Der bittre melancholische Zauber

Der bittre melancholische Zauber

Dorothea Dieckmanns „Das Land mit seinen Kindern”
 | © Bernd Leukert

Friedrich Schlegels Idee von der Verwandlung der Poesie in Prosa wird derzeit von vielen unserer waghalsigen Autorinnen und Autoren ernster genommen als je zuvor: Poesie als Prosa ist das Ziel, und der Weg führt durch ein Nadelöhr. Dorothea Dieckmanns so hauchfeines wie berückend schweres Nachtbriefsgespinst ‚Das Land mit seinen Kindern’ ist, wie Alban Nikolai Herbst schreibt, wohl ein geglückter Versuch.

Die Kohlmeisen wissen von der Dämmerung früher als ich, früher als der Mond, der jetzt hoch im Süden steht, und tatsächlich, am Osthimmel ist die Nachtluft verdünnt, die kleinsten Sterne sind schon ertrunken.
S. 81

Das schmale Buch beginnt mit einer Unterbrechung, die den Klang von Abschied bereits hat. „Stell dir einen Schiffsingenieur vor, der nach dem langen Tag, einem von vielen, den Maschinenraum verläßt und an Deck steigt, in den Ohren ein gedämpftes Stampfen, das Nachdröhnen der Motoren. Die Luft, noch heißer als die im Schiffsbauch, umfängt ihn wie ein schwerer Mantel. Er merkt es nicht. Er steht und staunt, daß noch alles da ist, Brücke, Ruderhaus, Reling, Beiboote. Für einen Moment hört unter seinen Sohlen der Boden auf zu schwanken. Dann, mit einer Kopfwendung zum Heck, schaut er aufs Meer.” Die Autorin schaut hoch, der Brief an wen immer ist begonnen, braucht aber offenbar die See, die ihr Garten ihr ist, „ein vergessener Ort mit vergessenen Dingen”. Indem sie sie ansieht – ihre sinnliche Art eines Aufzählens, sich Aufzählens – hat er, der Brief, sich schon weitergeschrieben, absichtslos fast, wenngleich doch gewollt — aber der Wille vergaß sich, und da erst ward Brief: „Sobald ich nach einer Pause (eine Stunde, eine Nacht oder eine Woche – in einem Fall waren es fünfundzwanzig Jahre) zum Schreiben zurückkehrte, brauchte ich nur eine Weile zu horchen, und mir wurde (…) der Ton, der Auftakt zugespielt, mit dem ich wieder einsetzen konnte.” Was sie aber erhorcht, ist — „Als gälte es, Zeichen zu deuten[,] statt Dinge wahrzunehmen” — ein Entfernen, so, wie die Dinge in der Dämmerung blaß werden, der, und darum geht es dieser Prosa, Lebensdämmerung. „Eine Zeit lang hat mich, sobald ich darauf aufmerksam wurde, das blasse Ander-Ich in der Scheibe abgelenkt und ins Grübeln gebracht. Es liest die Kehrseite meines Textes.” (S.31). Das Thema ist – noch – nicht der Tod, das Thema ist zu altern. „Der Schlaf selbst hat mich geweckt. In meinem Schlaf fiel ich in Schlaf. Da erschienen mir die Engel dieser stillen Welt zwischen” – eben: zwischen (!) – „Leben und Tod: Träume, die Vorboten der Erzählungen.” So daß wir spüren, Dieckmann breitet ihre Poetologie vor uns aus, sanft, sie bisweilen anhauchend, um zu schauen, ob nicht nur Staub den Glanz hat ermattet. „Und ich wurde, da an meinem neuen Lebensanfang, nachdenklich und traurig. Nicht resigniert, nicht düster, sondern traurig auf die wehmütige Art.” Wobei die Wehmut eine Angst ist, die sich aus Rücksicht nicht ausspricht, nicht einer auf uns oder sich selbst, sondern eine dem Leben gegenüber, dem Leben an sich und einem jeden nächsten Leben, das anderer Vergehen und dann vergangen-Sein zur Voraussetzung hat. Aber wir spüren der Dichterin Bangen, spüren es körperlich; die Sätze sind derart fein, daß wir sie bald von unsern eigenen, selbst wenn wir sie nur denken, nicht mehr unterscheiden können. Sie weben sich derart in uns ein. So webt sich Frau in den Mann, auch das ist derart spürbar. „Und will dir doch die Hände reichen über die Zeit.” Doch meint sie gar nicht mich, meint eine Frau, Virginia Woolf. Bei ihr hat sie den Titel ihres Nachtbriefs gefunden. „So weicht das Land zurück von meinem Schiff, das aufs Meer des Alters hinausfährt. Das Land mit seinen Kindern.” (Woolf, Tagebücher, Nachtbrief) Die Kinder weichen zurück, die Kinder für uns Erwachsene noch sind, wiewohl – und eben! – Erwachsene längst selbst:

Nähme, als Alter, meiner Frau Hand, der Geliebten – auch sie will,
die jüngre, schon altern –, nähm sie mit einer und ordnete, was sich
dem Abscheiden vorordnen läßt, mit der andren.
Neunte Bamberger Elegie3

Und wir fragen uns, ob der Nachtbrief an sie, die auch poetisch ihr vorhergegangene, gerichtet ist, denn er ist es genauso wenig an uns wie an die in → Kirschenzeit angesprochene Tochter; sollte sie aber doch die Adressatin sein, dann so ungefähr wie wir eben dann auch – nämlich als den Dingen in der Nacht sehr ähnliche Schemen, durch die die Zeit zieht oder längst gezogen schon ist, auf jeden Fall gezogen sein wird eines Tages. Deshalb der Blick auf die Gegenstände des Gartens? „Was bleibt, sind die Dinge” schrieb der alt gewordene Goethe. So wird dieser Nachtbrief zum solistischen Mezzosopran eines für großen Chor geschriebenen Liedes der Nacht in a-moll, in der er, diese Frauenstimme mittlerer Lage, unversehens mitsingt im Chor und es gar nicht bemerkt, mit_schwingend_ aber erahnt.

In Dieckmanns Temps des cerises schon hatte mich die hohe, dabei eben ausgesprochen melodische Achtsamkeit jeder Formulierung mit ihrem, wie ich es empfinde, tiefweiblichen Nachhalln Dichterin berückt. “Je l’ai sous la peau”, hätte sich das auf Französisch einstmals ausdrücken lassen; unterdessen ist das zauberhafte Idiom leider ironisch verformt. Doch denselben Nachhall fand und finde ich weiter in den klangähnlichen Sätzen der Aurora-Protokolle Ursula Menzers, die im Frühjahr dieses Jahres in einem zweiten meiner Verlage, Elfenbein, erschienen sind und zwar nicht in den Rahmen einer einzigen Nacht hineinerzählt werden, sondern einem ganzen Jahreslauf folgen. Doch auch hier geht der Blick in die (selbstverständlich Zweite) Natur, nämlich ganz genauso zart berührend, ja, Menzers poetische Erkenntnisse könnten Dieckmanns ebenso sein:

Fenster auf. Windstiller Morgen. Und der Hochnebel lagert schwer und zäh; draußen und besonders drinnen. Drinnen: auf dem noch vormodernen Gemüt oder der modernen Seele oder dem schon postmodern fragmentierten Ich oder der noch postmoderneren, posthistorisch bestandszehrenden Ichlosigkeit. (…) Insofern ist jeder Sonnenaufgang und jeder Sonnenuntergang, der in den Mund genommen oder schriftlich festgestellt wird, eine mehr oder weniger bewußte Reverenz an eine überholte Sprache, an eine romantisierende Sprache. Friedrich von Hardenberg – der Dichter Novalis – nannte diese Reverenz „qualitative Potenzierung” (…).
Aurora

Dieckmann:

Auch das Leben kann auf seine Erweckung warten, stumm, gefangen in sich selbst. Konserviert im fahlen Zwischenreich mit dem Namen „So lebte er hin”. Ich weiß, wovon ich rede. Wer dort wohnt, der ahnt es nicht, und weil er seinen Zustand nicht kennt, ist sein Zuhause das Lebenslänglich. So eine Gefangene bin ich eine Zeitlang, eine ewige Zeitlang gewesen.

Menzer:

Zwischen den Spiegelungen am Fuß der Böschung ein Rettungsring in Weiß und Rot, ölverschmiert, gestrandet; in seiner realen Plastizität zweifelhaft, fehl am Platz. Erinnerung an alte Fotografien, in denen die Idee der Wirklichkeit als Vibration zu wirken scheint.
Aurora

Spüren Sie die Ähnlichkeit dieser tastenden, das leis erregte Zittern der Wörter in den klaren Konturen der Sätze verläßlich fassenden Formulierens, das den Dingen auf keinen Fall wehtun will, sondern sie wärmend ehrt?

Am Straßenrand steht – erstarrte Fluchtbewegung wie auch Entspannung im Körper – ein großes Reh aus dem Wäldchen nahe der Autobahn und knabbert an den Zweigspitzen der Büsche. Vor einigen Tagen labte es sich auf der anderen Seite der Straße in einem Feld Stiefmütterchenpflanzen und blieb einen Moment im Draht des Schutzzauns hängen, nachdem es vom Gartenbauer-Nachbar davongescheucht worden war.
Aurora

Zur selben Zeit notierte ich wilde Erinnerungen an all die abgebrochenen Kindheitsvergnügen: die auf den Schuhen ihrer galoppierenden Brüder stehende Zirkusprinzessin; den rockfaltenschwingenden Derwisch; das wütende Rumpelstilzchen; den radschlagenden Gliederstern; die Königin der Nacht in Gummistiefeln; die Elfe auf dem Fensterbrett, im Begriff, sich in die Höhe fallen zu lassen (…) —
Nachtbrief

— so nah die Kindheit wieder, wenn wir in des Alterns Höhe fallen. Ich finde es geradezu berührend – selbstberührend, wenn Sie unbedingt möchten –, daß mich mein eigenes Altern zunehmend empfänglich für eine bestimmte Art, von mir so empfundenen, tiefweiblichen Schreibens werden läßt; fast muß ich von Sucht sprechen. Mit → der Krebsin und, in Aqaba, ihrer Überwindung begann nicht zugleich die “Überwindung” meiner sexuell-konkreten Bedürfnisse, aber gewann enorm und geradezu exponentiell an Tempo, indem es sie erotisch in den Geist umzuleiten scheint, da mein Vitalismus nicht mehr recht möglich, anders nicht, als auch ihn geistig zu verfassen. Es ist das aber, trotz seiner Unumkehrbarkeit, ein zarter Prozeß, so daß mir genau diese Zartheit zu sein scheint, was hier die Hinsichten, also Arten zu schauen, der beiden Geschlechter nicht aufeinanderlegt, nein, ineinanderfügt. Was nicht bedeutet, ich wisse nun ebenso, es zu formulieren. Davon bleib ich wohl entfernt. Doch ich kann es heute wie eine Salbung fühlen, so, wie die Nachtbriefschreiberin im Rückblick auf ihre Lehrerinnenzeit die Fron über ihren Aufgaben ächzender Jugendlicher diese „Verbindung von Zwang und Schönheit an ein Exerzitium erinnert(e), als welches man die Arbeit von Mönchen betrachten kann, die heilige Texte kopieren”. Es sind dies im Wortsinn ungeheure Sätze, gerade weil sie niedergeschrieben werden, wie wenn jemand flüstert. „Und dieser Brief: Habe ich dir überhaupt etwas zu sagen?” Wobei wir am kleingeschriebenen Anredepronomen schon längst bemerkt haben müssen, daß bei einer so geschichtsgeerdeten Autorin tatsächlich niemand Konkretes angesprochen sein kann, andernfalls es groß geschrieben wäre: „Dir”. Doch weiter. „Je länger ich nachdenke und die knappe Zeit vergehen lasse, desto weiter führen die Antworten weg vom Schreiben, hin zum Leben — und wieder zurück. Was auch immer dieser Nachtbrief an den Tag bringt, an dem du ihn liest oder meinetwegen hörst, es werden keine Geschichten aus meinem Leben sein. Die sind zum lebendigen Erzählen da, von Mund zu Ohr und Auge zu Auge (…).”

Nun sind geäußerte Vornahmen fast immer ihre eigenen Hürden und die zum Drüberspringen. Also erfahren wir doch einiges aus dem Leben der Autorin. Darunter findet sich eines, daß mich stocken ließ, weil es mir arg zu nahe ging. Ohne es sogleich zu kommentieren, erst einmal die ganze Stelle, deren bösester Vorwurf auf für mich ziemlich schartige Weise mit Nicolas Borns über den Kriegsfotografen Hoffmann Wort von der “brutalen Zivilisiertheit” korrespondiert, das mir aus der → Fälschung immer noch nachgeht:

„Die beliebteste Methode ihrer [i.e. “einiger Schreiber” (ANH)] Schule der Grausamkeiten ist das Zwillingspaar Kitsch und Kälte; es ist an die Stelle von Furcht und Mitleid getreten. Oft behaupten sie, die Kreaturen zu lieben, die sie krepieren machen [krepieren machen (!)], und gönnen doch nur den Tätern ein Gesicht. Gesetz ist, daß jede zum Liebgewinnen erfundene Figur sterben muß; ebenso alle Frauen, die sie zu Begehrenden oder zum Begehrtwerden ausersehen haben. Manche verfolgen mit ihrem Kunstsinn nicht weniger als die Zerstörung des Erdballs.

So einen Ehrgeizling habe ich einmal in einem Provinznest kennengelernt. Auf einer Veranstaltung des örtlichen Künstlerbundes war er der Ehrengast aus der Hauptstadt. Vor dem im Halbrund sitzenden Publikum ließ er einen braven Handwerker die blaue Kugel formen und ein Paar darauf setzen, das zugleich über einander herfiel; die männlichen Nachkommen zogen gegeneinander zu Feld, schändeten die Frauen, zeugten neue Heere und verbrannten die Kruste ihrer Heimstatt. (…) Der Demiurg selbst genoß die schockierte Bewunderung der örtlichen Kleinkünstlerinnen, Beamten, Hausfrauen und Bürger. Alle schwiegen nach der Vorführung steif und verlegen. Keiner wagte es, sein Unbehagen zu äußern, aus Scham und wohl auch, weil die Vorsitzende des Vereins in ihrer Einführung das Lob einige bekannter Kritiker zitiert hatte, die „radikalen Bilder“ und die „schonungslose Zeitdiagnose“ betreffend. Beim Abschied habe ich den Autor höflich gefragt, warum er den Großen Diktator gebe; da lächelte er geschmeichelt und entgegnete, er beschreibe die Wirklichkeit.

Ich erschrak, als ich den Absatz las. War das nicht ich, war ich, bin ich gemeint? Ich kannte den Vorwurf, bekomm ihn immer wieder, kenne ihn besonders wegen → Thetis – und hätte, nein habe oft genauso geantwortet wie gegenüber Dieckmann dieser “Demiurg”, allerdings niemals geschmeichelt, sondern eher voller Unglück traurig. Und ich würde es auch Dieckmann gegenüber weiter vertreten, allerdings von nun an mit einem hinzugetretenen mauen Gefühl, einem, das Traurigsein zu einer wirklichen Trauer macht. Wobei mir hier noch etwas klar wurde, und zwar über beide Frauen, Dieckmann wie Menzer, daß sie, anders als ich, der sein Gemüse im Supermarkt oder im Kurdenlädchen gekauft, es aber so gut wie niemals aufwachsen sieht … – daß also beide Frauen einen, ich schreibe einmal, agrarischen Blick haben, die eine direkt auf dem Land, die andere am Stadtrand, während mein Blick mit allen Verwerf- und Entfremdungen durchweg metropol ist. Was nichts, aber auch gar nichts über Modernität aussagt. Zumal beginnt die Dichterin unmittelbar nach dieser Szene eine Reflektion der eigenen bisher veröffentlichten Bücher und zeiht sich selbst dieser bornschen brutalen Zivilisiertheit: „(…) auch ich habe mit meinem Schreiben den Wahnsinn weitergetragen. Da ist zum Beispiel ein Mann, den ich sinnlos getötet habe (…) Im Roman habe ich ihn genauso verlassen, wie es die Zeitungen berichteten, ein Grinsen im toten Gesicht (…), die Wohnung im Viale Trastevere ein Schlachtfeld. Ich habe ihn sterben lassen ohne Not. Nichts ist notwendig im Schutz der Möglichkeiten. Heute sehe ich, ich habe nicht nur gemeinsame Sache mit seinem Mörder gemacht (den, im Gegensatz zur Tat selber, habe ich erfunden), sondern bin auch zur Komplizin der Nachrichtenvermarkter geworden, die von dem Mord profitierten.”. Womit wir nun erst recht wieder bei Borns Fälschung wären.

Ach, liebste Freundin, lassen Sie uns zurück zur Zartheit uns wenden! „Ach, wenn es doch einfach nicht hell werden würde. Die Nachtstunden draußen geben dem Körper ein Zuhause. Das Blickfeld zieht sich auf einen Lichtfleck zusammen, der Hitzedunst sinkt ins Gras, und wenn ich die Füße von der Holzstrebe des Tisches auf den Boden setze, berührt mit den welken Halmen eine Ahnung von Kühle die nackten Sohlen.” Welke Halme … So lassen Sie uns hoffen, daß ihr auch gelingt, was sie nunmehr schreibt:

Ich wußte, es gibt unabwendbaren Schmerz, und ließ wolkenkissenweise Trost schneien, um alle Brände zu löschen, alle.

Letzte Änderung: 27.10.2022  |  Erstellt am: 25.10.2022

Das Land mit seinen Kindern | © Bernd Leukert

Dorothea Dieckmann Das Land mit seinen Kindern

Ein Nachtbrief
100 S., brosch.
ISBN 978-3-96587-023-9
Arco Verlag, Wien 2021

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Aurora-Protokolle | © Bernd Leukert

Ursula Menzer (Hrsg.) Aurora-Protokolle

Fragmente einer Sprache der Einsamkeit
284 S., geb.
ISBN-13: 9783961600748
Elfenbein Verlag, Berlin 2022

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