Sie können wunderbar singen und glänzen als Schauspieler auf der Bühne. Wenn sie aber einen eigenen Gedanken äußern wollen, wird es mühsam: Die Stotterer müssen einen Widerstand überwinden. Henning Burk hat mit „Stottern und Bühne“ eine eindrucksvolle Sammlung von ‚Texten’ über das Stottern und die Stotterer, vor allem über Einar Schleef, zusammengestellt, schreibt Martin Lüdke.
Manchmal hilft schon Wut. Es ist lange, vielleicht Jahrzehnte her, da klingelte mein Telefon. Ich meldete mich, wie üblich, mit Vor- und Nachnamen. Auf der anderen Seite nichts, Stille, nur ein leises Schnaufen, Atmen war zu hören. Ich rief mehrfach Hallo, und hängte dann verärgert ein. Sofort klingelte das Telefon wieder.
Laut, etwas gepresst, ja regelrecht komprimiert, brach es aus meinem Gesprächspartner heraus, wobei das an sich stummlose „H“, fast knallend herausgeschrien wurde. „Hier iss de HHHenning“. Der Anrufer wollte sich über meine Ungeduld empören und mich mit „Du weißt doch …“ ins Unrecht setzen, was ich konterte: „ich wusste nichts …“.
Es war Henning Burk, Kollege und Freund, promovierter Theaterwissenschaftler, Filmemacher, Autor und Stotterer, seit ich ihn kenne, und das ist wie gesagt, lange, lange her.
Jetzt hat Burk einen Band in der Theater- und Medienwissenschaftlichen Reihe „Maske und Kothurn“ mit dem Titel „Stottern und Bühne. Resonanz, Impuls, Schleef“ herausgegeben und zu weiten, auch den interessantesten Teilen mit seinen eigenen Beiträgen bestückt.
Dieser Band kann als Ergänzung der jüngeren deutschen Theatergeschichte gelesen werden. Aus, zugegeben, sehr spezieller Perspektive. Gleichsam doppelt gebrochen. Denn einerseits ist bereits Schleef ein Sonderfall in der jüngeren deutschen, wie manche Kritiker meinten, urdeutschen Theatergeschichte. Und dann ist das Grundthema des Bandes, womit sich eine Reihe durchwegs kürzerer Beiträge beschäftigt, das Stottern. Es sind Theaterleute, Therapeuten, und immer, wie eben Burk, Stotterer.
Burk beschreibt, geboten ausführlich, Entwicklung, Karriere und Wirkung von Einar Schleef, dem Schriftsteller, Dramatiker, Regisseur, Bühnenbildner und, daraus ergeben sich Ansatzpunkt und Perspektive dieser Darstellung, dem Stotterer. (Ich hatte seinerzeit den großen und bedeutenden Roman Schleefs, „Gertrud“, für den SPIEGEL Nr. 9, 1985, besprochen. Bei dieser Gelegenheit erzählte mir Urs Jenny, der damalige Theaterkritiker des SPIEGEL, dass er kürzlich Schleef in Hamburg getroffen habe, der ihm fast ein wenig stolz mitteilen wollte, dass er jetzt „kkk kaum noch ssstotttere“. Auch Burk geht in seinem Schleef-Porträt auf diese merkwürdige, ihm aber auch aus eigener Erfahrung bekannte Selbsttäuschung ein.)
Quasi zur Einführung erzählt Burk in dem ersten Beitrag mit dem schlichten Titel „Eßsaal“ seine Internatserfahrungen auf der einst berühmten Elite-Schule „Birklehof“, auf die seine Eltern, Buchhändler aus Bad Nauheim, das stotternde Kind, das gerade zehn Jahre alt war, geschickt hatten, in der etwas tollkühnen Hoffnung, dass sich in der renommierten Lehranstalt auch eine gute, also flüssige Sprechweise des Jungen wie von selbst ergeben werde. Das Gegenteil war der Fall. Burk berichtet eindringlich, wie er mühsam erlernen musste, sich Aufmerksamkeit, das heißt eben auch Anerkennung, die er sprechend nie erringen konnte, in der Schule und vor allem in dem großen Speisesaal, in dem sich jeden Mittag das gesamte Personal, Schüler und Lehrer, zum gemeinsamen Essen versammelte, mit eher unkonventionellen, theatralischen Mitteln zu verschaffen suchte. Im Unterricht blieb er möglichst stumm, weil jeder Versuch zzzu sssprprechen, zu einer quälenden Anstrengung wurde. Hier, im Eßsaal, sah er andere Entfaltungs- und damit Kompensationsmöglichkeiten für sein Defizit. So ahmte er auf dem langen Weg von der Eingangstür zu seinem Platz die Eigenarten von Lehrern und dem Internatsleiter pantomimisch nach. Er zog beispielsweise seine Hose an der Gürtelschnalle so ausgiebig hoch, als wollte er, was darin verpackt war, mit kraftvoller Anstrengung in eine „ordentliche Lage“ bringen. Der Erfolg blieb nicht aus. „Die Lacher machten mir klar, dass meine Pantomime ankam.“
Und dem Leser wird, erzählerisch, auf durchaus auch komische Weise, ebenfalls klar, mit welchen Nöten und Schwierigkeiten ein Stotterer tagtäglich zu kämpfen hat. Auch ein ordentlicher Erstickungshusten hat oft seine komische Seite. Fast jeder Mensch kennt das Problem. Und viele können, wieder zu Luft gekommen, dann auch selbst darüber lachen. Doch wenn ein Stotterer ein für ihn schwieriges Wort mühsam herausgewürgt hat, was durchaus komisch wirken kann, weiß er genau, dass sein nächster ‚Hänger’ bereits auf ihn wartet. Das Problem bleibt. Genau das will Burk mit seiner Beschreibung zeigen.
In einer ganzen Reihe von kürzeren und durchaus interessanten Beiträgen wird das Stottern auf der (Theater-) Bühne beschrieben, bis endlich Henning Burk zu seiner über hundertzwanzig Druckseiten umfassenden Darstellung Einar Schleefs ausholt. (Eigentlich ein ganzes Buch für sich!)
Günther Rühle, der erst kürzlich im biblischen von 97 Jahren Alter gestorbene ehemalige Theaterkritiker und spätere Feuilletonchef der FAZ, hat in seiner Zeit als Intendant des Frankfurter Schauspielhauses, nach schweren Auseinandersetzungen, aber letztlich erfolgreich versucht, Schleef, als Autor ebenso wie als Regisseur, auf der deutschen Bühne durchzusetzen.
Burk beschreibt aber nicht nur diesen Prozess. Er beschreibt auch seine Vorgeschichte, und räumt dabei, beispielsweise, mit dem Mythos auf, Schleefs Stottern sei durch einen Eisenbahnunfall verursacht worden. Der junge Schüler war zwar tatsächlich aus einem fahrenden Zug gestürzt, wurde schwer verletzt, lag lange im Krankenhaus, hatte aber auch zuvor schon gestottert.
Burk beginnt seine ausführliche Darstellung von Weg und Werk Schleefs mit der Feststellung: „Ich habe mit niemanden gesprochen, der Einar Schleef auf der Theaterbühne hat spielen sehen und dabei feststellte, dass er stotterte. Alle, die ihn persönlich kannten, sagen: Im Alltag habe Schleef immer gestottert, je nach den Umständen, mehr oder weniger. Auf der Bühne nie.“ Und das sei von seiner Kindheit an immer so gewesen.
Burk beschreibt ausführlich und materialreich die Entwicklung des jungen Einar Schleef, das seltsame Klima in Ulbrichts DDR, das Leben in der mitteldeutschen, am Rande des Harz gelegenen Kleinstadt Sangerhausen, die ersten (Kasperle-)Theatererfahrungen vor Zuschauern, den Kindern aus der Nachbarschaft. Es ist eine interessante, ja teilweise auch faszinierende Biographie in den frühen fünfziger und sechziger Jahren, die Burk hier skizziert, immer gestützt auf entsprechende Belege. Burk hat auch vor Ort die entsprechende Nachforschungen betrieben, auch einen Leidensgefährten, den etwa gleichaltrigen Thomas Breier aufgespürt, der ihm aus erster Hand von den Erfahrungen berichten konnte. Breier erinnert sich natürlich auch an Schleefs Mutter: „Klar. Sie war nicht zu übersehen: Groß, vollbusig, laut, sehr dominant. Man konnte sie von weitem über die halbe Mogkstraße hören. Sie war mit überschäumender Energie unterwegs, hat sich immer um Einar Sorgen gemacht.“
Die beiden Mütter, die von Schleef und die von Breier, suchen für ihre stotternden Kinder Hilfe bei einer Logopädin in Nordhausen, die sie aber, so Breier, vergeblich, zu behandeln suchte.
Burk zeichnet ausführlich und anschaulich, mit Hilfe von Tagebüchern und anderen Selbstzeugnissen, die mit vielen Schwierigkeiten behaftete Entwicklung Schleefs nach, Schule, Abitur, die Erziehungsmethoden des brutalen Vaters, der den längst erwachsenen Sohn bei jeder Gelegenheit noch verprügelt, was sich Schleef widerstandslos gefallen lässt; den ersten Anlauf auf der Kunsthochschule und die Exmatrikulation, den über Umwege führenden Weg zum Theater, und darunter auch den ersten Anlauf zum Schreiben. An vielen Episoden zeichnet Burk die Entwicklung Schleefs nach. Schleefs Auftritt beim Wettbewerb um den Bachmann-Preis in Klagenfurt, bei den verschiedensten Inszenierung, die Schleef in Österreich und der Bundesrepublik bekannt, berühmt, auch berüchtigt gemacht haben. Er beschreibt die Methoden des Theatermachers, oft Autor, Regisseur, Bühnenbildner und Autor in einer Person.
So entsteht eine Biographie des Schriftstellers und Regisseurs, des Bühnenbildners und Zeichners, vor allem aber und damit in erster Linie des Stotterers Einar Schleef, dessen Sprachverhalten bei allem, was er tut und lässt, stets im Vordergrund steht. Eine faszinierende Geschichte.
Letzte Änderung: 04.03.2022 | Erstellt am: 01.03.2022
Henning Burk (Hrsg.) Stottern und Bühne
Resonanz. Impuls. Schleef.
Maske und Kothurn
66. Jahrgang 2020, Heft 1/2
221 S.
ISBN: 9783205214663; 3205214668
Böhlau Verlag, Wien 2020
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