Der ganze Kosmos jubelt

Der ganze Kosmos jubelt

Alban Nikolai Herbsts „Die Brüste der Béart“
 | © Bernd Leukert

Etwas muss sein an den Brüsten, vermutet Alban Nikolai Herbst schon in der ersten Kanzone. Im Poem „Die Brüste der Béart“ werden Körper, vorwiegend weiblich, besungen. Béart ist eine Projektionsfigur, wie Dantes Beatrice oder Petrarcas Laura. Deshalb tritt sie auch als Venus auf, als Jungfrau Maria, als Aphrodite oder als modische Ikone der Jetztzeit. Herbsts Sprache kommt gerne in historischen Gewändern daher, bleibt aber inhaltlich in der Gegenwart. Ute Stefanie Strasser hat sich einen eigenen Reim darauf gemacht.

Vor einem guten Jahr, als dieses Buch erschien, habe ich es gleich gekauft, da ich bislang alle Texte von Alban Nikolai Herbst sehr spannend fand und zudem immer neugierig bin auf zeitgenössische Lyrik. In einem Schwung habe ich die stilistisch sehr unterschiedlich rhythmisierten Gesänge, so sind die Abschnitte I-XXXIII im Sinne des Autors zu benennen, gelesen und bin ratlos und entmutigt zurückgeblieben. Das einzige, was ich verstanden hatte, oder besser: geglaubt hatte verstanden zu haben, war, dass hier ein Minnesänger das Ewig-Weibliche, das ihn hinanzieht, preist.

Als eine unerledigte, unbewältigte Aufgabe lagen DIE BRÜSTE DER BÉART fortan auf meinem Schreibtisch, mal rechts mal links, mal vergraben mal obenauf. Anreiz und Abwehr hielten sich die Waage, bis sie mich kürzlich beim Aufräumen anschrien, mich endlich noch einmal mit ihnen zu beschäftigen.
Da saß ich dann eingekreist von Wörterbüchern, Lexikon, Versschule, Stilkunde und selbstverständlich google.de und musste mich trotzdem von meinem Wunsch jedes Wort, jede erahnte Anspielung, jede erahnte Konstruktion in diesem reich verschachtelten Sprachkunstwerk auflösen zu können, verabschieden. Und siehe da, nachdem ich den Anspruch auf das totale Verstehen aufgegeben hatte, ging es flott dahin. Nun fand ich Freude an dem Text, den ich mir laut vorlas. Es entzückten mich einzelne Formulierungen, wie etwa die vom Jungen, der blass ward vor Frau, hinter den Gardinen seiner Knabensehnsucht (I), ich konnte jedem Gesang Bilder und Geschichten entlocken und Nachdenk-Fragen wie: Was ist ein Kunstwerk? Was ist der Wille? Wer bin Ich? (VIII: Erster Dithyrambos)

Und ich wurde so frei, mich, die Leserin, als eine Art Zweitautorin aufzuspielen, die sich das vorgegebene Material zum eigenen Verständnis aufbereitet. Das heißt, ich zerlegte, was ich vorfand, und setzte es so zusammen, dass ich es verstand. Ich kreierte, da wo ich am Vorgegebenen scheiterte, meinen eigenen Text und mit dieser Lesart lief ich nicht mehr Gefahr, irgendetwas falsch zu verstehen. Ob diese Vorgehensweise den Autor freut, ist freilich fraglich. Und nicht immer gelang mir diese Aufbereitung, es blieben dunkle Passagen. Da nahm ich Abstand zum Text, legte mich ein Stündchen schlafen, ging spazieren oder bügelte, übersprang damit das für mich Unverdauliche und las weiter.

Immer wieder erstaunte mich der für Herbst typische aufreizende Wechsel von Profanem/Alltäglichem und Erhabenem/Heiligem, zum Beispiel im zweiten Gesang (II: Gratia Plena), in dem Mariens Empfängnis thematisiert wird, oder im zwanzigsten (XX: Hymnos I), da sich der Erzähler im Zug in die nackten, auf den Sitz hochgezogenen Füße – die Espadrilles am Boden – der gegenübersitzenden, selbstverständlich jungen Frau verguckt, mich als Leserin in dieses Schauen hineinzieht, in die Polster der Ballen, bis uns der Schaffner plötzlich aufschreckt mit „Die Fahrkarten bitte!“ Immer wieder werden Details von Frauenkörpern – Beine Haare Nacken Arme – und ganz gewöhnliche Bewegungen– das Anziehen von Strümpfen, das sich Beugen über einen Koffer und so weiter – besungen. Und als ich ein Sonett über eine sich schminkende Frau entdeckte, war ich eine beglückte Leserin. (XII: Stilleben)

Wie ein roter Faden zieht sich die Suche des Mannes nach einem Gegenüber im Weiblichen durch die Gesänge, die Suche nach der Venus, hier Béart genannt, und einmal meine schlimme Anima (XXIV:). Wobei den Minnesänger das tragische Geschick Casanovas ereilt, dass sich dies Ewig-Weibliche immer nur für kurze Zeit in einer Frau aus Fleisch und Blut inkarniert, dann aber wieder weiterzieht und ihn mitzieht – denn wenn Du aus ihnen heraus warst, verblichen mir alle (XIV, ohne Titel).

Besungen wird auch der Tanz der Geschlechter umeinander, die Annäherung, profan gesagt: und dass alles nur, damit sich zweie in der Kammer / wenn die Rollos hinunter / aufeinander / legen (III: Bianca Notte) Doch dies zu einem heiligen Zweck, dem höchsten Ziel des Lebens: der Schaffung neuen Lebens, worauf, wenn dies geglückt, der ganze Kosmos jubelt (XXV, ohne Titel).
Manche Abschnitte bzw. Gesänge sind Lamenti über die zeitgenössische Angleichung der Geschlechter und den damit verbundenen Verlust des erotischen Spiels. Andere wiederum erzählen vom gealterten Minnesänger, der nun zurückgezogen, nur noch Bewunderer und Zuschauer ist.

Und, das soll nicht unerwähnt bleiben, am letzten Gesang (XXXIII: Accende) bin ich wiederum gescheitert. Dass Vater und Söhnchen in eine Glühwürmchenwolke pinkeln, hat mich erheitert, auch könnt ich noch ein wenig anderes Stückwerk berichten, doch den großen Zusammenhang habe ich noch nicht erfasst. Vielleicht wird er sich mir eröffnen, wenn ich den Abschnitt wieder lese, und wieder lese. Das werde ich tun.

Ich empfehle dieses Buch allen Lyrik-Interessierten als ein Muss und anderen Lesern als einen Einblick in die Welt postmoderner (?) Lyrik. Und ich empfehle, die Gesänge laut und langsam zu lesen, sie gründlich durchzukauen, damit sie ihren „Geschmack“ zur Erhöhung des Lesegenusses entfalten. Nicht falsch, wenn man dabei ein paar Hilfen wie Wörterbücher oder das Internet zu Hand und Auge hat. Aber es geht auch ohne. Dürfte ich nur ein einziges Buch auf die einsame Insel mitnehmen, wären DIE BRÜSTE DER BÉART eine Option für mich.

Letzte Änderung: 25.12.2023  |  Erstellt am: 25.12.2023

Die Brüste der Béart | © Bernd Leukert

Alban Nikolai Herbst Die Brüste der Béart

33 Kanzonen
125 S., geb.
ISBN: 9783035804669
Diaphanes Verlag, Zürich 2022

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