Alte Kamellen

Alte Kamellen

Axel Brüggemanns „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“
Opernhaus Odessa | © wikipedia

Der Titel des neuen Buches vom Musikkritiker Axel Brüggemann verspricht interessante Einsichten in den heutigen Musik-, insbesondere Opernbetrieb und sein Publikum. Noch verlockender klingt der Untertitel mit dem Problemlösungsversprechen: „Wie wir unsere Musikkultur retten“. Doch dieser in großen Teilen unsortierte, polemische und fehlerbehaftete Text beschreibt weder die Ist-Situation korrekt noch zeichnet er eine Idee für eine „rettende“ Zukunft, meint Andrea Richter.

Das Klassik-Publikum teilt er in zwei Lager: in „die sterbende Generation“ und „die letzte Generation“. Gleich im ersten Kapitel beginnt also der süffig zugespitzte, sich aber auf vergangenen Zeiten berufende Unfug. Erstere sind laut Brüggemann alt und unflexibel, wollen nur Barock bis Romantik hören und das in traditioneller Darbietungsweise. Zweitere sind jung, interessieren sich sowieso nicht mehr für klassische Musik, weil sie keinen Musikunterricht und damit keinen Zugang zur Materie haben. Ihr Theater findet auf der Straße statt, weil ihnen auf der Bühne nichts gezeigt wird, was sie ansprechen oder berühren könnte. So einfach ist das also.

Vielleicht in den von Brüggemann für seine Beweisführung angeführten Bastionen der Tradition wie den Staatsopern München, Berlin oder Wien respektive die Met in New York. Aber selbst dort werde inzwischen vorsichtig Richtung Moderne gedacht, gibt er selbst zu. Diese vermeintlichen Flaggschiff-Häuser können jedoch sowieso nicht, wie Brüggemann es macht, als repräsentativ für den Opernbetrieb insgesamt genommen werden. Denn in den insgesamt 120, durch die öffentliche Hand subventionierten deutschen Musiktheatern wird Oper aller Art vom Barock bis heute präsentiert. Unter anderem deshalb, weil die „sterbende Generation“ 20 und mehr Jahre Schulung durch die Programm- und Spielplangestaltungen kluger Dirigent:innen, Intendant:innen und Regisseur:innen hinter sich hat und dadurch beim Zeitgenössischen angekommen ist. Vor allem haben die Ü50er in der Regel noch mindestens 20 Musik-Lebensjahre vor sich. Und da möchten sie, anders als Brüggemann es wahrnimmt, nicht durch ewig gleiches Repertoire gelangweilt werden.

Brüggemann behauptet, dass korrelierend mit dem Alter des Publikums das Alter der Macher einhergeht und damit der Geschmack beider. Intendant:innen (jung wie alt), selbst wenn sie gern etwas Ungewöhnliches (Moderneres) wagen würden, litten unter der Knute der Finanzen und damit der möglichst hohen Sitzplatzauslastung und müssten schon deshalb nur auf Publikumsrenner von Mozart, Verdi oder Bizet setzen. Falsch! Die richtige Mischung macht’s.

Frankfurt beispielsweise ist schon bisher unter den großen Häusern der Spitzenreiter bei Uraufführungen von Zeitgenössischem, oft unter Mitwirkung des auf die Moderne spezialisierten Orchesters Ensemble Modern. Und das Publikum blieb keineswegs weg. Seit dieser Spielzeit 2023/24 ist der gerade 30 Jahre alte Thomas Guggeis neuer Generalmusikdirektor. Er hat angekündigt, dass zeitgenössische Musik während seiner Amtszeit eine immer wichtigere Rolle spielen wird. Die neue Macher-Generation ist da.

Auch beim Publikum hat sich etwas verändert: Durch die Corona-Epidemie ist auch in Frankfurt der Verkauf von Abonnements an meist ältere Menschen zurückgegangen, dafür stieg der des (oft spontanen) Kassenverkaufs. Und es scheint, so der Eindruck vieler (belastbares Zahlenmaterial gibt es nicht, aber die Schlangen an den Kassen und ein Blick durch den Zuschauerraum zeigen es deutlich), dass der Altersdurchschnitt zumindest in Frankfurt spürbar gesunken ist.

Brüggemann beschreibt ausführlich die moralische Verkommenheit hinter den Bühnen, nennt die Fälle von Gustav Kuhn (ehemaliger Leiter der Festspiele Erl in Tirol), Placido Domingo oder James Levine. Alles alte Kamellen, längst aus- und medial breitgetretene Schuhe! In einem gerade erst erschienenen Buch hätte er den Ist-Zustand beschreiben müssen und der sieht (insbesondere seit #meetoo) inzwischen nun einmal anders aus! Es gab an der Oper Frankfurt vor ein paar Jahren einen Zwischenfall mit einem betrunkenen Choristen, der während einer Probe neben einiger Randale auch eine junge Kollegin begrapschte. Er flog sofort raus. Die #metoo-Bewegung hat den klassischen Musikbetrieb insgesamt gründlich gereinigt. Das Argument, das Publikum wolle den Widerspruch zwischen dem Schönen, Wahren, Guten auf der Bühne und moralisch bedenklichen Zuständen dahinter insgesamt nicht länger hinnehmen, stimmt nicht, weil es ihn in der beschriebenen Form nicht (mehr) gibt. Und früher hat ihn (bis auf Betroffene) niemand interessiert.

Überhaupt spielen Frauen in Leitungspositionen, anders als behauptet, eine zunehmend und spürbar wichtige Rolle. Sieben von insgesamt elf Neuproduktionen der Oper Frankfurt stehen beispielsweise in der aktuellen Spielzeit in der Verantwortung von Regisseurinnen. Heutige Inszenierungen, egal ob die von Frauen oder Männern, zeichnen sich, wie viele Opern übrigens selbst (auch Mozart, Verdi, Wagner!), durch ein hohes Maß an kritischer Betrachtung gesellschaftlicher und politischer Zustände aus und sind alles andere als gestrig. Das heißt, dass das die Macher:innen des Musiktheaters, der wohl umfassendsten Kunstform, sich, anders als vom Autor behauptet, sehr wohl in der Pflicht sehen, die Bühne für die Darstellung von der und den Dialog über die Gesellschaft intensiv und dem Zeitgeist entsprechend nutzen. Allerdings steht in dieser Spielzeit keine Dirigentin auf dem Pult vor dem Orchester. Sie sind, da hat Brüggemann Recht, insgesamt noch unterrepräsentiert.

An dem gesamten Buch erscheint nur ein Punkt richtig, schlüssig und bedenkenswert: Die bessere Nutzung kostengünstiger Streaming-Möglichkeiten und einer damit einhergehenden Veränderung von Produktionen. Dadurch könnten neben den analogen Zuschauern auch Netzzuschauer gewonnen werden, was insbesondere den Gewohnheiten junger Menschen entgegenkäme. Ein gemeinsames Streaming-Portal aller Opernhäuser wäre eine Lösung!

Ansonsten scheint das Buch lediglich (liederlich) geschrieben worden zu sein, um Brüggemanns eigenen Podcast-Kanal zu promoten.

Letzte Änderung: 17.12.2023  |  Erstellt am: 17.12.2023

Die Zwei-Klassik-Gesellschaft | © wikipedia

Axel Brüggemann Die Zwei-Klassik-Gesellschaft

Wie wir unsere Musikkultur retten
248 S., geb.
ISBN-13: 9783962511593
Frankfurter Allgemeine Buch, Frankfurt am Main 2023

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