Der Himmel über Philomena

Der Himmel über Philomena

Auschwitz sieht uns an
Philomena Franz

Philomena Franz, eine Frau aus Biberach, Tochter einer Jüdin und eines Sinto aus Tours, überlebte zwei Konzentrationslager. Auf den Grundfesten Sintiza, Gott und Deutschland ruht ihre Überzeugung. Aus ihrem Buch „Zwischen Liebe und Hass“ liest sie an Schulen und Universitäten. Anläßlich ihres 100. Geburtstages wurde sie mit einer von Matthias Buth herausgegebenen Anthologie geehrt. Barbara Zeizinger stellt sie vor.

Bei Philomena wird immer eine Tür geöffnet

In den 90er Jahren habe ich mich im Rahmen des Fördervereins zum Fritz Bauer Institut mit der in Brookline entstandenen Organisation Facing History and Ourselves beschäftigt, die Methoden entwickelt hat, um Lehrern und Schülern die im Grunde selbstverständliche Erkenntnis zu vermitteln, dass Geschichte nichts Abstraktes ist, sondern mit uns, mit der Gegenwart zu tun hat. Der Untertitel des damals verwendeten Werkes lautet Holocaust and Human Behavior.

Daran fühlte ich mich durch das Buch erinnert, das Matthias Buth zu Ehren der in diesem Jahr hundert Jahre alt gewordenen Sintiza Philomena Franz herausgegeben hat: Der Himmel über Philomena – Auschwitz sieht uns an.

Dass Philomena Franz einhundert Jahre alt geworden ist, wirkt wie ein Wunder. 1922 ist sie als Jüngste von acht Kindern in Biberach geboren, ihre Mutter war eine Jüdin, ihr Vater ein Sinto aus Tours. So gehörte sie zu der Gruppe der Sinti und Roma, von denen mehr als 500 000 durch die Nationalsozialisten gnadenlos verfolgt und ermordet wurden. Auch die aus einer bürgerlichen Musikerfamilie stammende Philomena hat fast ihre ganze Familie verloren und sie selbst hat – wieder wie durch ein Wunder – die KZs Auschwitz-Birkenau und Ravensbrück überlebt. Dort sang sie, die ausgebildete Sopranistin, zur Ermutigung ihren Leidensgenossinnen Lieder vor. Nach dem Krieg war Hass für sie keine Option. Sie schrieb Gedichte, schrieb ihre Autobiografie Zwischen Liebe und Hass, ging in Schulen, um von ihrem Leben zu erzählen. Eine Märchenerzählerin nennt Matthias Buth sie, inmitten einer Familie von Worten und Erinnerungen. Auschwitz wird dabei nicht weichgezeichnet, sondern in aller Grausamkeit erfasst. Aber ihre Hand ist nie eine richtende, sondern immer die einer Verzeihenden.

Der Untertitel des hier vorgestellten Buches lautet: Eine Anthologie zur Kulturgeschichte. Vor diesem Hintergrund versammelt Matthias Buth in dem Band Autoren und Autorinnen aus verschiedenen Bereichen, die das Human Behavior aus den unterschiedlichsten Gesichtspunkten betrachten. Wie entstehen Stereotypen, Vorurteile, Verhaltensweisen? Wie konnte es zu dem Zivilisationsbruch Auschwitz kommen? Und was geschah mit den Tätern?

Den Anfang zu diesen Fragen beantwortet Matthias Buth in einem großen Essay. Darin berührt er die Frage, inwiefern Auschwitz zur Identität der Bundesrepublik beiträgt und zitiert in diesem Zusammenhang Bundeskanzlerin Angela Merkel, die 2019 bei einem Besuch in Auschwitz gesagt hatte: Die Erinnerung an Auschwitz ist Teil unserer nationalen Identität.
Er schreibt über Johannes Brahms Trauergesang Ein deutsches Requiem, über die Lyrik von Nelly Sachs und vor allem über Paul Celans Todesfuge. Es ist das Gedicht, das emotional und auch geschichtlich Deutschland fast mehr und tiefer begründet als das Grundgesetz.

Im letzten Teil seines Essays geht der Jurist Matthias Buth auf das Versagen der Gesetzgeber und der Gerichte ein, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Um das Ausmaß zu verdeutlichen, führt er die Frankfurter Auschwitzprozesse an: Bis 1968 wurden 25 Personen wegen Mord und Beihilfe zum Mord verurteilt, während in den KZs etwa 20 000 SS-Leute als Wachpersonal eingesetzt waren.
Zwei Politikerinnen bilden den Rahmen der einzelnen Artikel. Von Marina Weisband ist die Rede wiedergegeben, die sie am 27. 1. 2021 im Bundestag gehalten hat, in der sie darauf eingeht, was es für Juden bedeutet, in unserer Gesellschaft zu leben. Kulturstaatsministerin Claudia Roth beschließt den Band mit einer Laudatio auf Philomena Franz und stellt dar, was die Politik bisher unternommen hat, um dem Antiziganismus zu begegnen.

Bei der Auswahl der Beiträge hat Matthias Buth darauf geachtet, den Blick über das Politische und Historische hinaus zu weiten und vielfältige Aspekte zu berücksichtigen. Mehrere Beiträge befassen sich mit Musik. Kolja Lessing schreibt über die Genese der israelischen Musik, Paul Schendzielorz führt an zahlreichen Beispielen aus, weshalb in KZs, mit Schwerpunkt Theresienstadt, so viel musiziert wurde, wie Chöre und Orchester entstanden und welche unterschiedliche Funktion sie für Opfer und Täter hatte. Während die Täter die Musik u. a. dazu benutzten, Bewegungsabläufe wie Marschieren zu koordinieren oder die Häftlinge noch zusätzlich zu demütigen, indem sie beispielsweise sich in Liedern selbst beschimpfen mussten, konnten die Häftlinge in der Musik kurz ihre Leiden vergessen und Trost finden. Hermann Langbein, der Mitbegründer des Internationalen Auschwitzkomitees, berichtet beispielsweise, dass er oft vor dem Probensaal gestanden und die Kraft der Musik gefühlt habe, die davon kündet, daß es außerhalb von Auschwitz eine menschliche Welt gab.

Klaus-Michael Bogdal führt in einem sehr interessanten Beitrag über Das „Zigeunergefühl“. Über die Entdeckung des Anderen im Selbst aus, warum Liszt und zahlreiche andere Komponisten sich immer wieder mit der Musik der Sinti und Roma beschäftigten. Und Rainer M. Klaas stellt schließlich Alla Zingarese eine chronologische Musiksammlung von 1772 – 2021 vor. Wie sich bei Apollinaire, Picasso und Rilke das „Zigeunergefühl“ niederschlägt, erfahren wir von Kurt Roessler.

Zwei Artikel befassen sich mit völlig unterschiedlichen Themen und sprechen letztlich doch über dieselben Ereignisse. Da ist zum einen der Artikel von Helmut Braun über die Shoa in Czernowitz und den Holocaust in Transnistrien, dem Paul Celans Eltern zum Opfer gefallen sind. Transnistrien, der verdrängte Holocaust hat er seine Ausführungen überschrieben, während Markus Bauer den an Kambodscha erinnernden Titel Killing Fields wählte, mit dem Zusatz Ein Soldat in „Transnistria“ und Rumänien. Darin beschreibt er die durch Einsätze und Verletzungen bedingte Odyssee des Soldaten Heinrich Böll durch zahlreiche Landstriche, in denen Massaker und Pogrome stattfanden, die er eigentlich hätte wahrnehmen müssen, aber in seinen frühen Erzählungen seltsamerweise kaum erwähnt werden.

Die Verbrechen an den Sinti und Roma haben erst spät den Weg in unser Bewusstsein gefunden. Sie stehen Im Schatten des Holocaust, schreibt Hajo Jahn, weder in Ost- noch in Westdeutschland kamen sie im Schulunterricht vor. Auch Verdrängen gehört zum Human Behavior.
Wir feiern 100 Jahre Philomena Franz steht in einem Flyer, mit dem Matthias Buth und das von ihm geleitete Philomena Franz-Forum im Juli zu einer Tagung mit Konzert und Gottesdienst einlud. Das vorliegende Buch ist im Zusammenhang mit dieser Feier entstanden. Diese Anthologie zur Kulturgeschichte bietet durch die breit angelegte Themenvielfalt zahlreiche neue Erkenntnisse und ist eine sehr gute Möglichkeit, sich mit Philomena und mit allem, das im weitesten Sinne mit ihr zusammenhängt, zu beschäftigen.

Für Matthias Buth ist Philomena mehr als eine Sintiza, die Auschwitz überlebt hat. Sie ist für ihn eine Mutter Courage. Daher hat er mit diesem Buch eine edition philomena eröffnet, in der er gemäß dem Satzungsauftrag des Philomena Franz-Forums Texte der deutschen Kulturgeschichte in ihren europäischen wie regionalen wie ethnisch-spezifischen Bezügen publizieren wird. Gemeint sind Texte, die Courage, Entschiedenheit unter das Dach einer Kultur der Liebe und des Verzeihens stellen.

Letzte Änderung: 29.11.2022  |  Erstellt am: 29.11.2022

Der Himmel über Philomena

Matthias Buth (Hrsg.) Der Himmel über Philomena – Auschwitz sieht uns an.

Eine Anthologie zur Kulturgeschichte
226 S., geb.
ISBN-13: 9783863563516
Edition philomena 1
POP Verlag, Ludwigsburg 2022

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