Wie die Odai oder Cantus bei den antiken Vorführungen geklungen haben, weiß trotz aller Fundstücke und schriftlichen Zeugnisse niemand zu sagen. Wenn aber heute mit Bedacht Verse geschrieben werden, dann verlieren sie mit der Übertragung in prosaischen Fließtext eine bedeutsame Dimension. Alban Nikolai Herbst hat den großen Gesang „Europa“ von Paolo Rumiz auf Deutsch gelesen und ist damit glücklich und unglücklich.
Disegnava lucertole sul mare
il vento d’Anatolia quella sera.
Rumiz, Canto per Europa
Welch ein hinreißendes Buch! Ich kann nicht anders, als dies schon ganz zu Anfang auszurufen – ganz wie ich es innerlich tat, als ich erst nur ein wenig drin herumgelesen hatte, mal hier, mal dort, und stetig noch entzückter. Jetzt aber muß ich es ausrufen, nachdem ich klassisch von Anfang bis zum Ende las, obwohl ich zunehmend zwischen der ständig weiterwachsenden Begeisterung und aber auch sich summierenden Momenten von Genervtheit durch eines hin- und hergerissen wurde, das freilich auch nur der Ausdruck einer persönlichen Idiosynkasie sein kann. Das glaub ich aber nicht. Sondern es hat etwas mit der, sagen wir, „Treue“ einerseits Maria E. Brunners, der an sich klasse Übersetzerin dieses … ja eben nicht Romans zu tun, als das es seiner Form nach verkauft wird (auf der Titelseite steht statt dessen „Ein Gesang“), andererseits mit der meinen zu unserer, der deutschen, Sprache.
Erstmal aber vorweg, was denn da erzählt wird – nämlich die Fluchtgeschichte einer (wir können sehr bald schon nicht mehr sagen, ob wirklich) jungen Syrerin, die in den Augen der vier Segler, die sie an der ehemals phönizischen Küste aufgabeln, selbstverständlich schön ist. Denn nicht nur erzeugt, und zwar seit Urzeiten (,) die Abstinenz bei Bootsbesatzungen Kartographien der Fleischeslust, sondern die kurvigen Formen der Küsten (…) konnten verführen wie eine Bauchtänzerin. Der Skipper Petros weiß genau, daß die Geografen der arabischen Welt den Kosmos lasen wie den Körper einer Frau, – und bezieht sich (ungesagt) auf den Scheich Nefzaui*: – den Schoß als einen Garten der Köstlichkeiten und die Gebirge (…) als funkelnden Gürtel, mit dem Himalaya als Spange für den Schleier, der das Paradies verhüllt. Deshalb gleich die Triggerwarnung – ich schreibe sowas ungern, hier indes listig mit Lust:
Dieses ist ein m ä n n l i c h e s Buch, „männlich“ nicht „divers“ verstanden.
Doch eben keines des Machismo: Seine Männlichkeit war höflich, er nahm zuerst das Herz für sich ein, dann erst den Körper. Die Wahrheit deshalb ist: Nicht einen Gott, nein, eine Göttin suchten wir, Nachkommen sollte sie tapfer gebären. So wird es dann auch werden, eine in ihrer Schönheit im Wortsinn ungeheure Szene: Die große weißhäutige Mondgöttin war zum Vollmond geworden und zeigte ihre bronzenen Brüste. (Absatz) Es verstummte das Meer, und in diesem Moment, hinter dem Großen Bären im Norden, weit weg, auf dem Berg Athos, geweiht der allerheiligsten Muttergottes, der Erde und des Himmels zwischen Pontheleimon und Stavronikita, knieten sich dreitausend bärtige Mönche in schwarzen Gewändern nieder, angewurzelt vor der Ikone der allerheiligsten Mutter, umgeben von unzähligen Kerzen, und während die Ströme im Mittelmeer rauschten und schwollen, floß das Wasser bis zu jenem einzigartigen Ort im Universum, zum Mond, der nun seine althergebrachte Herrschaft besiegelte über die männlichen Götter im Himmel, und der dem Mädchen zuflüsterte: „Du bist schwanger.“
Allerdings fragte ich mich schon hier, weshalb die Übersetzerin sich nicht Gerhard Rühms Freiheit herausgenommen habe, „die Mondin“ und von „ihr“ zu schreiben, weil das italienische „luna“ eben weiblich ist und die Stelle auch so nur wirklich Sinn ergibt. Aus der Finsternis der Sternennacht hatten sich die Matriarchinnen in ein gläsern-gelbes, vollkommen apollinisches Licht herausgewagt (…), doch in ihrer Seele bewahrten sie das Dunkle, das vom Geist der Mondgöttin stammt. Dennoch kam ich noch immer nicht auf die Idee, mir das Original anzusehen. So sehr fesselte mich, auch wenn mich weiterhin was nervte, die deutsche Sprachkunst der Frau Brunner.
Indessen bleibe, was mich nervte, immer noch egal. –
Als die junge Fliehende die Planken der „Moya“ (was gälisch „Frau“ bedeutet …) betritt, deren abgerundetes Heck einem Stierleib gleiche, ist ihre Flucht aus dem kriegsgebeutelten Land einmal bereits gescheitert; nun will sie den Seeweg wagen – und hat ein Riesenglück, daß die Männer keine Schlepper, sondern auf den Mythos vorbereitet sind: An Bord verdunstete die Zeit (…) und verflüchtigte sich dorthin, wo seit Jahrhunderten alles geschrieben steht, wo die vierte Dimension beginnt. Nämlich hätten die vier Segler ihr Europa – das mehr und mehr zerfallende, weil administrativ zerzankte und sich einzäunende Europa – … hätten es bereits gesucht, als sie noch vor Palermo kreuzten. Insofern freilich insgesamt Herkunft nicht mehr zähle, könne sich dieses Europa seiner selbst gar nicht mehr bewußt sein. „Ein perverser Gott höhlt unser Gehirn aus, ein Gott, dessen Name hart klingt: Innere Sicherheit.“ Worauf wir allerdings heute, nach dem 7. Oktober und dem neu erflammten Antisemitismus, bei allem Widerstreben einen auch schmerzhaften Blick haben und dennoch dem Autor zustimmen müssen. Er habe, schreibt er im deutschen Nachwort, „einen europäischen Patriotismus initiieren“ wollen, „der dem Abdriften in Richtung Entleibung Paroli bieten kann“.
Leib ist denn auch, Wort leib, a l l e s in dieser von orientalischen Bildräuschen durchströmten, nun jà, siehe unten, „Prosa“, diesem nicht nur, ließe sich sagen, Prosa gedicht, sondern in fast homerschem Sinn Epos – das ein Versmaß geradezu erheischt. Obwohl ich das also spürte, schaute ich im italienischen Original nach wie vor nicht nach, sondern ließ mich weiter von diesen Wortgemälden und der Sehnsucht tragen, die sich in deren Farben birgt, und hielt – die Ägäis kaute bis zur Erschöpfung Legionen von Kies in der Rollbrandung wieder – den Atem ganz wie die vier Segler an. Auch das Meer schien abzuwarten, derweil am Firmament (…) eine Straße aus Sternen (…) zum Nacken des Himmelsstiers (führte). Erinnern wir uns an die Form des Hecks der Jacht. Nur daß Evropa (das bergende „u“ erhält die junge Frau erst später) nicht entführt wird, sondern von sich aus, wenn auch nicht aus eignem Willen flieht: „Niemand geht von zu Hause weg (…)_, wenn das Haus ihm nicht befiehlt zu fliehen. Unser Haus hat uns dazu gezwungen_(,) und das hat wehgetan. An jenem Tag habe ich die Mauern unseres Hauses weinen sehen.“
Die Sätze beklemmen umso mehr, als dieser die alte, für viele aber neue Heimat suchende „Törn“ zugleich mit all jenen durchweg seeuntüchtigen Booten seine Furchen in das Meer – unser aller Nostromare – gräbt, deren, wir können sie „Passagiere“ nicht nennen … deren panisch an- und ineinandergedrängte Menschen zu Hunderten ertrinken, wenn Wind die Wogen peitscht und peitscht und sie, genauso panisch, sich erheben. Und da nun öffnete (Evropa) die Arme für die ganze Welt, mit ihren breiten Schwingen flog sie, wie Nike von Samothrake. Sie (…) sang für Sefaràd, die Estramadura, den letzten rettenden Hafen für die Völker der Welt, erstaunt über sich selbst und den Klang ihrer Stimme … Eine jede ihrer Pausen wirkte wie das Aufschlagen der Zelte für die Nachtruhe einer Karawane … Auf Erden, im Himmel, auf den Wassern und aus den Tiefen des Meeres hörte man zuerst verhalten ein Tam-Tam, das immer lauter wurde, ein Schlaflied (…)_, das überall war und nirgends. Es war_ (…)_ der verstummte Gesang derer, die keine Stimme haben_ (…)_, ein Summen bloß war es, das seinen Ursprung hatte in einem „emm“,_ (…) dem Buchstaben, mit dem das Wort Mutter beginnt … Dann erreichte sie den Brunnen des Schlafs und trank (daraus; Brunner übersetzt mit „davon“)_, zusammengerollt unter dem Firmament …_
Das hätte ich da auch gern getan. Doch weil mich dieses längst nicht mehr nur subkutan Nervende dauernd aus dem Swing riß, sah ich im italienischen Original denn endlich, endlich nach. Was nämlich sollten in den oft so wunderbaren Sätzen die furchtbar dauernd störenden Nachstellungen? Ich sah sie unter Deck schleichen durch die Niedergangsluke statt „Ich sah sie unter Deck durch die Niedergangsluke schleichen“. Voller Staunen sahen wir, wie die Sonne unterging auf dem Festland statt „Voller Staunen sahen wir, wie die Sonne auf dem Festland unterging“, und das kohlschwarze Tintenfaß der Nacht ausgeschüttet wurde über der Weltkarte statt „und das kohlschwarze Tintenfaß der Nacht über der Weltkarte ausgeschüttet wurde“ – abgesehen davon, daß es richtig „kohlrabenschwarz“ heißen muß, weil das umgangssprachliche Wort vom Schwarz des Kolkrabens kommt und nicht etwa vom „Kohl“, – abgesehen davon gehört im Deutschen das Prädikat ans Ende des Satzes; Nachstellungen wie zitiert haben alleine dann stilistische Funktion, wenn etwas ganz besonders hervorgehoben werden soll, nicht aber, um Leuten mit nur Kurzzeitgedächtnis keine Sätze von mehr als fünf Wörtern zuzumuten. In diesem Buch geschieht solch Hinterherschieben aber derart oft – auf S. 141 zum Beispiel gleich sechsmal -, daß es fast Methode hat. Nun weiß ich zwar, daß sich das Italienische, um es mit Moshe Kahn** zu sagen, ziemlich schnell sein Prädikat sucht. Das heißt aber nicht, für gutes Deutsch dürften Übersetzer es ebenso halten; im Gegenteil eher. Frau Brunner wird das wissen. Weshalb also ihre, denn das muß es gewesen sein, Entscheidung?
Das italienische Original machte es endlich klar. Das Buch ist insgesamt in Versen, nicht als Prosa geschrieben:
Und da steht „sulla mappa del mondo“ völlig richtig, die Rhythmik erheischt es. Das genau wollte die Übersetzerin offenbar bewahren – nur daß Prosa eben etwas anderes ist als ein und sei es noch so langes Gedicht. Wie es zu der Entscheidung kam, dieses Buch auf Deutsch in eine Prosafassung zu transformieren, klärt leider auch Rumiz’ Nachwort nicht auf. „Ein irrwitziges Projekt“, schreibt er nur, „umso mehr, als (…) diese Verse in eine Prosa gebracht werden sollten“ – sollten !! –, ohne daß der Rhythmus des Originals verloren geht.“ Kein Wort darüber, wer dieses aus meiner Sicht grausliche Sollen verlangt hat, und warum. Ein Sparprogramm, fürchte ich; anders wärn’s hundert Seiten mehr geworden. So ist zwar „Europa. Ein Gesang“ ein dennoch großes, vor allem menschliches Buch voll hinreißender poetischer Stellen, Sie sollten es unbedingt lesen. Doch sind Wehmutstropfen draufgefallen, derart viele, daß es lauter schmutzige Bäche zerteilen. Welch Jammer. Und dennoch solch ein Glück!
* https://www.projekt-gutenberg.org/nefzaui/garten/garten.html
**https://wp.me/pbK8w8-8wL
Letzte Änderung: 21.03.2024 | Erstellt am: 16.03.2024
Paolo Rumiz Europa. Ein Gesang
Dt. von Maria Brunner
282 S., geb.
ISBN-13: 978-3852568775
Folio Verlag, Wien/Bozen 2023
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