Der dichtende Wolf

Der dichtende Wolf

Ewart Reders „Die hinteren Kapitel der Berührung“
Ewart Reder | © Franz Döringhoff

Eine gewisse Geschlossenheit kann man von Poeten erwarten, die in Zyklen denken und dichten. Wer aber, wie Ewart Reder, Gedichte aus den letzten zehn Jahren veröffentlicht, kommt nicht umhin, vielseitig zu sein. „Deine Worte zeigen wie Hände/ von Anweiserinnen auf freie Plätze/ für kleine Feiern des Unverhofften.“, heißt es darin. PH Gruner hat mitgefeiert.

Georg Kreisler (1922-2011) war traurig, des öfteren sogar. „Mir tut jedes Gedicht, das ich geschrieben habe, ein bisschen leid, denn nichts wird so unhöflich abgefertigt wie ein Gedicht. Längere werden nicht zu Ende gelesen, kurze liest man naserümpfend von oben herab, und wenn die Zeilen sich reimen, hält man sie für Kindergedichte.“

Ob der Dichter Ewart Reder – geboren 1957 in Berlin, heute in Maintal bei Frankfurt zu Hause – ebenfalls um seine Gedichte bangt, ist nicht verlässlich belegt. Aber er kämpft für sie. Schickt sie mit Begleitschutz in die äußere Welt. Er springt für seine Wortkinder in die Bresche. Das vermittelt seine Sammlung „Die hinteren Kapitel der Berührung“. Der stattliche Band mit über 200 Seiten versammelt Lyrik aus zehn Jahren, strukturiert in neun Kapiteln – inklusive eines Gedichtes mit dem Titel „Gebrauchsanweisung“ und der ersten Zeile: „Mit diesen Gedichten machst Du nichts falsch.“

Die humorvolle Spitze lauert in vielen poetischen Sequenzen, mitunter existiert sie getarnt, mitunter fungiert sie als offen ästhetisiertes Instrument einer sublimen Selbstverteidigung. Während die vorderen Kapitel der Berührung sich der Natur, den Landschaften, den Städten, Stadträndern, Innenhöfen sowie der „Vorstadtkacke“ widmen, stecken die hinteren Kapitel der Berührung voller Kindheits-, Lebens- und Liebeserfahrungen. Hier geht es – nein, nicht ans Eingemachte, viel eher ans Eingedachte. Eingefühlte. Herauszuschreibende. Angriff ist die beste Liebe heißt ein Vierzeiler. Leiblichkeit in Worte zu fassen benötigt geballte Erfahrung. Und nur durch die Versiertheit des Umgangs mit ihr gelingt die Somatisierung des Literarischen: nur hinten rum lassen / die Wörter sich anfassen du musst sie stellen wie Kinder für ein Familienfoto. Gerade die Gedichte zu frühen und späteren Liebeserfahrungen beweisen Reders auratisches Können, stehen für seine kapriziös-eleganten Balanceakte zwischen Berührtheit und Betroffenheit, zwischen der Wärme der Einfühlung und der Kühle ihrer wortwerdenden Bewertung und Einordnung. Mein Gedicht hat einen Körper / muss nicht sprechen nur die Hüfte / drehen einen Arm ausstrecken nach mir / ich folge. […] Ich dusche / mit dem Hass von Leuten die mich akzeptieren / aber keine Gedichte. Die Tage / verbringe ich auf der Holzbank / des Wörter-Wartezimmers.

Dichtung lebt auch von Verdichtung. Ein Tag an der Nordsee etwa oder der Sonntag der Sätze sind Gedichte, die man tagelang lesen kann. Ganz oder selektiv. Wieder und wieder. Ein ungeheurer Bilder- und Assoziationsreichtum offenbart sich in engster Folge. Überfluss im steten Fluss. Durch die Räume im Äußeren und Inneren wandern und mäandern Reders Satzbildungsfantasien überaus gerne. Mein Kopf hat einen Arm an dem / die Welt gefahrlos verhungert […] Schön klingt meine Stimme solange / sie ihren Körper nicht verlässt. Ergo: Mit diesem Buch kann man Monate verbringen, und die Sprach- und Denk-Entdeckungen gehen nicht aus, die epistemischen Tiefenströmungen bleiben wirksam. Ein Gebet schwänzt die Kirche und wird / zum ersten Mal erhört (trinkt darauf einen Schnaps).

Reder kann auch lapidar. Wortknausernd. Oder krachend empört, nicht zuletzt bei der Beschau des Zustands der Geschmäcker in Stadtrand und Vorstadt. Beim Resümee zum Vorhandensein von Geschmack hinter den Fassaden. Die Wohnwelt-Katastrophe der angewandten Banalität, sprich: die IKEA-Möblierung der Privatheit, ist Reder auch das Zitat des versalen Akronyms wert. Der schwedische Möbelvereinheitlicher und Einrichtungsstandardisierer rotzt das Zeug in jedes Spießerhaus / das nicht mehr weiß obs nicht der Nachbar ist. Überlegenswert: Was würde Reder wohl zu Segmüller dichten?

Nicht nur die Literaturkritik, sondern auch das Gedicht selbst ist – so der Lyriker und Poetologe Kurt Drawert – immer auch Essay. Ein Versuch der Annäherung. Wie alles Leben Versuch ist. Reder agiert als Connaisseur wechselnder Versuchsanordnungen. Wenn Oswald Veblen fragte: „Woher weiß ich, was ich denke, bevor ich es geschrieben habe?“, so antworte ich angesichts der sprachschöpferischen Arbeit von Ewart Reder in den „hinteren Kapiteln der Berührung“ dies: Gedichte dieses Autors setzen die drei großen E in direkte Beziehung: Energie, Empathie, Expressivität. Sehr oft spielt Reders Wolf einen Hund. Aufpassen! Dahinter wartet und lauert etwas nur vorübergehend Gezähmtes. Gefährlich. Und gefährlich gut.

Letzte Änderung: 17.10.2023  |  Erstellt am: 17.10.2023

Die hinteren Kapitel der Berührung | © Franz Döringhoff

Ewart Reder Die hinteren Kapitel der Berührung

Gedichte
201 S., brosch.
ISBN: 978-3-86356-326-4
POP-Verlag, Ludwigsburg 2021

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