Es gibt Bücher, die halten uns auf Distanz. Sie erfreuen uns mit ihrer Klugheit, Sprachkunst und mit ihrem Witz. Und es gibt andere, die ziehen uns hinein in das Geschehen, erzeugen Spannung mit halben Mitteilungen und Umklammerungspsychologie. Wir leiden und wir hoffen mit der agierenden Figur, vergessen alles um uns herum und uns selbst als Lesende. Wir sind im Kopfkino. Julia Grinberg beschreibt, wie das beim Lesen von Yuriy Tarnawskys „Warme arktische Nächte“ vor sich geht.
Ich bin keine Cineastin, und es gibt sehr wenige Filme, die ich mag. „Das weiße Band“, „Santa Sangre“ und letztens, „Warme arktische Nächte“ – obwohl das letztere ein Buch ist. Macht nichts, ich war in diesem Fall kein Leser, sondern ein mitfiebernder Zeuge.
Das Zimmer tritt hervor aus dem mit einer Kerosinlampe schwach beleuchteten Raum, wie ein Schiff aus dem Nebel. Das Licht – golden, irisierend. Tarnawsky malt die Realität mit knappen, aber genauen Strichen aus, sodass ich sie in aller Ausführlichkeit sehe, ich bin da anwesend.
Genauso langsam, aber entschieden treten die Menschen und Tiere hervor: Die Mutter, der Vater; Schwester Nora, Adek und Bodek; der Zwergelefant und die Giraffen; die Requisiten (die weiße Parkbank, die Fotos, das cremefarbenes Auto, das gerade serviertes Essen).
Wichtig: Auch nicht Ausgesprochenes nähert sich dem Betrachter. Was nicht benannt werden kann/darf, wird mir anhand seiner haarscharfen Umrisse gezeigt, so wie Scherenschnitt von den Auslassungen lebt. Tarnawsky nimmt all die Schätze aus seiner Gedächtnisschatulle behutsam heraus und breitet sie vor uns aus.
Doch es lauern auch Monster. Dreißig Jahre lang trägt Tarnawsky die Last schrecklicher Ereignisse mit sich herum. Dreißig Jahre lang versucht er vergeblich, diesen Roman zu schreiben. Bis er auf die Idee kommt, sich selbst Fragen zu stellen. So wird der Roman zum Interview mit der eigener Kindheit, Befragung des damaligen Jungen über alles, was in ungefähr zehn Jahren geschah, vor und während des Zweiten Weltkriegs. Eine Autobiografie ist es nicht, stimmt aber größtenteils überein, sagt der Schriftsteller.
Also die Fragen. Es sind eher Sätze, die sich an der Schwelle zwischen Fragen und Behauptungen befinden, und wie kann es auch anders sein – in dem Roman verschmelzen Erinnerung und Erschaffen der Vergangenheit durch Benennung. Tarnawsky schreibt ja nicht „Tanzten Vater und Mutter?“, nein, er schreibt „Vater und Mutter tanzten?“, als ob er sich nicht ganz sicher wäre, aber fast um jeden Preis sich mit der Frage überzeugen wollte: Ja, sie tanzten! Sie tanzten, sie „zogen komplexe unbegreifliche Muster auf dem Fußboden nach“.
Der Erzähler ist ein zartbesaiteter Junge, der – am liebsten unter dem Bett der Eltern eingeklemmt – sein eigenes ist ja zu hoch – seine Geschichten erfindet. Gnome wecken die Zeit in Gläser ein und bekämpfen einen Drachen, ein erträumter Bruder, dem der Junge Essen und Kleidung auf dem Wasserweg schickt (in den Bach legt, der Bach soll es zum Fluss bringen, der Fluss zum Ozean, da wartet der Bruder darauf). Er geht in die Pilze.
„Es war heiß im starken Sonnenlicht auf den Lichtungen, Insekten summten auf ihnen wie eine Harfe, die gezupft und in das Gras geworfen worden war und nicht aufhören würde zu erklingen…“
Er spielt am Fluss:
„Die Wellen waren klein und sie schienen geistesabwesend auf dem Sand zu brechen, wie Bewegungen, die Menschen, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit ihren Fingern machen, wenn sie nervös sind“.
Er fährt mit seiner Familie ans Meer.„Eines Tages kamen zwei Männer mit einem großen Kleiderschrank aus den Dünen. Sie waren schäbig gekleidet und ungepflegt und sahen aus wie Hobos. Sie gingen ins Wasser, ließen den Kleiderschrank hinein und schwammen neben ihm, während sie ihn vom Ufer wegstupsten. …
Die Leute sprachen tagelang darüber, und in den Zeitungen gab es Berichte darüber, aber niemand wusste, wer die Männer waren, warum sie das getan hatten und was mit ihnen geschah. …
Aber ich wusste, dass … Die Männer wollten nur den Kleiderschrank mit aufs Meer nehmen. Warum war das so schwer zu verstehen?“
Ich bin so gerne in seiner aus Wirklichkeit und Fantasien gewebten synästhetischen Welt:
„…vielleicht verwechsle ich die Reflexionen des Lichts auf dem Boden mit dem Laut des Lachens…“
Die schimmernde Welt bleibt Im ersten Teil zurück. Sie existiert nicht mehr, weil sie sich, wie jede Kindheit, auflöst und weil der Krieg sie mehrmals unter seiner Walze zerschmettert hat.
Der zweite Teil schildert die Zeit nach dem Kriegsausbruch. Der Krieg ist da, aber Routinen stehen trotzdem fest. Umzug zur Großmutter (dir erste, noch nicht richtig wahrgenommene Flucht), Schule, Weihnachten, Bücher und Speise, ja, detaillierte Erwähnung von Speisen. Hilft alles nicht, die grausame Realität ist schon angerückt. Plötzlich ist überall der Tod.
Eindrucksvoll nehmen Träume, Tagträume und tatsächliche Ereignisse der Kriegszeit nebeneinander Platz. Beobachtete Hinrichtungen, ein Albtraum und darauffolgende Krankheit münden in erhellende Berichte über religiöse Rituale, die der Junge so gerne mit Erwachsenen miterlebt und in die er begeistert eintaucht. Fischfangen, Leichenschau, vermeintliche Normalität des Todes und des Tötens – und gleichzeitig das hilflose Sträuben gegen das Ableben der Mutter, das Unvermögen, den Tod der Mutter anzunehmen.
Als Erwachsene leide ich mit, als Kind verschiebe auch ich das Akzeptieren auf nachher. (nicht zu vergessen: Effekt der absoluten Anwesenheit). Ab und zu kommen fast zufällige Begleiter, wie der weltgewandte Fotograf Pan Atravent oder die einfühlsame Lehrerin Pani Afrodyta, die dem Jungen über die Zeit helfen. Was sie nicht wissen, – sie spielen für den Jungen eine prägende Rolle. Mutter im Sterben, Vater im Krieg. Im Nu schluckt Wasser alles: sei es der weiße dünner Körper eines fremden Jungen oder fünf vom Wurf übrig gebliebenen Kätzchen.
In dem dritten Kapitel befindet er sich auf der Flucht nach Westen.
„…nach einer Weile schlief ich ein, beruhigt vom Schaukeln des Zuges, dem Klirren
der Kupplungen, das die Waggons begleitete, dem Quietschen der Federn und dem Rattern der Räder auf den Schienen.“ Der Erzähler versucht immer erfolgloser, sich vom Grauen abzuschotten, er ist nun Waise, auf der Flucht im Zug auf dem engsten Raum mit vielen anderen.
Kein goldenes Licht mehr, bloß Gleise und Schienen, Gedränge und Lärm. Die letzten sechzehn kleinen Kapitel – mal aus einem Satz, mal aus einem oder ein paar Absätzen bestehend – zeigen in Zeitlupe, wie der Junge den Zug verpasst, mit dem, was von seiner Familie verblieben ist, vor den Russen flüchtet. Ein verwaister Junge, ein Träumer steht nun auf dem Gleise, irgendwo in Ungarn, sieht den Zug, der am Horizont zu einem Punkt wird: „Und als ich wieder ruhig wurde, spürte ich, wie mir auf dem Kopf die Haare zu Berge standen“. In dem Zustand, erschüttert, mitfühlend, lässt mich der Autor am Ende des Buches.
Ein großes Kino, das Buch.
Zum Autor:
Yuriy Tarnawsky, der in Polen geboren wurde, ist ein ukrainisch-amerikanischer Schriftsteller, Dichter, Essayist, Übersetzer und Linguist. Sein Buch „Warme arktische Nächte“ ist eine weitgehend autobiografische Darstellung der ersten zehn Jahre von Tarnawskys Leben (1934–1944), die auch seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg enthält.
Im Jahr 1944 zog seine Familie nach Deutschland, 1952 wanderten die Tarnawskys in die USA aus. Yuriy schloss sein Bakkalaureat als Elektroingenieur ab, arbeitete bei IBM als Ingenieur und Kybernetiker, verfasste einige wissenschaftliche Arbeiten, legte schon damals Veröffentlichungen u.a. über künstliche Intelligenz vor.
Sein Leben lang schrieb er, übersetzte und veröffentlichte Gedichtbänder, experimentelle Prosa, überwiegend auf Englisch. Er positioniert sich klar als ukrainischer und amerikanischer Autor. 1953 gründete er die avantgardistische New Yorker Gruppe ukrainischer Diaspora-Autoren, die ihrer Zeit lange voraus war. Sein Stil ist allerdings nicht einer bestimmten Strömung einzuordnen, er hat seine eigene lebendige Sprache, die sich immer wieder neu erfindet. Die Gedichte, die ich kürzlich übersetzte, stammen aus Jahren 1960-1970. Mir ist jedoch sofort aufgefallen, dass sie keineswegs an Aktualität verloren haben. Im Gegenteil: Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine veranschaulichen Tarnawskys Gedichte die Geschichtsschleife, in die Ukraine geraten ist, und die prekäre Lage eines Landes, das immer wieder einen hohen Preis zahlen muss, oft mit den Leben seiner Besten.
Texte von Yuriy Tarnawsky waren damals sehr modern, sogar für Mitstreiter aus der New York Gruppe. Tarnawsky schrieb unbeirrt weiter, experimentierte mit der Sprache, bewegte sich zwischen den Sprachen und Gattungen und trug letztendlich dazu bei, die ukrainische Kultur nicht nur in der Diaspora zu bewahren, sondern sie zu beeinflussen, weiterzuentwickeln. Die Bedeutung dieser Mitgestaltung wird erst jetzt von zeitgenössischen Literaten erkannt.
Tarnawskys Werke wurden in ein gutes Dutzend Sprachen übersetzt, darunter Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Spanisch, Tschechisch. Er hat eine Professur für ukrainische Sprache und Kultur an der Columbia University inne.
Quellen: Wikipedia, https://muse.jhu.edu, https://experimental.fiction.com, https://experimental.fiction.com, https://tyzhden..
Letzte Änderung: 09.02.2024 | Erstellt am: 09.02.2024
Yuriy Tarnawsky Warme arktische Nächte
Aus dem Englischen von Christian Weise
184 S., brosch.
ISBN 978-3-8382-1510-5
Edition Noema. Stuttgart 2020
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