schrieben. in: Werke und Nachlaß, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 9.1. Herausgegeben von Thomas Küpper und Anja Nowak, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977

Wolfgang Pfeiffer-Belli, ‚Nachwort’, in: Nachtwachen von Bonaventura, Coburg 1947

Michael Elsässer, ‚Einleitung’, in: Friedrich Schlegel, Transzendentalphilosophie, hrsg. von Michael Elsässer Philosophische Bibliothek 416. Meiner Verlag, Hamburg1991

Steffen Dietzsch: ‚Morgenröte der Moderne’, Nachwort zu Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers; hrsg. von J. W. Ritter. Insel Verlag , Frankfurt am Main 1946

August Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura. Hrsg. von Peter Küpper. Verlag Lambert Schneider, Gerlingen 1993

Jean Paul, Brief vom 14. Januar 1805 an Paul Emile Thieriot, in: SW, Bd. III,5

Jost Schillemeit: Bonaventura, der Verfasser der ‚Nachtwachen’, Verlag C. H. Beck, München 1973

Fr. Schlegel: Über Goethe’s Meister, in: Athenäum, Bd. 1, S. 323-54

Walter Benjamin: Erfahrung und Armut, GS, Bd. 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977

Abraham von Frankenberg, Gründlicher und wahrhafter Bericht von Leben und Abschied des in Gott seelig ruhenden Jacob Böhmens, 1651, in: Böhme, SS, Bd. 10, hrsg. von Will-Erich Peuckert. frommann-holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1955–1989.

Gaius Plinius Secundus, Historia naturalis, Buch 35, n. 85, ed. Harris Rackham, Natural History, Volume IX: Books 33-35, Cambridge, MA, 1952. Darin: Sutor, ne ultra crepidam

Letzte Änderung: 11.04.2022  |  Erstellt am: 14.04.2022

Mystik und Romantik | © Bernd Leukert

Günther Bonheim, Thomas Isermann, Thomas Regehly (Hrsg.) Mystik und Romantik

Rezeption und Transformation eines religiösen Erfahrungsmusters. Mit einem Themenschwerpunkt zu Jacob Böhme
Reihe: Studies in Mysticism, Idealism and Phenomenology, Bd. 2,
528 S., geb.
ISBN: 978-90-04-49861-7
Brill, Leiden/Boston 2021

Hier bestellen
divider

Hat dir der Beitrag gefallen? Teile ihn mit deinen Freunden:

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen