Dem Verstehen verfallen
Gregor Dotzauer hat in Würzburg und Frankfurt am Main Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft studiert und ist Essayist und Literaturredakteur beim Berliner „Tagesspiegel“. Sein Essayband „Schläft ein Lied in allen Dingen“ lenkt den Blick auf musikalische Verhältnisse, die nicht handelsüblich sind, nicht zuletzt aus der Perspektive des Gitarristen. Achim Heidenreich, selbst auch Gitarrist, hat das Buch begeistert, zu ganz eigenen Assoziationen und zum Schreiben angeregt.
Falls tatsächlich in allen Dingen ein Lied schläft, wie der studierte Germanist, Philosoph und Musikwissenschaftler sowie ausübender Literaturredakteur des Berliner Tagesspiegels, Gregor Dotzauer, Jahrgang 1962, im Titel seiner beim Berliner Verlag Matthes & Seitz jetzt herausgekommenen, recht kurzweiligen Essaysammlung im Titel mutmaßt, dann sollte deren Erwachen nicht verschlafen werden, um in den heraufdämmernden Liederreigen gleich miteinstimmen zu können. Womit wir beim Thema seiner ebenso ausschweifenden wie assoziativ sich selbst findenden Sprachbilder wären: Bei der, ja, durchaus deutschen Romantik und ihrer nicht enden wollenden Vollmondnacht einerseits, aber auch gewissermaßen beim kategorischen Imperativ seines Schaffens, beim ewigen Gitarristen in ihm, dessen Maxime seines Handelns jederzeit eine neue Tonordung herstellen könnte. Wer von Eichendorff im Buchtitel „Schläft ein Lied in allen Dingen“ zitiert, der muss sich vergleichen lassen wollen mit ähnlichen Projekten. Etwa mit „Musikplaudertasche“ (1990) von Eckhard Henscheid oder dem „Musikzimmer“ (2005) von Diedrich Diedrichsen – auch das sind Sammlungen zuvor autonom veröffentlichter Kurztexte. Mit ihnen gemeinsam hat Dotzauer seine umfassende kulturästhetische, früher hätte man auch gesagt: humanistische Bildung, in der es kein oben und unten gibt, sondern nur diskursfähige Phänomene. Wo aber Henscheid als neuer Frankfurter Schüler affirmatives Verhalten selbst noch in Karlheinz Stockhausen – „Sirius moin i hots ghoaßn“ – bayerisch mundartlich witterte oder auch Diedrichsen immerhin noch postmodern eine Ahnung von Kulturindustrie hatte, wenn er Madonnas und Eminems Amerikabild miteinander vergleicht, da wird unser Autor konsequent subjektiv und sucht Antworten auf der Suche nach der Aufhebung von Entfremdung in einer beseelten Stadtlandschaft, vorzugsweise, siehe oben, mit Anbruch der Dämmerung. Ob er da, siehe wieder von Eichendorff, auch seinem Doppelgänger begegnet oder zu einem Doppelten in einer Berliner Kiezkneipe auf einem seiner „Kreativspaziergänge“, so nannte Gerhard Hauptmann seine Strandgänge auf Hiddensee, einkehren mag, kommt auf dasselbe raus: Falsches Pathos fehlt in seinen als alltägliche Befindlichkeiten getarnten zivilisationskritischen Zustandsbeschreibungen oder sehr persönlich geschilderten Begegnungen, aus denen sich dann tatsächlich eine menschlichere Weltordnung ableiten ließe, komplett. Wenn er aber seine Gitarre liebkost, an einem, wie er sagt, „Gitarrentag,“ im Gegensatz zum „Klaviertag,“ dann können wir unmittelbar mitfühlen, was der Autor damit meint, wenn er als Gitarrist den Ton unter das Mikroskop legen möchte, um der Saite beim Schwingen zuschauen zu können. Dieses Schwingen, soviel sei angemerkt, darf allerdings nie aufhören, der Gitarrenton nicht verklingen, nicht aufhören zu singen, siehe Titel. Genau das aber erzeugt den Liebeskummer eines jeden Gitarristen, denn er liebt nur seine Gitarre, und dann kommt lange nichts, den Dotzauer zwischen den Zeilen wunderbar evoziert. Selbst in seinen Betrachtungen der Musik Morton Feldmans, Verzeihung, schwingt das durch. Dessen Dotzauer faszinierende klangliche Langsamkeit meint genau diese mikroskopische Situation, in der es möglich zu werden scheint, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen. Das wollte auch Stockhausen, siehe Henscheid, das will auch Dotzauer mit seinen Betrachtungen: Den Moment festhalten, den Gedankenfluss als Argumentationskette verschenken – an seine engsten Freunde und entferntesten Leser (wir verwenden den generischen Plural). Sein Buch hätte auch nach Hesse heißen können: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne:“ Wie Dotzauer seine Kontrabassgeschichte von der kindlichen Begegnung mit dem großen Instrument, fast schon wie eine Erscheinung, bis zu Dave Holland und last but not least Stanley Clarke schildert, zeigt einmal mehr die biographische Verzahnung mit den allgemeinen Zeitläuften. Zu Clarkes groovigen „School Days“ ließ sich damals nachts perfekt vom Kaff aus nach Amsterdam aufbrechen, das bezeugt der Autor dieser Zeilen. An der Grenze nahe Aachen wurden wir allerdings wieder heim in den Westerwald geschickt. Am nächsten Morgen saß ich pünktlich wieder am Schreibtisch meiner ungeliebten kaufmännischen Ausbildung: Ich glaube, ich werde ab jetzt auch nur noch Essays schreiben. Ich habe nämlich auch etwas erlebt, nicht nur Dotzauer. Aber danke dafür!
Letzte Änderung: 22.10.2023 | Erstellt am: 22.10.2023
Gregor Dotzauer Schläft ein Lied in allen Dingen
Über Musik, Moment und Erinnerung
175 S., geb.
ISBN: 978-3-7518-0097-6
Matthes & Seitz, Berlin 2022
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