Abschied auf dem Bahnhof

Die Schicksale von über 50 jüdischen Kindern, die jetzt als betagte Menschen in Amerika leben, hat die Journalistin Renate Hebauf recherchiert und aufgeschrieben. Über die Flucht und schließliche Rettung hinaus hat sie die Lebensläufe, in denen die frühen Erlebnisse ihre Spuren hinterließen, verfolgt. Bärbel Lutz-Saal stellt das Buch vor.

Das Buch „Du wirst nach Amerika gehen“ widmet sich einem Kapitel der Verfolgung jüdischer Familien in der Nazizeit, das unter dem Grauen des Holocaust oft zu oberflächlich gesehen wird. Wie der Untertitel sagt, behandelt es die Flucht und Rettung unbegleiteter jüdischer Kinder aus Frankfurt. Aber mit den Lebensläufen von über 50 Kindern, beginnend in der behüteten, familiären Umgebung und endend bei den be-tagten, ehemaligen Kindern in den USA, entrollt sich mit den dramatischen Fluchtwegen dieser Kinder die ganze Zeitgeschichte. Der Begriff „Rettung“ wird in seiner Zwiespältigkeit relativiert. In dieser Konsequenz wurde das Schicksal der auf die Flucht geschickten Kinder noch nicht betrachtet.

Die Dichte der Beschreibungen beeindruckt. Einzelne Lebensläufe werden genau beschrieben, von der Geburt, die oft behütende familiäre Umgebung der Kinder, ihr unverständlicher Abschied in die Verschickung, ihre langen Fluchtwege, die Schwierigkeiten der immer wieder unerwarteten Neuanfänge und die anfänglichen Schwierigkeiten, überhaupt in die USA zu kommen. Und dort das Konzept der Amerikanisierung durch die Aufnahme in überzeugt amerikanisch-jüdische Familien.

Dank der oft schwierigen Kontakte mit den ehemaligen Fluchtkindern und deren heutigen Familien, durch die vielen Dokumente und persönlichen Zeugnisse, die die Autorin ausfindig gemacht hat, kommt eine hohe Emotionalität in die Beschreibungen. Alle die Fragen, die man sich stellt: Wie war der Abschied auf dem Bahnhof? Was bewirkt eine solche abrupte Trennung? Schuldzuweisungen an die Eltern aus Not an Erklärungen. Ein den Aufbruch der teils sehr jungen Kinder schildernder Brief der erfahrenen Betreuerin und Retterin Martha Wertheimer beschreibt an den zurückbleibenden Spielsachen eindrücklich die Tragödie.

Renate Hebauf betont die unbekannte Rolle der Quäker und ihren Willen, den Kindern zu helfen, ebenso wie die Heimgründungen des OSE (Œuvre de secours aux enfants) in Frankreich, die den Kindern eine liebevolle Unterkunft boten, in der sie auch ihre jüdischen Traditionen leben konnten. Bis mit dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich die damit verbundenen, erneuten Fluchten mit dem erneuten Auseinanderreißen der Beziehungen begannen.

Eindrücklich werden die Versuche in Tagebuchaufzeichnungen beschrieben, Heimaten und Beziehungen aufzubauen und wieder und wieder deren Abbrüche. Interessant ist auch, wie viele der inzwischen in den USA Herangewachsenen am Kriegs-ende in die Armee eintraten und ihre Beschreibungen und unterschiedliche Bewertungen über die Nachkriegsdeutschen. Und dann das wichtige Kapitel im Epilog, das sich den Fragen widmet, die sich immer wieder stellen: „Trauma und Erfolg“ mit so aufschlussreichen Sätzen wie der von Ernst Valter „ … alles fiel mir leicht, was nicht emotional war…“ oder die Gedanken der Geflüchteten über Schuld und Glück.

Besonders in den authentischen Äußerungen der Fluchtkinder überraschen deren Reflektiertheit und ihr Ehrgeiz, es zu schaffen, erfolgreich zu sein. Ein Erfolg, der zu großen Teilen darauf basiert, dass sie gegen große Widerstände heranwachsen und für sich und gegen ihre Schicksale kämpfen mussten.

Sorgfältig recherchiert und geschrieben, erschließt sich die ganze Dramatik der einzelnen Kinderschicksale. Fragen, die aufkommen könnten, werde bedacht – neben den inhaltlichen auch formale, von Abkürzungen, über die Kurzbiografien, um nochmal nachzulesen, bis zu Aufzählung der Quellen und Recherchen.
 
 
 
 

Bärbel Lutz-Saal
Früher Redakteurin der ZDF-Redaktion „Kleine Reihen-Familienprogramm“, heute im Ruhestand. Sie ist engagiert in der „Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main“.

Letzte Änderung: 07.09.2022  |  Erstellt am: 03.09.2022