Das Böse in der Geisterbahn

Das Böse in der Geisterbahn

Eduardo Lagos Roman „Brooklyn soll mein Name sein“

Das kommt davon, wenn man seine Finger in den Nachlass Verstorbener steckt. Da kann man Notizen finden, die einem das Entsetzen ins Gemüt treiben. Otto A. Böhmer empfiehlt mit Eduardo Lagos „Brooklyn soll mein Name sein“ einen Roman, in dem nicht nur geraucht, getrunken, gestorben und geträumt wird.

Das Leben kann schön und schrecklich sein, es will, gerade wenn es uns wie eine Ordnungshaft vorkommt, durchstanden oder gar überlebt werden, womit wir in einen Randbezirk vorstoßen, in dem sich auffällig viele Schriftsteller tummeln. Sie haben Ahnung, von diesem und jenem, wirken aber auch gern ein wenig ratlos; – worüber sollen sie schreiben, könnte man deutlich verkürzt zusammenfassen, wenn nicht über das Leben, in dem besonders das sogenannte Böse lauert, wobei wir da sogar noch eine feine englische Übersetzung im Ohr haben, die uns seinerzeit von der Ersten Allgemeinen Verunsicherung (EAV) vorgetragen wurde: The Evil is always and everywhere. Genau. So ist es und so wird’s bleiben, was ja zudem etwas Verläßliches hat.

In Eduardo Lagos Roman mit dem listig verrätselten Titel Brooklyn soll mein Name sein wird über alles Mögliche berichtet, es geht vor und zurück, ohne dass der Autor eine Zeitebene favorisiert. Auch das Böse spielt eine Rolle, versteht sich, es findet, geübt wie es nun mal ist, fast überall Asyl, ohne das langwierige Prüfverfahren eingeleitet werden müßten. Das namengebende Brooklyn spielt eine Rolle, die stadtteilübergreifend ist; hier laufen die Fäden in der Oakland Bar zusammen, die von versierten Verlierern, Vergessenen und Aufbegehrenden bevölkert wird. Man raucht und trinkt, versinkt in abgewetzten Träumen, versucht einer Zukunft näherzukommen, die sich aber, das darf als sicher gelten, niemals einer jener Wirklichkeiten anverwandelt, mit denen wir es in unseren diversen Normalbereichen zu tun bekommen. Lagos Roman, mit dem er im zarten Alter von 50 so eindrucksvoll debütierte, dass man ihm gleich zweimal mit gewichtigen spanischen Literaturpreisen behängte, erlaubt sich als Autor einen Kunstgriff, der nicht ganz neu ist, von ihm aber so gekonnt angewandt wird, dass er wie neu wirkt. Er lässt seinen eigentlichen Helden Gal Ackerman früh, sehr früh sterben, worauf ein junger Freund namens Ness sich aufgefordert sieht, weiterzumachen; er ergänzt und rekonstruiert Gals Aufzeichnungen, die in einem hektischen Schreibleben entstanden sind, das, gerade weil es im Grunde einer einzigen verschollenen Leserin gilt, keinen Aufschub duldet. Ness, an sich ein eher abwartender Charakter, passt sich dem an; er gerät in einen Sog, der die ohnehin nicht mehr so ganz stabilen Grundfesten seiner Existenz zu erschüttern droht. Davon kann am Anfang noch keine Rede sei; alles ist geregelt, als man Gal Ackerman an seiner Lieblingsstelle ins Grab absenkt: „17. April 1991 – Gestern Vormittag haben wir Gal beerdigt. Es musste so sein, wie in einem seiner Lieblingsgedichte, auf einem Friedhof an der Meeresküste, blankgefegt vom Wind, wo sich das Geschrei der Möwen mit dem unablässigen Anbrausen der Brandung mischt. Von seinem Grab aus überblickt man den Atlantik, wunderschön und normalerweise stürmisch, obwohl er ausgerechnet gestern ruhig vor uns lag und die blaue Fläche des Ozeans mit dem Horizont verschmolz. Alles passt; der Ort, an dem Gal Ackerman für immer ruhen soll, wurde von ihm selbst bestimmt.“ Wenig später ist es mit der Ruhe, zumindest was Ness angeht, vorbei: Gals Aufzeichnungen, die er bearbeitet, bis sie einen opulent-bruchstückhaften, ebenso einleuchtenden wie abwegigen Roman ergeben, der das Leben, dem er gilt, nachzeichnet und sich dabei doch weiter entfernt, als man es in den Bildern der Erinnerung für möglich halten konnte, setzen sich in nervöser Untergründigkeit in ihm fest. Fragen über Fragen, eigentlich geht es erst richtig los, als alles schon vorbei ist: „Gal, ist dir bewusst, welchen Tag du zum Sterben gewählt hast? Da ich dich kenne, fällt es mir schwer zu glauben, dass es reiner Zufall war (…) mit mir kannst du dieses Spielchen nicht spielen. Für alle Fälle habe ich das gleiche Datum gewählt, um dir Brooklyn zu bringen, damit wir es gemeinsam lesen können. Du warst wirklich einmalig; als du gingst, verschwand eine ganze Gattung. Ehrlich gesagt, tue ich mich schwer damit zu akzeptieren, dass du nicht mehr unter uns Sterblichen weilst.“ So ist das aber mit dem Tod mitten im Leben; es geht weiter mit all den Geschichten, den Legenden, der stillen Einverständigkeit und dem herzzerreißenden Schmerz. Nichts zu machen, auch die Erinnerung passt sich dem an, sie verweigert die Auskunft, so als ginge es letztlich, der Kollege Nietzsche lässt unfreundlich grüßen, eigentlich nur noch um den Kreislauf des Ewiggleichen, an dem alle mittun dürfen, sehr gern auch die Besserwisser, Geschäftsführer und Protokollanten.

Eduardo Lago hat einen bravourösen Roman geschrieben, der den Leser in seinen Bann zieht. Geschichten werden gewebt und verworfen, es ist wie in einer ordentlich und phantasiestark betriebenen Geisterbahn, man möchte nicht aussteigen und hat doch, weil einem das raunende Durchschauen vorgegaukelt wird, beizeiten genug von allem. Einmal in Fahrt gebracht geht es aber weiter, sogar die Notausgänge scheinen versperrt. Gut so, warum soll es um die Leser, die einer tapferen Spezies angehören, der schon bald kein Artenschutz mehr zugestanden werden kann, besser stehen als um uns andere, die mitmachen und so ganz viel nicht mehr zu sagen haben. Lago, der sich im Brotberuf (u.a.) als Literaturdozent betätigt, ist übrigens an keiner Stelle der Versuchung erlegen, das Bruchstückhafte unseres Erkenntnisbetriebs überzustrapazieren; auch dafür gebührt ihm, vor Zeugen, ein Sonderlob. Am Ende, das natürlich kein Ende sein darf, erwacht die Erinnerung noch einmal aus ihrem produktiven Schlummer und macht mit, fast wie in alten Zeiten; noch immer sollte man ihr nicht trauen, aber was sie anklingen lässt, tut uns gut: „Alle, die Teil dieser Welt waren, sind gegangen, ein ganzes Universum hat sich ausgelöscht. Die Wesen, die diese Welt einmal kraftstrotzend bewohnt haben, sind jetzt nicht viel mehr als Schall und Rauch. (…) Mitten in die Ruhe des Friedhofs fuhr aus der Ferne ein Windstoß, ein Wind, der im Vorbeibrausen alles auslöschen wollte. Und in diesem Augenblick bemerkte ich, der ich meinte, nur von Brooklyns Schatten geträumt zu haben, dass es gar keine Schatten gab, nur eine alles überstrahlende Klarheit.“
 
 
 
 

Dieser Beitrag wurde zuerst in der Schweizer „Weltwoche“ veröffentlicht.

Letzte Änderung: 28.03.2022  |  Erstellt am: 28.03.2022

Brooklyn soll mein Name sein

Eduardo Lago Brooklyn soll mein Name sein

Roman.
Aus dem Spanischen von Guillermo Aparicio in Zusammenarbeit mit Carlos Singer.
464 S., geb.
ISBN-13: 9783520624017
Kröner Verlag, Stuttgart 2021

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