Das Jahr unterm Eierschalenhimmel

„Erdmantel: ein Kleidungsstück, das wir alle tragen. Die Worte unserer Sprachen: Erdmäntel, Erdfrüchte, Erdäpfel. In Worten werden die Wesen gegenwärtig, mit denen zusammen wir leben. Wenn wir die Worte nicht haben, werden diese Wesen für uns zu bloßen Schemen, deren Weggang wir nicht einmal bemerken.“
Literarische Tagebücher öffnen selten nur die private Schatulle der Autorin oder des Autors. Oft schaffen sie eine neue Form der Literatur, die den äußeren Rahmen des Tagebuchs zum Anlass nimmt für etwas, das die zufällige Chronologie fortschreitender Zeit transzendiert. Beispielsweise im Jahreslauf plötzlich die Progression der Zeit fast zum Verschwinden bringt zugunsten anderer Ordnungen, etwa durch die Konfrontation von historischer Weltzeit mit individueller Lebenszeit oder die Periodik der Natur mit geologischen Tiefenzeiten des Planeten. Beide Überschreitungen der gewöhnlichen Zeitenfolge ins Historische und Geologische finden sich z.B. schon in den Tagebüchern Ernst Jüngers oder den Notizbüchern Peter Handkes angedeutet. An irgendeiner Stelle spät in Jüngers Siebzig verweht heißt es, wenn ich mich richtig erinnere: Das 21. Jahrhundert werde den Titanen, Gaia und dem Planetarischen gehören. Ich habe lange nicht begriffen, was tatsächlich damit gemeint sein könnte, bis vor dem Hintergrund dessen, was uns das Anthropozän heute lehrt, alles Orakelhafte von dieser Sentenz verschwand. Wir leben bereits im Zeitalter der Begegnung geologischer Tiefenzeiten mit dem Planetarischen, jener vom Menschen und seinen Hervorbringungen technisch zugerichteten, vom kaum verrottenden Humus unserer in Beton gegossenen Infrastrukturen sowie den Rückständen unserer atomaren Energie- und im Zeitraffer Kapital generierenden Ölkulturen überzogenen, von stetig steigender Kohlendioxidanreicherung aufgeheizten Erde – auf der sich ein Massenaussterben von Tier- und Pflanzenarten ereignet wie seit dem Ende der Dinosaurier nicht mehr. Was bedeutet das für Beobachtung und Darstellung, für Wahrnehmung und Reflexion der Natur, die es ja weiterhin, wenn auch als vielfach bedrohte, beschädigte oder verarmte Natur, gibt, für eine Biosphäre, die trotz anthropogener Technosphäre und Cyberspace immer noch Voraussetzung und Grund allen Lebens ist, eine Natur, die wir weder hintergehen noch verlassen können, weil wir selbst wie alle Geschöpfe in ihr kommen und gehen? Was bedeutet es, einer Natur zu begegnen, der wir zwar angehören, die von uns als Spezies jedoch in ihrem Sosein systemisch permanent infrage gestellt, traktiert, verdrängt und zerstört wird?
Der in Oxford lehrende Literaturwissenschaftler, Übersetzer, Dichter und Naturschützer Bernhard Malkmus ist in seinem Tagebuch Himmelsstriche dieser Frage sehr konkret nachgegangen. Die Himmelsstriche beziehen sich auf die Ausschau nach allen vier Himmelsrichtungen, die er vom nordöstlichsten Punkt Englands, an der Nordseeküste bei Newcastle am Hadrianswall im Grenzland zu Schottland betrieben hat. Der Jahreslauf, den er von Frühjahr zu Frühjahr mitschrieb, ist, ohne dass dies in der Schrift eigens hervorgehoben werden müsste, genau der jener planetarischen Zeitenwende, in der wir leben: Russlands zermürbender Angriff auf die Ukraine, der sich ankündigende Siegeszug des Trumpfaschismus, das bestialische Massaker der Hamas und die barbarische Antwort Israels, Flucht und Vertreibung von Millionen Menschen aufgrund von Kriegen, Dürre, Missernten, Verfolgung, moderner Sklaverei quer vom Sudan bis Südostasien sind die zeitgeschichtlichen und – in Korrespondenz und Kontrast dazu – Hitzerekorde, grassierende, durch Massentierhaltung ausgelöste Seuchen unter Wildvögeln, gravierende Verschiebungen in den jahreszeitlichen Rhythmen die planetarischen Koordinaten dieses von Malkmus von seinem Ort auf der Steilküste am Rand Newcastles dokumentierten Jahres. Dabei sind diese Koordinaten fast nie als abstrakte Entitäten, als sich der Vorstellung entziehende unsinnliche „Hyperobjekte“ aufgeführt, sie werden ohnehin (fast) nicht namentlich genannt, da sie im allgemeinen Bewusstsein präsent sind, sie sind gleichwohl der kollektive Hintergrund, an dem sich die unmittelbare Wahrnehmung, die Reflexions- und Erinnerungsarbeit des literarischen Tagebuchs bricht. Ausgestattet mit seinem, wie er schreibt, „morphologischen Blick“ auf Natur und feinste Verästelungen und Veränderungen darin, mit dem Vermögen der Benennung und Diagnose von Zusammenhängen, die Unkundigen einfach entgingen, von der Trauer durchdrungen, dass unsere Zeit Verlusterfahrungen natürlicher Vielfalt und Fülle zu bewältigen hat, die eigentlich nicht zu bewältigen sind, lebt sein Tagebuch doch gerade von der Aufzeichnung einer immer wieder überraschend registrierten Lebendigkeit jenseits der Grenzen unseres kulturell verengten Blicks auf das Wilde, Natürliche, Kreatürliche, das sich gerade – immer noch – dort ereignet, wo sich der Mensch zurückgezogen hat oder nicht dauerhaft sein kann, auch wenn es keinen Bereich zu geben scheint, der nicht von der Signatur des Menschen zeugt. Die Mauersegler sind es für Malkmus, welche die Mauern, die wir gegen die Natur hochgezogen haben, einreißen sollen:
„Die Pfeile ihrer schrillen Rufe vor sich herschießend, jagen sie um Häsuerkanten, ziehen Loopings über Dachfirste, schlagen Purzelbäume gegen Straßenschluchten. Ein quirliger Luftgeist, der seine eigene schwerelose Leibhaftigkeit aus purer Lebenslust wie Sichelscheiben durch den Nordwind schleudert.“
Die Schärfe seiner Beobachtungen misst der Tagebuchschreiber an Abraham Gottlob Werners Nomenklatur der Farben von 1814, die, ursprünglich zur Nuancierung für die geologisch exakte Beschreibung von Mineralien erfunden, immer wieder als eine Art Goldstandard beim sprachlichen Herantasten an die überbordende synthetische Qualität der irdisch-himmlischen Erscheinungen und ihre Resonanz im Schreibenden herangezogen werden. Die offene, das Buch implizit durchziehende Frage ist, ob wir zur Koexistenz mit anderen Formen des Lebens, die das Füllhorn der Erde hervorbringt, (noch) imstande sind oder ob wir alles dem Selbstbehauptungswillen unseres Ego unterordnen:
„Im Unbedingten, im Unverfügbaren kann paradoxerweise unser Bezug auf die Zukunft erst wachsen, weil sie nicht zugebaut, versiegelt, der Logik der Gegenwart unterworfen wird. […] Die Andersheit der Natur bringt uns immer wieder mit unserem eigentlichen politischen Wesen in Verbindung, das wir aus Bequemlichkeit unter unserem anerzogenen Krämergeist verstecken: mit der Verantwortung für zukünftiges Leben. […] Warum ist uns alles Menschengemachte, das oft durch Ausbeutung anderer Menschen erst ermöglicht wurde, so unendlich viel wertvoller als das von der Natur Geschenkte?“
Malkmus besucht jene Orte im Umkreis seines nordenglischen Fensters, an denen die von ihm angestrebte Koexistenz vieler Lebensformen – und nichts anderes heißt Biodiversität – möglich zu sein scheint, Naturschutzgebiete (deren Regulation freilich seit dem Austritt Großbritannien aus der EU aufgeweicht worden ist), Brachen, verfallene Bergwerke und Schächte des Industriezeitalters, menschenleere Landstriche, die erst durch das Einwirken des Menschen entstanden sind, eingehegte Jagd-, Heide- und Weidelandschaften, wilde Gärten, Flussläufe, das Karstgebiet der Pennines, einem Sehnsuchtsland W.H. Audens, den Hadrianswall, die schottischen Highlands, Orte des legendären, mit Tieren und Pflanzen kommunizierenden Mönchstums wie die Insel Lindisfarne. Zugleich spricht er mit Menschen, welche eine ähnliche Sensibilität besitzen wie er, und in der Natur Bereicherung und Erfüllung finden, Resonanz mit dem Anderen der Tier- und Pflanzenwelt, der Biosphäre, welche uns umgibt, erfahren. Besonders haben es ihm die Watvögel angetan, jene Arten, die den Küstenstrich als Lebensbereich für sich besetzen und damit besonders stark den Folgen des Klimawandels mit seinen Stürmen, Fluten, Hitzewellen und Wetterverschiebungen, den Erosionprozessen der Erde ausgesetzt sind, akut jedoch unter der Vogelgrippe leiden, die in ihren dichten Brutkolonien besonders heftig wütet:
„Zwischen den Wurzelstrünken zieht sich ein Band aus Seetang, das den Scheitelpunkt der letzten Flut markiert. Darin verflochten Plastikflaschen, Nylonschnüre, Verpackungsmüll: Teil der Schicht aus Polyethylen, die den Erdkreis umspannt, Teil des zukünftigen Fossilberichts. Wer wird ihn lesen? […] Beim Näherkommen erkenne ich einen verendeten Basstölpel […]. Das Kopfgelb wirkt so kräftig, als trage der Vogel noch im spätherbstlichen Tod die Würde des sommerlichen Prachtkleids. […] In der größten englischen Brutkolonie […] gelang es in diesem Jahr keinem einzigen Brutpaar, seine Jungen großzuziehen. Die Seeschwalbenpopulationen […] scheinen verschont geblieben zu sein, zumindest für dieses Jahr. Dafür grassiert dort gerade der Botulismus, der meist zu Lähmungserscheinungen und fast immer zum Tod durch Herzversagen führt.“
Als in England lehrender und ‚schreibender’ Germanist, der seinem Text mit zahlreichen Fotos zugleich eine visuelle Spur unterlegt und in erstaunlicher Bandbreite aus dem Langzeitgedächtnis einer veritablen Welt- als Erdliteratur schöpft, um alte Texte plötzlich neu im Licht der aktuellen Katastrophe des Ökozids zu lesen, ist Malkmus doch gerade kein Epigone des Autors der Ringe des Saturn, jener südostenglischen Wallfahrt W.G. Sebalds an Orte postindustriellen endzeitlichen Verfalls, sondern mit seiner Art, die menschgemachte Öko-Misere ohne diffusen Geschichtspessimismus luzide anzuprangern und auf die vitale Kraft der Natur zu setzen eher ein Anti-Sebald. Mehr als das: Die Himmelsstriche sind gelebte, in literarische Sinnlichkeit verwandelte Umweltethik. Das ist bei Sebald so nicht zu finden.
Wo dieser in der Natur den Spiegel einer sich entziehenden, zersetzenden, ontologisch letztlich bösen Welt sah, nimmt Malkmus den Menschen in die Pflicht, Natur nicht bloß konservativ als Lebensgrundlage zu bewahren, sondern sie zu ‚lassen‘, das Vielfältige, Wilde, Andere in ihr der eigenen Freude, dem menschlichen Wohl und Resonanzerleben zuliebe einfach zuzulassen und anzuerkennen, dass paradoxerweise gerade die Vögel uns in dem, was wir nicht sind, als planetare, im unbewohnbaren Luft-Raum siedelnde Nomaden, als aus bis 60 Millionen Jahre zurückliegenden Tiefenzeiten stammende interkontinentale Langstreckenzieher am intensivsten mit der Erde verbinden. Kategorien wie Demut und Ehrfurcht vor einer solchen auf Rhythmen von Klima, Land, Wasser und Wetter abgestimmten, gleichermaßen fragilen wie robusten Existenzweise drängen sich auf, wenn man Malkmus’ einfühlsamen Darstellungen der Küstenseeschwalbe, des Mornellregenpfeifers oder des Papageientauchers folgt, und man teilt seine Trauer über die zu Tausenden von der Vogelgrippe dezimierten Spezies – und seinen unbändigen Willen, es nicht dabei zu belassen:
„Warum vermissen wir nicht mehr das Himmelsblau, aus dem – wie Peter Jokostra schreibt – die Kraniche unter dem ‚monotonen zersprungenen Saitenspiel der Sumpfschnepfen‘ zurückkehrten in ihre Brutgebiete? […] Hinter aller Versehrung will in einer solchen Begegnung mit dem seltenen Tier eine scheinbar unversehrte Welt beschworen werden. Die Suche nach der Begegnung mit Tieren wird zur Bestätigung dafür, dass die Welt unsere Heimat ist – und nicht erst zu unserer Heimat gemacht werden muss, wie es die Denkzwänge unserer Kultur uns glauben machen. […] Was bedeutet es dann, […] unter den weit ausgreifenden Schirmkronen alter Scots Pines in feinstem atlantischen Nieselregen in eine Bucht des langgestreckten Loch Mare hinabzuklettern, hinauszutreten auf einen Felsvorsprung, der Blicke freigibt auf eine dicht von pagodenhaft aufgetürmten Föhren bestandene kleine Insel, hinter der die Bergflanke auf der anderen Seeseite langsam unter Nebelschwaden verschwindet, und plötzlich nichts mehr zu sein als ein langer Augenblick im Leben eines jungen Prachttauchers, der, gerade vom Gründeln aufgetaucht, die Bucht […] durchschneidet und hinter der Insel langsam aus meinem Gesichtskreis gleitet?“
Eine lange synästhetische Periode wie diese, im Perspektivwechsel zum Flügelwesen noch dazu als Frage ins Offene ausschwingend, zeigt, dass dieser Autor nicht nur von der Natur reden, sondern ihr auch eine genuine Schrift verleihen kann, die lange nachhallt. Bernhard Malkmus ist im Augenblick vielleicht die wichtigste Stimme auf Deutsch, die poetisch eindringlich, literarisch hochsensibel und anschaulich vor dem planetaren Ökozid warnt und dabei zeigt, wie vor diesem Panorama verantwortungsvolles Handeln, Umdenken und – schauen möglich und lebbar sein könnte. Würden wir den einmal im Buch geäußerten Vorschlag umsetzen, die jährliche Rückkunft der Mauersegler in unsere Städte jetzt am Übergang vom Frühling zum Sommer mit einem Fest – und Feiertag zu begehen, wären wir diesem Ziel schon nähergerückt:
„Ja, ich habe einen Vogel. Die erste Küstenseeschwalbe des Jahres. Sie fliegt wieder entlang nordöstlicher Himmelsstriche: Einen Sommer lang wird sie bleiben unterm Eierschalenhimmel Northumberlands, das Weiß ihrer Schwanzfedern so weiß, als glimme daran noch das Licht der Antarktis.“
(Jan Röhnert)
Letzte Änderung: 10.06.2025 | Erstellt am: 10.06.2025
Bernhard Malkmus
Himmelsstriche. Vom Leben der Vögel und Überleben der Menschen.
Berlin: Matthes & Seitz 2025 (Naturkunden 112)
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