Unhöflichkeit schlicht unter der Rubrik ‚Schlechtes Benehmen’ abzuhandeln, reicht nicht. Denn Unhöflichkeit, also der unfreundliche Umgang mit anderen, schlägt der erstrebten Empathie ins Gesicht. Das aber erlebt man nicht nur mit omnipotenten Jungs auf der Straße, sondern vor allem in der eigenen Familie. Solche Erfahrungen hat die britische Autorin Rachel Cusk zu erzählenden Essays verdichtet, die Otto A. Böhmer zu schätzen weiß.
Wenn Schriftsteller*innen ihre werthaltige Person durchmessen, was gern im Kreisgang endet, aus dem sich aber allemal ein Stück Prosa herstellen läßt, das Betroffenheitszwecken dient und, wenn’s denn schlecht läuft, auch noch Fortsetzungsschriftgut abwirft, ist Vorsicht angebracht. Nicht alles, was gesagt werden muß, mußte gesagt werden; einfache, fast vornehm zu nennende Zurückhaltung hätte es auch getan.
Das weiß man am besten hinterher oder, in der beliebteren Variante, eigentlich gar nicht. Es geht aber auch anders. Als 2017 der feine Roman Transit erschien, hieß es in einer Rezension (Wiener Zeitung v. 4.6.2017): „Rachel Cusks ebenso kluges wie unterhaltsames Buch geht bemerkenswert zurückgenommen zu Werke. Die Einlassungen der Autorin (Jg. 1967), gebürtige Kanadierin mit Wohnsitz in England“ und Paris „beschränken sich aufs Nötigste, was umso erstaunlicher anmutet, da Faye, die Ich-Erzählerin des von Eva Bonné vorzüglich übersetzten Romans, Schriftstellerin wie Rachel Cusk ist. Sie hätte also mehr als genug zu sagen, wenn sie denn wollte. Will sie aber nicht, das Reden überläßt sie anderen.“
Heute, zwei, drei Bücher später, da ein neues, eher schmales Werk von Cusk erschienen ist, übertragen wiederum von der noch immer vorzüglichen Eva Bonné, ergreift die Autorin das Wort und mischt sich ein, ohne dass man es mitbekommen muß. Coventry ist ein Essayband, der sich mit Liebeserklärungen zurückhält, dafür jedoch Ärgernisse benennt, für die man vor allem die Anderen braucht, die sich ohnehin als unverzichtbar erwiesen haben. Die Zeit, mal schleichender Begleiter, dann wieder hektisch agierender Stalker, tut ein übriges. Die Dinge sind unangenehmer, als man glauben wollte. Hinzu kommen auch familiäre Ballaststoffe. Cusk hat geheiratet und zwei Töchter zur Welt gebracht, die, so scheint es, gleich nach der Geburt den langen Marsch in die Pubertät angetreten haben. Der Mann an ihrer Seite gibt sich Mühe und ist auf seine Art lieb. Aber ob’s reicht? Es reicht nicht. Inzwischen wohnt die Autorin mit Töchtern an der Küste, wo es enge, langgezogene Straßen gibt, die bevorzugt von überforderten älteren Mitbürger*innen befahren werden. Für sie wurde einst der Bestseller Die Entdeckung der Langsamkeit erdacht; nun ist es zu spät. Cusk gerät bei Gelegenheit außer sich, bleibt dabei aber verdächtig sachlich: „Vermutlich könnte ich, wenn ich zu Fuß ginge, statt zu fahren, Kontakt zu meinem jüngeren Ich und zu einer längst vergessenen Wahrheit aufnehmen; aber die Entscheidung würde fast bedeuten, die Tatsache der eigenen Existenz zu wichtig zu nehmen.“
Rachel Cusk widmet sich zudem einem expandierenden Phänomen unserer Zeit, der Unhöflichkeit, die auf Mitwirkung der Anderen besonders angewiesen ist. Um einen herum entdeckt man jede Menge unhöfliches Personal, mit dem man gar kein Gespräch anfangen muß, um festzustellen, wie unhöflich es ist. Das wird bei Gelegenheit allerdings, gleichsam aus Versehen, aufgebrochen; dann kann es sein, dass Sturheit sich in ihr Gegenteil verkehrt und die Beteiligten sich in herzlicher Ratlosigkeit anlächeln, bis sich auch hier die bewährte Frage stellt: Wie geht’s denn weiter mit uns? Mit den Töchtern geht’s sowieso weiter, wie Cusk feststellen darf; vorhersehbare Überraschungen sind an der Tages- und Nachtordnung und sorgen für schlechte Laune, die nah an der Depression hockt. „In der Küche türmen sich schmutzige Teller, angebissene Lebensmittel und leere Verpackungen. Das Badezimmer ist ein Sumpf aus nassen Handtüchern, umgekippten Flaschen und zerknüllten Kosmetiktüchern mit Make-up-Resten. Der Nagellackgestank im Obergeschoss ist so stark, dass er ein Pferd umhauen könnte. Ich räume auf, ganz langsam. Ich öffne alle Fenster.“
Charakteristisch für Rachel Cusks Erzählkunst sind verdichtete Momentaufnahmen, in denen das, was zu sehen und zu bedenken ist, für sich selber spricht. Die aufdringliche Zeit will es noch einmal wissen und putzt sich heraus; in den Erklärungen, die sich daraus ableiten lassen, haust, bis auf Widerruf, das uns zustehende Glück. Transit brachte das vergleichsweise umstandslos auf den Punkt: „Hinter den Fenstern glimmte ein fremdartiges Untertagelicht, das von der Nacht kaum zu unterscheiden war. Ich nahm eine Veränderung wahr, tief unter der Oberfläche aller Dinge, und dachte an die Erdplatten, die blindlings ihre schwarzen Bahnen ziehen.“ In Coventry braucht die noch immer großartige Rachel Cusk für den Aufruf ihrer Wahrheit etwas länger; kein Wunder, ist sie doch, wie wir alle und allen Unhöflichkeiten zum Trotz, ein klein wenig älter geworden. Das Sekunden- und Minutenkonzentrat verschiebt sich, so wie es altgediente Jahreszeiten tun, an denen man sich unaufgefordert zu schaffen gemacht hat: „Der Winter kommt. Die Tage sind kurz und fahl, das zurückgezogene Meer liegt da wie bewußtlos. Leise werfen sich die kalten, silbrigen Wellen auf den Kiesstrand. Die langen, sternklaren Nächte bringen Frost, die überfrorenen Pfützen auf der Straße erinnern an kleine, zerschlagene Spiegel. Wir schlafen viele Stunden am Stück, Menschen gleich, die sich von einer Operation erholen. Der Schmerz ist schneidend, doch im Dämmerzustand der Genesung verschwindet er oftmals unbemerkt. Eines Tages ist er nicht mehr da und hat eine seltsame Leere in der Erinnerung hinterlassen, den Nachgeschmack eines rätselhaften Übergangs, als wäre der Mensch, der gelitten hat, nicht mehr ganz identisch mit dem, der jetzt geheilt umherspaziert. Ein weiteres Unterabteil ist entstanden, ein Raum für Krimskrams, verirrte Erfahrungsfragmente und Fragen, auf die es nie eine Antwort gab.“
Letzte Änderung: 24.07.2022 | Erstellt am: 24.07.2022
Rachel Cusk Coventry
Essays. Aus dem Englischen von Eva Bonné.
160 S., geb.
ISBN-13: 9783518225318
Suhrkamp, Berlin 2022
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