Der Altersunternehmer

Der Altersunternehmer

Zum Tode von Günter Rühle
Günther Rühle | © Jonas Englert

Er hat die Seiten gewechselt, ohne zum Deserteur zu werden. Günther Rühle, Theaterkritiker der FAZ, der dann Feuilletonchef werden musste, übernahm schließlich die Intendanz des Frankfurter Schauspiels. Hochbetagt und kurz vor seinem Tod, hat er den Blick von der Bühne auf sich selbst gerichtet und ein kürzlich geschriebenes Tagebuch „Ein alter Mann wird älter“ veröffentlicht. Karlheinz Braun, aus der gleichen Generation, hat sich darüber gebeugt.

Günther Rühles merkwürdiges Tagebuch „Ein alter Mann wird älter“

Als Günther Rühles zweiter Band seines monumentalen Werkes Theater in Deutschland 2014 erschien, war sein Autor bereits 90 Jahre alt. Die beiden Bände, die die Geschichte des deutschsprachigen Theaters von 1887 bis 1966 auf 2800 Seiten erzählen, sind das Alterswerk des ehemaligen Theaterkritikers und Feuilletonchefs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, gerühmt wegen seiner Anschaulichkeit und inzwischen ein Standardwerk: Rühle beschreibt das deutsche Theater als sei er überall dabei gewesen. Leider endete der zweite Band 1966, also genau mit dem Jahr der beginnenden Umbrüche im deutschen Theater, die gerade Rühle seit den sechziger und dann in den siebziger Jahren mit kritischem Wohlwollen begleitete. Deshalb versuchten wir, die Weggenossen, ihn zu einem dritten Band bis zur Jahrtausendwende zu überreden. Er konnte sich dagegen nicht lange sträuben. Denn – das wussten wir – er musste diesen dritten Band schreiben: Er war zum Schreiben geboren und lebte als Journalist „aus der gegenwärtigen Lust zu schreiben.“ So widmete sich der alte Mann von neuem den jugendlichen Aufbrüchen dieser Jahre. Aber während er mit klarem Kopf und ungemindertem Erinnerungsvermögen mit seinem jahrzehntelang bewährtem Zweifingersystem die Erfolge und Skandale von damals in die Tastatur seines PCs tippte, war der allmählich zunehmende physische Schwund des Alters nicht zu übersehen. Ist er zwar schon längst ein Alter, so will er doch nicht ein „Überalter“ sein: „Ich wehrte mich gegen das Veraltern im Alter. “Er nimmt täglich seine dutzend Pillen, läuft auch beharrlich eine bestimmte Strecke hin und zurück und übt sich im Verzichten: auf Schokolade und Kartoffelpuffer, aufs Autofahren und die Bundesliga im Fernsehen, auf Reisen und Besucher, auf das normale aktive tägliche Leben. Die Beine schmerzen, aber am schwersten ist der zunehmenden Sehschwäche zu trotzen, – vergeblich, die unheilbare trockene Makula lässt die Welt nur noch in einem dichten Nebel sehen. Der Schreiber findet auf der Maschine die Buchstaben nicht mehr, und der Leser findet die Texte, die er lesen will, nur noch mit Hilfe der Brille mit Kamera, die fotografiert und in Sprache umsetzt, so dass er hören, was er nicht mehr lesen kann.

Die zunehmende Blindheit lässt ihn verzweifeln am Bedienen all der technischen Geräte, dem Radio und der Waschmaschine, dem Telefon und natürlich dem unentbehrlichen Schreibgerät, dem PC. Er klagt nicht, aber er ist mitunter wütend über sich selbst, über diese „Quälerei“. Er denkt sogar an Suizid. Das Ende ist absehbar. Rühle muss die Arbeit an dem dritten Band seiner Theatergeschichte aufgeben, (die aber als Fragment, von dem Dramaturgen Hermann Beil und dem Archivar Stephan Dörschel ergänzt, im Frühjahr 2022 bei S. Fischer erscheinen soll.) Was aber macht jetzt Rühle als Gespenst, wie er konstatiert, allein in seiner viel zu großen Villa am Rande des Taunus, mit seinem Kopf, in dem über 90 Jahre (Theater)leben gespeichert ist? Er lebt, „so plötzlich außer Dienst, außer Funktion gestellt“ so vor sich hin, und „wird sich selbst das Ereignis des Tages.“ Wird er sich mit seinem „Lebensabschied“ beschäftigen?

Rühle erinnert sich an Alfred Kerr, dessen Kritiken und Briefe und alle übrigen Texte er (und Deborah Vietor-Engländer) nicht müde wurde, der Nachwelt zu erhalten, an Kerr, den großen Theaterkritiker im Londoner Exil: „Kein Geld, Hilferufe oft ins Leere. Die Schreibnot. Der stillgesetzte Mann, zum Schreiben geboren, will schreiben, aber was…? Ihn erdrückt sein Alleinsein. Er erfindet sich ein Projekt, das ihm schreibend den Tag füllt, eine Probe auf sich selbst, ob es noch geht.“

Was Rühle da über Kerr schreibt, gilt auch für ihn. Er macht „Ähnliches aus Verzweiflung“ und beginnt im Oktober 2020 ein „unordentliches Tagebuch“. In diesem Tagebuch (das Gerhard Ahrens sorgfältig und kenntnisreich herausgegeben hat) ist der „Altersunternehmer“ sich selbst auf der Spur und fragt nach dem Zweck und Sinn seines Lebens, des Schreibens. Er schreibt zum ersten Mal nicht über andere, sondern von sich selbst: „Ich formuliere zum ersten Mal was von innen drin, das ich selbst nicht kannte, vielleicht auch nicht wissen wollte. Ich habe mich immer nur erforscht in und durch Arbeit. Sie ist mir entzogen. Jetzt horche ich in mich, die Richtung ist umgekehrt.“

Das „merkwürdige“ Tagebuch, wie Rühle es nennt, beginnt am 10. Oktober 2020 in Corona-Zeiten und endet am 17. April 2021, also nur sechs Monate, in denen der Tagebuchschreiber aber ein bald hundertjähriges Leben durchläuft, chronologisch nur grob gegliedert, ein Leben in bruchstückhaften Erinnerungen. Es ist bezeichnend, was ihm darin wichtig war und was eher nicht. „Man glaubt gar nicht, wie schnell man von den hohen Jahren zurück in seine Anfänge kommt.“ So träumt er sich in seine Kindheit in Weilburg zurück, zu Vater und Mutter, dann an seine Anfänge als Journalist in Frankfurt, wo er bei der Frankfurter Neuen Presse seine ersten Theaterkritiken schrieb. Für die Zeit bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung, wo er 1960 als Redakteur im Feuilleton anfing, und bei der er immerhin 25 Jahre blieb, erinnert er sich weniger an die ihn immer stärker erfüllende Arbeit als Theaterkritiker, dafür mehr an den Missmut und die Spannungen, die seine Artikel bei dem konservativen Herausgeber Welter auslösten. Rühle hört sich in einer großen Dienstagskonferenz sagen: „Man kann in einer auf Innovationen angewiesenen Gesellschaft kein restriktives Feuilleton machen.“ Die Herausgeber fanden das nicht, aber eine eher zynische Lösung: An die Stelle des verstorbenen Feuilletonchefs sollte Rühle rücken, aber unter einer Bedingung: Er dürfe keine Theaterkritiken mehr schreiben. (Wie beneidenswert wichtig doch Theater damals noch war!). Als das publik wurde, erschien in der Frankfurter Rundschau ein Aufruf von über 20 Theatermachern von Zadek, Stein bis Dieter Dorn, die forderten, Rühle müsse Kritiker bleiben. Aber Rühle wurde Ressortchef und schrieb jetzt seine Kritiken in „Theater heute“. Nicht zuletzt sein Ansehen und seine Verbundenheit mit den Theatermachern führten 1985 dann zu dem Angebot von Hilmar Hoffmann, die nach zwei missratenen Intendanzen vakante Leitung des Frankfurter Schauspiels zu übernehmen. Diesen Frontwechsel vom Kritiker zum Intendanten ohne praktische Erfahrung, so bekennt er ganz offen im Tagebuch, habe er ohne viel nachzudenken gemacht: „Das war doch verrückt – Vabanque.“ Und sollte in der fünfjährigen Intendanz Folgen haben, die mit den Namen Rainer Werner Fassbinder und Einar Schleef zu benennen sind. Die Namen tauchen im Tagebuch immer wieder auf, traumatische Erfahrungen eines Unbeugsamen.

Seine Erinnerungen sind keine durchgehenden Berichte, sind eher hingetupft, anekdotisch, sind plötzliche Eingebungen, in Träumen ganz real erscheinende Begegnungen, durchsetzt mit sich selbst vergewissernden oft auch komischen Reflexionen, wenn er über seine „Hochaltergymnastik“ schreibt oder sich eine Bewässerungs-und Entwässerungsanlage nennt. Aber immer wieder gehen seine Gedanken ins Theater und in die Geschichte des Theaters. Er reflektiert seine Herausgebertätigkeit bei Alfred Kerr und Marieluise Fleißer, über Minetti und Thomas Bernhard. Und über den Kritiker Rühle, wie der zum Theater kam und wie er das Kampffeld Theater als gesellschaftliche Kraft entdeckt. Er schreibt zwar als Theatermann: „Es gibt keine Theorie des Theaters, außer was es ist: Spiel.“ Aber schrieb er nicht schon sehr früh das dreibändige Standardwerk „Theater und Zeit“, dieses „Denkmal einer Epoche“ (Vom Kaiserreich zur Republik), in dem er den Zusammenhang von Theater und Zeit erforschte, – sein Thema bis zuletzt. Aus dem der Ruheständler dann im hohen Alter seine große Theatergeschichte entwickelte.
Das Buch heißt aber sehr konkret „Ein alter Mann wird älter“. Der hier darüber schreibt, ist auch nicht viel jünger als der Tagebuchschreiber. Er liest die Passagen über das Alter etwas befangen mit der Aussicht, was da auf ihn zukommen mag. Solche Sätze wie: „Das Alter ist eine Blüte der Hoffnung im Zustand des Schrumpfens.“ Oder was die Silbe „Ent“ bedeutet in den Wörtern „Entbehren, entsagen, entlassen, entkräften.“ Bis zuletzt das Wort „Entschlafen.“ Der heute 97jährige Rühle hat schon seine Todesanzeige mit einem Zitat von Seneca entworfen: „Uns gehört nichts. Nur die Zeit.“ Und fragt: „Ist sie jetzt abgelaufen? Der Blutdruckmesser sagte heute: Nein.“
Gut, dass er noch dieses Tagebuch geschrieben hat.

Siehe auch:

„Suchen Sie die Unterdrückten in dem Stück“ – Karlheinz Braun im Gespräch mit Peter Iden

Letzte Änderung: 10.12.2021  |  Erstellt am: 05.10.2021

Ein Mann wird älter - Ein merkwürdiges Tagebuch | © Jonas Englert

Günther Rühle Ein Mann wird älter - Ein merkwürdiges Tagebuch

Herausgegeben von Gerhard Ahrens
232 Seiten, gebunden
ISBN-13: 9783895815768
Alexander Verlag, Berlin 2021

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Kommentare

Reina H. schreibt
Eine Besprechung, die viel Lust auf‘s Lesen, auf‘s Einzutauchen macht in die Welt des großen Kritikers. Danke dafür - unter dem Weihnachtsbaum ist sicher noch Platz:)

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