Das Wissen vom Unbewussten

Das Wissen vom Unbewussten

Kurt Drawerts Essayband „Die große Abwesenheit“
Kurt Drawert | © Ute Döring

Kurt Drawert ist nicht nur ein Dichter, sondern mit seinen Romanen und Essays auch ein Intellektueller von Rang, dessen luzide Beschreibungen und Textanalysen beispielhaft sind. Seine mit der eigenen Biographie grundierten und mit einer wachen Wahrnehmung politischer Geschehnisse korrespondierenden Einlassungen erheben mit ihrer Formulierungs-Sorgfalt und Intensität einen Anspruch, der sonst selten anzutreffen ist. Barbara Zeizinger hat seinen letzten Essayband „Die große Abwesenheit“ gelesen.

„Ich schreibe wahnsinnig gerne Essays, weil ich eine große Lust am Denken habe, am Erkennen, Zusammenfügen, was im Rätsel und in Brüchen vor mir liegt.“

Auch wenn dieser Satz von Kurt Drawert in seinem neuen Essayband „Die große Abwesenheit“ erst am Ende, in einem Gespräch mit Martin Hielscher, steht, ist er doch gleichsam ein gewaltiger Bogen, der über den Ausführungen des gesamten Bandes gespannt ist. Und es ist ein Bogen, der mit Essays, Reden zu seinen zahlreichen Preisen, Interpretationen, Erinnerungen an Weggefährten und Gesprächen weit gefasst ist, wobei er immer wieder auf die existentielle Bedeutung der Sprache für uns und speziell für einen Schriftsteller zurückkommt.

Ohne Sprache können Menschen nicht leben. Als eindringliches Beispiel führt der Autor uns das Schicksal der Kinder des Stauferkönigs Friedrich II vor Augen, die alle starben, weil sie sprachlos aufwachsen mussten. Auch mit dem Findelkind Kaspar Hauser hat Kurt Drawert sich lange beschäftigt und das Motiv in seinen Roman „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ aufgegriffen.

Poesie ist nach Roman Jacobson das Wissen vom Unbewussten. Nur Literatur kann im Gegensatz zur Wissenschaft über das Unerklärliche sprechen, oder, wie Kurt Drawert es in dem großen Essay „Was ist Literatur? Versuche einer Topologie“ ausführt, ein Text muss über ein Unterbewusstsein verfügen. Er bildet nichts ab, sondern erschafft, wobei der Autor am Anfang selbst nicht weiß, wohin der Weg führt. Es ist die Sprache, die besondere Formulierung eines Satzes, die darüber entscheidet, ob er wahrhaftig ist. Nicht zufällig erwähnt Kurt Drawert in mehreren Zusammenhängen das „Möbiusband“, bei dem sich die Innen- und Außenseite ständig verschiebt.

Wobei Texte sich im wahrsten Sinn in den Körper einschreiben, ihn als „Inschrift“ verändern. Schon zu Beginn des Buches in dem Essay „Die große Abwesenheit“, der 2020, also zur Zeit der Pandemie, verfasst wurde, fehlt ihm bei Literatur, die in Livestreams und Zoom-Meetings vorgestellt wird, die körperliche Begegnung. „Wo sind die Metaphern des Raumes auf einem Monitor?“ Überhaupt wundert er sich, dass zu dieser Zeit gleich so viele Corona-Texte entstanden sind. Denn Literatur braucht Raum und Zeit. Um es mit Lacan zu sagen: „Wo ich bin, kann ich nicht denken, wo ich denke, kann ich nicht sein.“

Welche Bedeutung haben Orte für den weitgereisten Autor, fragt Martin Hielscher in einem der zwei Gespräche (das zweite ist mit Axel Helbig), die das Buch abschließen und noch einmal bestimmte, bereits erwähnte Themen erläutern. Auch hier bleibt das Ungewisse. „Was ich sagen will, ich weiß nie, ob Orte, die ich mir vorgestellt habe und vielleicht sogar mit literarischer Absicht bereise, ergiebig sein, etwas freisetzen werden.“ Wie er in dem Essay „Prag ist eine Erfindung von Kafka. Die Stadt, der Blick und der Text“ schreibt, unterscheiden sich die Stadtpläne eines Dichters sehr von denen eines Touristen. Bei Kafka sind es die von „Ängsten und bizarren Phantasmen durchzogenen Seelenlandschaften des Prager Bürgertums.“

Interessant sind auch die Texte über andere Schriftsteller. So schreibt er über Wolfgang Hilbigs „glänzende Prosa“, über Günter Eich zum Gedenken, einen Nachruf auf Fritz J. Raddatz, gratuliert Karl Krolow zum Hundertsten und erinnert sich an Weggefährten im Literarischen Salon des Ekke Maaß. Ezra Pound würdigt er mit einer Interpretation seines Gedichts „In einer Station der Metro“ und im Vergleich mit Jakob van Hoddis „Weltende“ verweist er auf „denselben Bruch einer Logik des Sehens“.

Dann gibt es noch den Essay über Imre Kertész „Roman eines Schicksallosen“. 21 Jahre habe das Buch auf ihn gewartet. In diesem Zusammenhang erwähnt er den 1949 geschriebenen Roman von Tadeusz Borowski „Bei uns in Auschwitz“, auf den er in seinem eigenen atemlosen „Text“ über einen „Besuch im Museum Auschwitz“ Bezug nimmt. Dreimal (1991,1993, 2000) habe er angesetzt zu erzählen, „wo und wann die Sprache endet.“

Im letzten Teil, dem Gespräch mit Axel Helbig, geht es unter anderem um Kurt Drawerts Roman „Dresden. Die zweite Zeit“, der sich wie „Spiegelland“ mit seiner Familiengeschichte beschäftig. Dabei wird noch einmal deutlich, welche Rolle beim Schreiben das Unbewusste spielen kann. Denn erst als ihm völlig unerwartet der Satz „Ich suche etwas, von dem ich nur weiß, dass es mir fehlt“ einfiel, konnte er den Roman schreiben. „Das Unbewusste, mit dem jede Literatur verknüpft ist, bewusst oder nicht, es war für mich in diesem Satz fassbar.“

Drei Fotoerzählungen von Ute Döring – Prora schwarz-weiß, Prag und Berlin farbig – stehen zwischen den Texten. Es sind Bilder von menschenleeren Landschaften, von Gebäuden, bei Berlin aufgenommen an den Rändern der Stadt, bei Prora und Prag ist es das Spiel mit Erinnerungen, so unterschiedlich diese sein mögen. „Dazwischen“ nennt Ute Döring ihre Fotos von Berlin. Eines davon zeigt eine mit Graffitis besprühte Holzwand in einer verlassenen Landschaft. Dahinter Bäume und ein Wolkenhimmel. Auch hier ist es der Blick, der eine Geschichte ermöglicht.

Letzte Änderung: 11.12.2023  |  Erstellt am: 10.12.2023

Die große Abwesenheit | © Ute Döring

Kurt Drawert Die große Abwesenheit

Essays, Reden, Figuren der Literatur
Mit Fotografien von Ute Döring
247 S., geb.
ISBN 978-3-95905-608-3
Verlag Spector Books, Leipzig 2023

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Kommentare

Kathrin Kutzera schreibt
Kurt Drawerts Werke berühren mich unaufhaltsam. Ich mag seine Sprache, weil ich sie fühlen kann.

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