Das Studium der Flechten

Das Studium der Flechten

Durs Grünbeins „Äquidistanz“
Durs Grünbein | © Screenshot

Auch wenn er sich altmeisterlich in historischen Ausdrucksweisen präsentiert, spricht Durs Grünbein doch immer gegenwärtig. Und weil ihm nicht nur die Literatur, sondern auch die Geschichte zur Verfügung steht, sind seine Essays informativ und klug, seine Gedichte Zentren von abendländischen Beziehungsnetzen, formbewusst und erfahren. Anlässlich seiner Lesung in der Frankfurter Romanfabrik hat Ruthard Stäblein die Wandlung des Dichters beschrieben.

„Der Stellenwert des Wortes“ – so überschrieb Durs Grünbein seine Frankfurter Poetik-Vorlesung von 2009. Stellenwert, das meinte er erst einmal wörtlich, der Ort, an dem ein Wort ausgesprochen wird.

Schaurig und geschichtsbeladen fand Grünbein damals den Ort der Vorlesung, die Goethe-Universität im Gebäude von I.G. Farben, wo „Orwellsche Phantasien ausgeheckt wurden“.

Auch im neuen Band berühren den Dichter Grünbein, dieses Mal in Berlin, in den Ruinen des Dritten Reichs die Orte des Grauens, wird er erfasst von ihrem Nachhall, auch in Postkarten, die er aufgestöbert und kommentiert hat. Er sprach schon damals von dem Ort, an dem seine Dichtung entstand, wo er 1962 geboren wurde, von Dresden, genauer dem Vorort Hellerau, noch genauer von einem „Russenwäldchen“.
Dieser Wald am Ortsausgang mit den „Truppen der Roten Armee“ taucht auch wieder in seinem neuen Band auf, im letzten Gedicht, der dem Band den Titel gibt, „Äquidistanz“, in dem Grünbein seine aktuelle Poetik reformuliert.

Auf eine Begegnung der dritten Art an diesem Ort der Banalität, dem Russenwäldchen, datierte Grünbein damals die Geburtsstunde seiner Poesie. Er operierte damals mit Begriffen wie Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit. Für Eingeweihte wurde hier deutlich, dass Grünbein an die Geburtsstunde des Dichters Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke erinnerte. Malte hatte so ein Erlebnis der Offenbarung, des Schocks, der „Epiphanie“, als er in Paris ein Abrisshaus betrachtete. Der Dichter Grünbein zählte in seiner Frankfurter Poetik damals die großen Dichter der Moderne auf, die seine Entwicklung beförderten und beflügelten: so die 3 Apostel Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé; Er verriet seine Schwäche für Hölderlins Nachtgesänge und Georg Trakls Nachtgespenster; dass er sich mit den Romantikern „dopte“ und schließlich bei Gottfried Benn „hängenblieb“. Mit einem Gefühl von Nostalgie blickte er auf die Alten zurück:

Durs Grünbein hatte damals den Mut, eine Regelpoetik für sich selbst aufzustellen, die zudem klassischen Mustern folgt. Richard Wagners Meistersängern entnommen:
„Wie fang’ ich nach der Regel an? – Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.“

Wie Hölderlin verankerte er den Ort des Dichters in einem Winkel seiner Existenz, an einen genius loci, und sei’s der Lokus, eine „cloaca minima“ oder der „Medienmüll“. Wie Goethe fixierte er den Entwicklungsgang: Einfache Nachahmung, Manier, Stil.

Das kann man im Verlauf seiner Publikationen nachvollziehen. Erst ahmte Grünbein Heiner Müller nach, etwa in seinem ersten Lyrikband „Grauzone, morgens“ von 1988, „Tagelieder“ aus dem Alltag des „bolschewistisch- byzantinischen Reiches“ vor dem Untergang. Schließlich konnte er sich nach dem Band „Schädelbasislektionen“ von 1991 freier bewegen. Fand er aus den vielen Stimmen seine eigene heraus. Seine Poesie entzündete sich danach an den antiken Klassikern wie Vergil aber auch an Philosophen wie Descartes, dem er auch im neuen Band die Treue hält, weil der schon „als Schüler in die Poesie verliebt war“, dass nämlich „der Einfallsreichtum der Dichtung den Geist aufweckt“.

Grünbein will bis heute und grundsätzlich das alte Subjekt behaupten, das von den Postmodernen totgesagt wurde. Ein Subjekt, das er jedoch als „persona“ als Larve und Maske auf einer Bühne versteht.
Aber Grünbein benutzte damals auch Worte, wie sie schon lange kein Lyriker mehr in den Mund nahm, wie „Mission“ von Dichtung, der Widerstand des Verses gegen die „Nichtigkeit und Vergänglichkeit alles Gesagten“.
Und er hatte den höchsten Begriff von Lyrik:
„Dichtung versetzt die Sprache in einem Traumzustand“

Durs Grünbein stellte sich in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung in die Tradition der heroischen Moderne und der klassischen Antike. Der Stellenwert seiner Poesie könnte kaum erhabener sein. Er lag damals eher im Pathos begründet. Wie Bertolt Brecht konnte er sich auch mit seinen weiteren Gedichtbänden selbstbewusst als Klassiker zu Lebzeiten betrachten lassen. Vor allem als er nach Rom zog, in seinem Band „Aroma“ von 2010 die ewige Stadt in Hexametern besang, den römischen Satiriker Juvenal nachdichtete und nach den Spuren des Apostels Paulus suchte. Inzwischen hat er jedoch den Ton seiner Gedichte etwas leiser gedreht, finde ich. In seinem neuen Band, im Gedicht „Zeichentheorie“ heißt es jetzt:

Nun, da es keinen Kult um Verse mehr gibt,
kann das Studium der Flechten beginnen,
der Flecken und Risse in den Texturen.
Die Bestimmung der Nebensachen…


Nun, da es Gedichte wie Packpapier gibt,
einfache, praktische für den Hausgebrauch,
kann der Regen einfach das Wetter sein,
die Sonne unbemerkt untergehen.

Intensiver als früher beschäftigt sich Grünbein in seinem neuen Band, so scheint es mir, mit Erinnerungsbildern an seine Kindheit in Dresden. Mit den Spuren des Holocaust im heutigen Berlin, den Ruinen und Resten der DDR, den Brüchen des antiken Erbes in der Gegenwart Italiens. Der ehemals freiwillig Latein- und Griechisch in seiner Nachbar-EOS lernte, erinnert sich an seine Schulzeit, als er als Träumer galt, beim Blick in den Schulatlas auf die Höhenlinien seinen Gedanken nachhing und wohl schon damals anfing, beim Träumen zu dichten.

Der Dichter Grünbein hat sich weiter entwickelt. Er ist, frei nach Rimbaud, ein anderer geworden und ist doch der Gleiche geblieben. Er hat eine größere Distanz zum Stellenwert der Dichtung gefunden, hängt sie nicht mehr so hoch. Vielleicht ist er in seiner Haltung zum Leben stoischer geworden, hat er zum Ideal der Stoa, zur „Ataraxie“ gefunden. Und schafft es doch weiterhin, nur anders, in seinen Gedichten den Zeitkern vergangener Epochen zum Nachglühen zu bringen, das Vergehen der Zeit aufzuspüren und atmosphärisch dicht einzufangen, zu fassen.
Seine Worte haben einen anderen Stellenwert gefunden: Weniger hoher Ton, mehr „mittlerer Abstand“. Durs Grünbein ist ein reifer Dichter geworden.

Letzte Änderung: 24.02.2023  |  Erstellt am: 24.02.2023

Äquidistanz | © Screenshot

Durs Grünbein Äquidistanz

Gedichte
183 S., geb.
ISBN-13: 9783518430989
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022

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Kommentare

Petra Kammann schreibt
Ein sehr schöner Text, lieber Ruthard, mit den Rückbezügen auf Rimbaud et comganie und natürlich auch auf Rilkes Malte und auf die Dresdener Erfahrungen.

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