Der besessene Spracharbeiter

Der besessene Spracharbeiter

Buchrezension „Spätvorstellung. Der Archipel der ungeklärten Fälle“ von Jürgen Ploog
Buchcover: Spätvorstellung. Der Archipel der ungeklärten Fälle | © Moloko Print

Mit Spätvorstellung. Der Archipel der ungeklärten Fälle vollendet Ploog seine radikale „Flieger“-Trilogie – ein literarischer Bewusstseinsstrom jenseits aller Konventionen. Fragmentarisch, filmisch, subversiv: Ploogs Texte spielen mit Zeit, Raum und Logik und fordern Leser:innen heraus, sich neu zur Realität zu verhalten. Eine visionäre Alternative zur literarischen Zukunft – weit entfernt vom Mainstream. Wolfgang Rüger hat es gelesen.

2014 erschien die Neue Rundschau mit dem Themenheft „Manifeste für eine Literatur der Zukunft“. In 30 Essays beschwören die Autoren „die Macht der Worte, preisen die literarische Vieldeutigkeit, wollen neue Räume schaffen, neue Bedeutungszusammenhänge, neue Grammatiken, neue Geschichten, Bilder, Wahrnehmungen“ (Jan Brandt). Bezeichnend, daß der Autor, der das alles in Reinkultur seit 1968, seit Enzensberger das Ende der Literatur verkündete, in seinen Texten umsetzte, in diesem Heft gänzlich fehlt, in keinem einzigen Text nicht mal namentlich erwähnt wird: Jürgen Ploog. Ulf Erdmann Ziegler erkennt in seinem Beitrag: „Im Cut-up wird die Chronologie des Erzählens geopfert für eine sinnstiftende Willkür der Erfahrung.“ Was das heißt, kann man im neuen, lang erwarteten Buch von Ploog wunderbar studieren.

„Spätvorstellung. Der Archipel der ungeklärten Fälle“ ist der Abschluss seiner „Flieger“-Trilogie, die mit „Ferne Routen“ und „Kleine Pornografie des Reisens“ angefangen hat. Jahrelang hatte Ploog an diesem Manuskript gearbeitet, es immer wieder verworfen und überarbeitet. Am 17.6.2004 schreibt er im Tagebuch: „Die Bearbeitung der SPÄTVORSTELLUNG abgeschlossen (Untertitel: Aus dem Leben des Agenten Max Lang). Es sind Szenen, die sich aber vor allem im ersten Teil storyähnlich verknüpfen. Das Urmanuskript war in dieser Form unbrauchbar. Jetzt erst habe ich es hingekriegt (Fragezeichen) zu zeigen, worum es mir ursprünglich ging.“ Fast fünfzehn weitere Jahre wird er an diesem Manuskript noch arbeiten.

Seit den frühen Siebzigern, als Ploog erkannt hat, daß reiner Cut-up für ihn nicht weiterführend ist, beschäftigte er sich damit, wie eine rasant sich verändernde Welt in der Literatur noch darstellbar ist. Er wurde zum besessenen Spracharbeiter und lieferte danach „Schnittvisionen“ ab, wie er es selbst bezeichnete. Was ihn umtrieb, kann man in vielen seiner Publikationen nachlesen, in denen er sich mit seiner Poetologie theoretisch auseinandergesetzt hat. Wie kaum einen anderen im deutschsprachigen Raum interessierte ihn weniger der Inhalt, als die Form der Texte. Am 11.2.2004 schrieb er ebenfalls ins Tagebuch: „Beim Sprung in die Gegenwart fällt auf, dass Höllerer seine Zeitschrift ‚Sprache im technischen Zeitalter‘ nannte. Abwendung von der ‚Literatur‘ zur Sprache. Diesen ‚technischen‘ Aspekt hat auch Max Bense betont. Beide, Höllerer & Bense, sind als Literaten praktisch vergessen. Eigentlich wären Deutsche dafür prädestiniert, einen Beitrag zur Sprache im technischen Zeitalter zu liefern, aber ihr romantisches Verhältnis zur Sprache steht dem im Weg. Sie kommen nicht darüber hinaus, Goetheaner oder Wagnerianer zu sein.“

Bei Ploog beruht alles auf Imagination, bei ihm ist alles seiner Wahrnehmung entlehnte Erfindung, das hat mit der herkömmlichen Realität nichts zu tun. Ihm geht es um den Wahrnehmungsprozess, um das Bild der Realität. Er will die realen Verhältnisse, die genormte Kontinuität außer Kraft setzen. „Nur diskontinuierliches Schreiben schafft es“, erklärt er in einem seiner Burroughs-Essays, „mit dem Unbeständigen der Erfahrungswelt umzugehen.“ Was willkürlich und ohne Zusammenhang hintereinandergeschnitten scheint, erzeugt im Bewußtsein des Lesers eine neue Realität. Der Leser löst sich von vorgegebenen Raum- und Zeitdiktaten und findet zu einer ganz neuen Freiheit. „Nichts ist wahr“, wie Ploog sagt, „alles ist erlaubt.“ Es ist die anarchische Sehnsucht nach Rebellion gegen alles Bestehende.

Das Vorhandene ist ihm ein Ärgernis, weil in ihm keine Utopie mehr steckt. Wie Joyce, wie Beckett sieht er die Lösung im Fragmentarischen. Er bricht die naive Erzählstruktur auf, findet zu einer Aufmerksamkeitsverschiebung und schafft im besten Fall beim Leser eine Bewußtseinserweiterung. Was Ralf Konersmann über Derrida geschrieben hat, gilt auch für Ploog: „Der Leser wird Zeuge einer Operation. … . Unter den gebannten Blicken seiner Zuschauerschaft zupft er an Wörtern, Silben, Buchstaben & etwelchen Partikeln herum, zieht mit gekonntem Griff Faden um Faden aus seiner weniger geheimnisvollen als sinnlich-rohen Verkettung & dringt endlich mit der Unerschrockenheit des Tabubrechers in die Höhlen der Syntax vor … die an festen Strukturen & materialen Institutionen rührt“.
Ploog ist ein Meister der kurzen Form, der geschliffenen, pointierten Dialoge, der prägnanten Settings. Im vorliegenden Buch gibt es zwar einen Protagonisten, den Piloten Max Lang, eine Art Alter Ego des Autors, und innerhalb der Kürzestgeschichten auch eine Handlung, aber ein roter Faden ist auf den 250 Seiten selbstverständlich nicht vorhanden. Wenn man will, könnte man als gemeinsamen Nenner eine vage Verbindung aller Geschichten zum Film, zum Kino finden. Worauf auch der Titel des Buches hindeutet. Die Texte lesen sich wie Filmszenen aus allen denkbaren Genres, wild durcheinandergewürfelt. Manchmal sind sie trivial, sehr oft aber stecken sie voller Wirklichkeit und erfüllen Reinhard Jirgls Diktum: „Literatur erschafft Möglichkeiten zur Versinnlichung bewusster menschlicher Erfahrungen.“

Es gibt gut eine handvoll Figuren, die in ständig wechselnden Konstellationen interagieren, die die „Ebene der Echtzeit längst verlassen“ haben (wir befinden uns im „Zeitalter der Raumreisen“), und die alle mit undurchsichtigen Aufträgen beschäftigt und permanent unterwegs sind. Letztlich sind sie Suchende. „Ein Suchender muss stets bereit sein, die Zeitgrenze zu überschreiten & sich zwischen verschiedenen Zeitebenen bewegen.“ Sie sind beziehungs- und heimatlos, Wanderer auf der Suche nach sich selbst und diesem „Zustand, in dem alles möglich ist“. Ploog führt seine Leser von einer Bewußtseinsebene in die andere. Die Bilder, die während des Lesens im Kopf entstehen, überlagern sich, werden zu einem Universalfilm, in dem alle Aspekte des menschlichen Lebens behandelt werden. Wenn man sich darauf einläßt, führt diese „Spätvorstellung“ tief ins eigene Unterbewußtsein und zu der Erkenntnis: „Es sind deine Sehnsüchte, zwischen denen du unterwegs bist.“

Das Buch ist wieder in Ralf Friels Moloko Print Verlag erschienen, der Ploog über den Tod hinaus die Treue hält. Es ist in der gewohnten Ausstattung von Robert Schalinski erneut ein bibliophiles Schmuckstück geworden, dem ich nur einen Vorwurf machen kann: Verleger und Grafiker sollten auch die Verkaufbarkeit nicht aus den Augen verlieren. Ein paar bio-/bibliografische Angaben zum Verfasser zum Beispiel oder ein informativer Klappentext wären schon hilfreich, wenn man möchte, daß dieser enorm moderne Autor nicht nur in Insiderkreisen lebendig bleibt.

Letzte Änderung: 25.06.2025  |  Erstellt am: 24.06.2025

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