Das Ereignis ist Eve

Das Ereignis ist Eve

Hélène Cixous „Osnabrück“
Hélène Cixous, 2011 | © Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons

Sie ist eine Schriftstellerin, wie man sie sich anspruchsvoller kaum denken kann. Hélène Cixous veröffentlichte Dichtungen, Theaterstücke, Romane, Essays und andere philosophische Schriften. Sie ist eine der wenigen prominenten Frauen im Club der französischen Intellektuellen, und sie ist eine der bekanntesten Feministinnen. In „Osnabrück“ reflektiert sie die Geschehnisse ihrer Biographie. Andrea Pollmeier stellt das Buch vor.

Sprache ist ihr auf eine besondere Art zur Heimat geworden

Hélène Cixous zählt zu den herausragenden französischen Feministinnen der Gegenwart. Eines ihrer persönlichsten Werke, „Osnabrück“, ist im Passagen Verlag auf Deutsch erschienen. Es beschreibt die Beziehung zu ihrer Mutter Eve. In einem einzigartig poetischen Stil spricht sie darin nicht, wie in einer klassischen Biographie, über Faktisches, sondern über emotionale Verknüpfungen und innere Prozesse. Wer an weibliches Schreiben glaubt, wird zahlreiche Hinweise in diesem Text entdecken können.

Schon der erste Satz irritiert. „Als ich dreieinhalb Jahre alt war, verlor ich meine Mutter“, schreibt Cixous. Die Mutter wurde jedoch über hundert Jahre alt und blieb ihrer Tochter bis zum Tod eng verbunden. Der verwirrend klingende Satz über den Verlust der Mutter verweist auf eine politische Zäsur. Damals, am 1.10.1941, als die Mutter verloren schien, hatten Gesetze der französischen Vichy-Regierung jüdischen Kindern den Zugang zu den eigentlichen Schulen verboten. Hélène und ihr Bruder leben zu diesem Zeitpunkt mit ihrer jüdischen Familie im algerischen Oran. Der Vater muss aufgrund der Gesetze seine Arbeit als Militärarzt aufgeben. Die Kinder finden „in einer hastig gebastelten Schule“ Aufnahme. Zwar kann die Dreieinhalbjährige die Umstände der zeitgenössischen Geschichte nicht verstehen, doch spürt sie die existentielle Bedrohung. Unaufhörlich weinend steht Hélène vor der neuen Schule, allein, verlassen, ohne „Maman“ – ein Einschnitt, der ihr Leben prägen wird.

Nach dem Prolog der Autorin beginnt Hélène Cixous Erzählung. Sie wechselt die Perspektiven, schreibt kursiv oder senkrecht, und grenzt eigene Gedanken von denjenigen der Mutter ab. Zunächst zeigt sie Eve in der Küche, zwischen Marmeladengläsern, Dosen und Löffeln, den „Gegenständen ohne Gestern“. „Es ist ein Buch ohne Ereignis. Das Ereignis ist Eve“, schreibt sie. Das ist jedoch eine grandiose Untertreibung. Die Sprache, in der die Philosophin von Eve erzählt, wird zum eigentlichen Ereignis dieses Buches. Sie nähert sich dem Leben auf eine eigene, nachdenkliche Weise an. „Vergessen schützt“, überlegt sie, „Was vergessen worden ist, muss vergessen bewahrt bleiben.“ Zwar hinterfragt sie also ihr biographisches Erinnerungsprojekt, hält daran jedoch bis zur französischen Publikation im Jahr 1999 fest. Erst heute, achtzehn Jahre später, wurde „Osnabrück“ nun in der ausgezeichneten Übersetzung von Esther von der Osten einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht.

Die Übertragung in die deutsche Sprache hat für die Autorin eine besondere Bedeutung. Zwar wurde sie 1937 in Oran geboren und lebt heute in Paris, doch sprach sie als Kind mit der von den Nationalsozialisten aus Osnabrück verdrängten Großmutter Deutsch und lauschte den Gesprächen zwischen Maman und Omi. Sprache ist ihr so auf eine besondere Art zur Heimat geworden und sie bewegt sich darin eigenwillig kreativ. Stets entwickelt sie Wortverbindungen, die ihrer spezifischen Realität entsprechen. Wie in einem lyrischen Text bricht sie Regeln, schafft neue Wortbilder für neue neue Sichtweisen. Der Arbeit an Sprache darf sich auch der Leser nicht verweigern. Nur dann gelingt es, die inneren Bilder inmitten ihrer fremden Wortwelt zu verstehen.

„Lesen ist Schreiben in anderer Form“, sagt Cixous in einem Gespräch mit Peter Engelmann, das unter dem Titel „Aus Montaignes Koffer“ zeitgleich zu „Osnabrück“ veröffentlicht wurde. Hier bestätigt sie ihre Nähe zur französischen „DenkerGeneration“ und zu Zeitgenossin wie Jacques Derrida, Jacques Lacan und Michel Foucault. Als Zeitgenossin hat sie zu dieser Generation ihren eigenen, kraftvollen Beitrag geleistet. In Paris initiierte sie die heutige Universität Paris VIII St. Denis und gründete dort 1974 das erste Zentrum für die „Études Féminines“ in Europa. Ihr Artikel über „Das Lachen der Medusa“ machte sie 1975 weltweit bekannt und legte den Grundstein für eine Theorie des poststrukturalistischen Feminismus. Ihr Verständnis für die Entwicklung pluraler Identitäten, die auf der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Sprachen und Orten basieren, ist gegenwärtig hoch aktuell. Bisher wurde leider nur ein kleiner Anteil ihres komplexen Werkes, das in Kooperation mit dem Théâtre du Soleil und Ariane Mnouchkine auch Theaterstücke umfasst, ins Deutsche übersetzt.

Letzte Änderung: 23.01.2022  |  Erstellt am: 23.01.2022

Osnabrück | © Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons

Hélène Cixous Osnabrück

Herausgeber: Peter Engelmann
Übersetzung: Esther von der Osten
194 Seiten, Broschiert
Passagen Verlag Ges.M.B.H

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