Das Leben eines Sonderlings
Wie Joseph Nicéphore Niépce, der 1826 die vermutlich erste Fotografie machte, nutzte der Wanderfotograf Roberto Donetta (1865-1932) das Heliografie-Verfahren, mit dem er in einer Kamera Glasplatten belichtete. Die Obsession, mit er das Fotografieren betrieb, übertrug sich auf die Qualität der Bilder. Der Bergsteiger und Journalist Mario Casella hat die Biografie des Lichtbildners in einem Roman ausgestaltet, und Ulrich Breth hat ihn gelesen.
In der Flut der literarischen Neuerscheinungen ein Buch zu entdecken, dem eine möglichst große Leserschaft zu wünschen ist, ist nicht selten Zufall oder Glückssache. Ein solcher Glücksfall ist „Der Wanderfotograf“ von Mario Casella, dessen deutschsprachige Übersetzung im Zürcher Atlantis Verlag erschienen ist. Interesse an der Frühphase der Fotografie und zurückliegende Eindrücke der Landschaft des Tessins hatten die Aufmerksamkeit des Rezensenten auf das Cover und den Inhalt des vorzustellenden Buches gelenkt.
Auf den meisten Fotos sieht der Autor Mario Casella aus wie ein Schweizer Alpinist. Was er im Grunde ja auch ist. Schreiben und Bergsteigen sind meine zwei Leidenschaften. Ich bin Journalist, Filmemacher und Bergführer. Ich war lange Zeit hauptberuflich für das Radio und TV der italienischen Schweiz (RSI) tätig und realisierte Reportagen im Ausland, schreibt er auf seiner Homepage. In der Schweiz und vor allem in Italien wurde er als Filmemacher und durch seine Bergbücher bekannt. Auch „Der Wanderfotograf“ ist eine Geschichte aus den Bergen, wenn auch eine der anderen Art.
In diesem biografischen Roman erzählt der Autor die Lebensgeschichte von Roberto Donetta (1865-1932), auf den die Welt der Fotografie Mitte der 1980er Jahre durch den überraschenden Fund von 5.000 belichteten Glasplatten und 600 Originalabzügen aus seinem Nachlass aufmerksam geworden ist. Es ist die Geschichte eines in beständiger Armut lebenden Mannes, der nach verschiedenen Tätigkeiten als fliegender Samenhändler und Wanderfotograf durchs Valle di Blenio zog, um, nachdem er von seiner Frau und seinen Kinder verlassen wurde, den Rest seiner Tage das Leben eines Sonderlings zu führen. Einzig sein jüngster Sohn Saulle blieb, nachdem die Familie fortgezogen war, noch einige Jahre bei ihm, um ihm bei seiner fotografischen Arbeit als Assistent und auch als Modell zur Hand zu gehen.
Donettas Fotografien, die inzwischen auf Ausstellungen, in Bildbänden und im Internet veröffentlicht worden sind, stehen für sich selbst. Ihr sozialdokumentarischer Charakter und ihre Strahlkraft haben bei ihren Bewunderern Vergleiche mit Eugène Atget, August Sander und Ansel Adams herausgefordert. In einem Zeitraum von dreißig Jahren hat er Porträts einzelner Personen und Familien, Bilder von Feiern und Prozessionen, Hochzeiten, Geburten und am Totenbett, vom dörflichen Alltag und der Berufswelt und beeindruckende Naturaufnahmen angefertigt; viele verraten die experimentelle Einstellung und das kunstvolle Arrangement eines Autodidakten, der seine Technik im Umgang mit der Kamera beständig verfeinert hat.
Casella hat in seinem Roman die Gestalt, die bei diesen Aufnahmen hinter der Kamera stand, mit Leben gefüllt. Dazu greift er neben einer Auswahl von Fotos auf Donettas persönliche Aufzeichnungen und seinen Briefwechsel zurück. In 15 Kapiteln und einem kurzen Epilog rekonstruiert er auf der Grundlage der erhaltenen Dokumente mit dem Mittel der Literarisierung Donettas Lebensweg. Auf diese Art und Weise entsteht das Porträt eines jungen Familienvaters, der sich in dem Maße, in dem er die Fotografie als seine Bestimmung entdeckt, zunächst von seiner Familie und schließlich von seinen Mitmenschen zunehmend entfernt.
Durch die Auswahl von 15 Fotografien, denen er in fiktionalisierter Form einen Kommentar von Saulle zur Seite stellt, legt der Autor in seinem Roman eine zweite Spur. Dadurch, dass auf den meisten dieser Fotos Saulle selbst im Kreis der Familie, gemeinsam mit seinem Vater oder allein zu sehen ist, gewinnen seine Ausführungen über die Entstehungsgeschichte der Bilder eine unvermutete Authentizität. Zugleich zeigt die Auswahl, dass Donettas Entwicklung als Fotograf ihn nicht nur von Arrangements des Familienlebens über dörfliche Genreszenen zur großformatigen Landschafts- und Naturfotografie geführt hat, sondern dass die Einfühlsamkeit seiner Porträts der Menschen aus dem Bleniotal nicht von dem Wunsch zu trennen ist, von der ihnen eigenen auf archaischen Familienritualen beruhende Lebensweise Zeugnis abzulegen und sie unter den Bedingungen der technischen Moderne fortzusetzen.
Jede dieser Fotografien enthält Überschussmomente, die dem heutigen Betrachter mehr mitteilen, als den Menschen vor und hinter der Kamera damals bewusst gewesen sein mag: nämlich Zeugen einer Welt zu sein, die unwiederbringlich verloren ist. Es ist das Verdienst von Casellas Roman, diesem Eindruck eine sprachliche Form gegeben zu haben.
Letzte Änderung: 29.08.2023 | Erstellt am: 29.08.2023
Mario Casella Der Wanderfotograf
Biografischer Roman
Aus dem Italienischen von Franziska Kristen
Mit einem Vorwort von Guido Magnaguagno
224 S., geb.
ISBN-13: 9783715250281
Atlantis Literatur, Zürich 2023
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