Albert Ehrenstein und die Erzählung „Tubutsch“

Albert Ehrenstein und die Erzählung „Tubutsch“

Gedanken zu einer vergessenen Schrift
Albert Ehrenstein | © wikimedia commons

Volker Wackerfuß teilt seine Gedanken zu der Kurzerzählung “Tubutsch” von Albert Ehrenstein (1886-1950) und beschreibt wie die vergessene Schrift die literarische Ära des Expressionismus im deutschsprachigen Raum einleitet und Ausdruck einer jungen Generation ist, die gegen das Bestehende aufbegehrt. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind erdrückend, und für Tubutsch müssen sich die Zustände ändern. Er schlendert durch die Großstadt Wien ohne jegliche Ziele und läßt den Leser an seiner trostlosen und sinnentleerten Welt teilhaben.

Albert Ehrenstein, geboren in Wien im Jahre 1886, in der Österreichischen-Ungarischen Monarchie, hat ein vielfältiges literarisches Werk verfasst. Bereits vor seinem Abitur 1905 beginnt er sich literarisch zu verwirklichen. Ehrenstein, deutschsprachiger Jude, nimmt 1905 an der Universität Wien das Studium auf. Bereits nach 5 Jahren erfolgt die Promotion in Geschichte. Im selben Jahr, 1910, veröffentlicht er zum ersten Mal ein Gedicht, das Gedicht „Wanderers Lied“ in der Zeitschrift „Die Fackel“ von Karl Kraus (1874-1936). Es ist seine erste Veröffentlichung. Es folgen zügig weitere Veröffentlichungen von ihm in den damals angesagten Zeitschriften, wie zum Beispiel: „Die Fackel“, „Der Sturm“, „Die Aktion“, „Saturn“. In der Literatenwelt wird Ehrenstein schnell bekannt. Und – es ist zugleich die Zeit der beginnenden Ära des Expressionismus.

Auch wenn in der heutigen Zeit das Werk von Albert Ehrenstein zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, wird mit seinem Namen sofort „Tubutsch“ in Verbindung gebracht. „Tubutsch“ ist eine expressionistische Erzählung. Diese schmale Erzählung erscheint im Jahre 1911im Wiener und Leipziger Verlag Jahoda & Siegel. Diese erste Auflage erscheint mit 12 Zeichnungen von Oskar Kokoschka (1886-1980). Die zweite Auflage erscheint 1914 beim Münchener und Leipziger Verlag Georg Müller, und die dritte Auflage 1919 bei der renommierten Insel-Bücherei in Leipzig. Mit „Tubutsch“ wird Ehrenstein im deutschsprachigen Raum bekannt. Mehr noch, Ehrenstein steht am Anfang dieser neuen literarischen Bewegung, da er zu einem der bedeutenden Expressionisten wird.

Es existiert sogar die Vermutung, Ehrenstein habe bereits im Jahre 1908 diese Erzählung geschrieben. Wenn dem so wäre, dann hätte er im jungen Alter von gerade 21 Jahren einen der wichtigsten Texte des Expressionismus geschrieben. Auf jeden Fall setzt er sich mit „Tubutsch“ an die Spitze des beginnenden literarischen Expressionismus. Es ist ein Buch, welches von der damaligen Jugend mit großer Begeisterung aufgenommen wird. Ehrenstein spricht das Lebensgefühl vieler Jugendlicher und junger Literaten an, beziehungsweise drückt jenes aus. Die Erzählung beginnt mit: „Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze …“, der übernächste Satz lautet: „Um mich, in mir herrscht die Leere, die Öde, ich bin ausgehöhlt und weiß nicht wovon.“ Und dann: „Ich sehe nur die Wirkung und Folge; daß meine Seele das Gleichgewicht verloren hat, etwas in ihr geknickt, gebrochen ist, ein Versiegen der inneren Quellen ist zu konstatieren. Den Grund davon, den Grund meines Falles vermag ich nicht einmal zu ahnen, das Schlimmste: ich sehe nichts, wodurch in meiner trostlosen Lage eine wenn auch noch so geringe Änderung eintreten könnte.“ Sowie: „Die Tage gleiten dahin, die Wochen, die Monate. Nein, nein! Nur die Tage. Ich glaube nicht, daß es Wochen, Monate und Jahre gibt, es sind immer wieder nur Tage, Tage, die ineinanderstürzen, die ich nicht durch irgendein Erlebnis zu halten vermag.“ Derartige Sätze von Selbstreflexion sind immer wieder in der Erzählung zu lesen. Ehrenstein beschreibt eine gewisse Sinnlosigkeit. In der Erzählung erzählt Tubutsch von seinen Begegnungen mit Menschen oder mit Dingen. Tubutsch versucht, ihnen einen Sinn zu geben, beziehungsweise den Sinn in ihnen zu erkennen. Dennoch bleibt die Welt öde, sinnlos, verloren.

Tubutsch ist ein Wanderer, ein Flaneur, ein Einsamer, der durch Wien schlendert. Ohne Ziel lässt er sich durch die Straßen und Gassen von Wien treiben. Vielleicht könnte sogar Lebensüberdruss konstatiert werden. Auf jeden Fall hat er viel Spott für die Gesellschaft und für die Bürger übrig. Und – Tubutsch ist auch ein Rebell, denn mit den bestehenden Zuständen ist er nicht einverstanden. Ehrenstein gelingt es mit dieser Erzählung, zeitlich sehr früh, die individuelle Gefühlslage und das Weltempfinden einer stetig größer werdenden feinfühligen und rebellischen Jugend im deutschsprachigen Raum zum Ausdruck zu bringen. Dieser Tubutsch und jene Jugendlichen, ebenso junge Literaten und die Expressionisten haben das Verlangen, das Bedürfnis nach Veränderung. Die Zustände sind nicht mehr zu ertragen. Die Zustände müssen sich verändern.

Mit der Erzählung „Tubutsch“ entwickelt Ehrenstein einen Schreibstil, der neuartig ist und als charakteristisch für ihn bezeichnet werden kann. Dieser zeichnet sich teilweise durch Humor, mehr durch Spott und durch das Lächerlich-Machen von Begebenheiten aus. Er benutzt zum Teil die Satire und das Groteske um die Gesellschaft zu entblößen. Mittels der Sprache gelingt es ihm, die vorherrschenden bürgerlichen Übereinkünfte, Bräuche und Förmlichkeiten in den Bereich der Unsinnigkeit zu führen, beziehungsweise zu überführen. Zugleich ist die Sprache aber auch sehr nachdenklich, gefühlstief. Die Darstellung der inneren Zerrissenheit wird immer wieder gekonnt dargestellt. Die Existenz wird in Frage gestellt. Ehrenstein formuliert einen Weltschmerz und zugleich die Auflehnung gegen das Gesellschaftliche, gegen das Erstarrte. Die Luft zum Atmen ist erschwert. „Tubutsch“ ist einerseits eine Erzählung, die die Lebensunsicherheit einer Generation widerspiegelt, und andererseits den Wunsch, das Sehnen, das Hoffen nach einem anderen Leben zur Sprache bringt. Bei Tubutsch selbst ist keine Todessehnsucht festzustellen, obgleich bei einigen Schriftstellern und deren junger Leserschaft Todessehnsucht damals vermehrt in den Lebensfokus rückt.

Die Erzählung erscheint zu einer Zeit, in der die kaiserlich-königliche Monarchie in Österreich-Ungarn noch existiert. Die Spannungen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen nehmen jedoch zu. Künstler thematisieren vermehrt die vorhandenen Moralvorstellungen und die erdrückende Spießigkeit. Die Gesellschaft ist zusehends erstarrt. Die literarische Bewegung des Expressionismus entwickelt sich zu einer Protestform gegen das Bestehende. „Tubutsch“ ist auch eine Erzählung, in der die Realität teilweise zerfällt, in dem Sinne, dass die Wirklichkeit zunehmend ihren Sinn verliert. Die vorhandenen Werte werden bedeutungslos. Gerade die expressionistischen Schriftsteller zeigen die Entfremdung und die Unmenschlichkeit des Daseins auf. Bei Ehrenstein erfolgt dies zu einer Zeit, in der die Moderne um sich greift und gleichzeitig der Verwesungsvorgang der Monarchie beginnt. Die Gesellschaft befindet sich in der Auflösung, die Monarchie und deren Strukturen sind dem Verfall anheimgegeben. Zugleich verfällt auch die individuelle Welt von Tubutsch, der jedoch kein Verzweifelter ist. Vielmehr ist er ein Held, ein einsamer Held, aber er verfällt nicht in die Hoffnungslosigkeit. Die Erzählung ist eine Schrift des Aufstandes. Tubutsch protestiert, er ist dem Leben gegenüber geöffnet, zugewandt. Er gibt nicht auf. Obgleich er sich als Außenseiter, möglicherweise sogar als Ausgestoßener erfährt. Tubutsch ist auch Ausdruck jenes Lebenswillens, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Bewegung des Vitalismus und der Lebensreformbewegung kundtut.

Ehrenstein beschreibt seinen Hauptdarsteller in einer eigentlich handlungsarmen Erzählung. Es ist ihm viel wichtiger, und dies ist auch ein Charakteristikum des beginnenden Expressionismus, die Gefühlswelt widerzugeben. Das Lebensgefühl ist wichtig. Expressionismus thematisiert das Innere. Expressionismus bringt das Innere nach Außen. Tubutsch berichtet, was er erlebt, was ihm wichtig ist. Tubutsch erzählt allein von sich selbst. Hinter den Beschreibungen von Tubutsch existiert ein einziger Schrei, ein Schrei gegen die Gesellschaft. Die gesellschaftlichen Zustände stellen eine nicht mehr erträgliche Wirklichkeit dar. Diese Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft wird in einer oft spöttischen Sprache zum Ausdruck gebracht. Auch kommt es gelegentlich zu einer Übertreibung und zu einem Gefühlsüberschwang. Ehrenstein beschreibt wie Tubutsch immer wieder Erlebnisse hat, die er als seltsam empfindet. Und diese Begegnungen werden von Tubutsch mit kuriosen Überlegungen bedacht. Ehrenstein setzt eine andere, eine neue Sprachästhetik ein.

Ehrenstein ist ein Gegner jeglichen Militarismus und von Anbeginn ein Kritiker des 1. Weltkrieges. Er teilt nicht die Kriegseuphorie wie es zunächst einige seiner expressionistischen Schriftstellerkollegen tun. Er ist ein grundlegender Pazifist. Die Antikriegsposition spiegelt sich auch in dem 1916 veröffentlichten Gedichtband „Der Mensch schreit“ wider. Ehrenstein erkennt auch zeitig die Gefahren des Nationalsozialismus in Deutschland. Er begibt sich zunächst 1932 in die Schweiz. Seine Erzählung „Tubutsch“ wird 1933 in Deutschland öffentlich verbrannt. Sein Gesamtwerk wird verboten. 1941 gelingt es ihm, eine Bewilligung für die Einwanderung in die USA zu erhalten. Bis zu seinem Tod lebt er dort in ärmlichen Verhältnissen. Nach der Beendigung des zweiten Weltkrieges sucht er noch einmal im Jahre 1949 Deutschland und die Schweiz auf. Aber kein Verleger hat an ihm und an seinem Werk irgendein Interesse. Er kehrt enttäuscht in die USA, nach New York zurück. Er lebt noch kurze Zeit, verarmt und vergessen. Ehrenstein stirbt vereinsamt. Er stirbt 1950 in einem New Yorker Armenhospital. Es ist geboten, ihn und sein Werk der Vergessenheit zu entreißen und einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen.

Letzte Änderung: 02.10.2024  |  Erstellt am: 02.10.2024

Tubutsch | © Foto: Nautilus/Nemo Press

Anmerkung: Es wurde die Ausgabe „Tubutsch“ benutzt, die als Gemeinschaftsproduktion der Verlage Nautilus/Nemo Press (Hamburg) und Edition Moderne (Zürich) als 1. Auflage 1986 erschien

Der überwiegende Teil des Nachlasses der Handschriftensammlung von Albert Ehrenstein befindet sich in der „Jewish National and University Library Jerusalem“

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Kommentare

Elke Thorpe schreibt
Was für ein interessanter Artikel! Nach dem Lesen des ersten Zitates im dritten Paragraphen - Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…- war mir klar, dass ich diese Erzählung unbedingt lesen muss. Was für eine faszinierende Einführung in das Leben von Tubutsch - ich will ganz einfach mehr über ihn erfahren. Die weiteren Ausführungen von Volker Wackerfuss zu der Erzählung, ihre Einbindung in den historischen Zusammenhang, die Erklärung des Begriffes expressionistische Literatur und die biographischen Informationen zu Albert Ehrenstein, von dem ich noch nie gehört hatte, haben mein Interesse an dieser Erzählung verstärkt. Ein herzliches Dankeschön für interessante Leseminuten.
Dr. Siegfried Männer schreibt
Schön, dass hier Albert Ehrenstein gedacht wird, er hat die "Entdeckung" verdient. Wer sich auf ihn einlassen will, hier ist die Werkausgabe aus dem Boer-Verlag zu abzugeben, komplett und Hardcover in fünf Bänden. Über den Preis wird man sich schon einig. Bitte, per Mail anschreiben.

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