Kurzeck in Calw

Kurzeck in Calw

EINE ERINNERUNG
Rathaus Calw | © Wikipedia User: Silesia711

Rudi Deuble ist beim Frankfurter Verlag Schöffling & Co. Herausgeber des Nachlasses des Kultautors Peter Kurzeck, zuletzt erschien in dieser Reihe „Frankfurt – Paris – Frankfurt“ (2024). Im folgenden Text berichtet Deuble von Kurzecks Stipendiumsaufenthalt in Calw, wo es geradezu typische Kurzeck-Abenteuer gegeben habe, wobei der Koffer bei diesen Abenteuern stets eine wesentliche Rolle spielte.

Im Herbst 2007 war Peter Kurzeck Stipendiat der Hermann-Hesse-Stiftung in Calw. Wie fast immer, wenn er irgendwo für ein paar Monate ein Stipendium hatte, holte ich ihn in Uzès mit all seinen Sachen ab, umfangreichen Manuskriptkonvoluten, mehreren Kartons mit CDs, seiner elektrischen Schreibmaschine und was er sonst noch so brauchte, und brachte ihn nach Calw. Die Stipendiatenwohnung lag unterm Dach eines im 70er-Jahre-Stil erbauten Neubaus, direkt hinter dem Geburtshaus von Hermann Hesse, und hatte große Fenster mit Blick auf die Stadt und die steil aufragenden Hänge, Calw liegt ja eng und tief eingeschnitten im Nagoldtal. Im gleichen Haus wohnte auch der Besitzer oder Pächter vom nahen Café Wendland. Jedes Mal, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten, sagte der zu Peter: „Mir henns doch gut.“ An den Wochenenden hab’ ich ihn ein paarmal von Nagold aus besucht, wir gingen dann immer in eine italienische Cafébar am Markt (die’s nicht mehr gibt), weil dort ein großes schwarz-weiß-Poster neben der Theke hing, das Peter gut gefiel. „So sahen die Cafés in Paris aus, als ich 1959 zum ersten Mal dort war.“

2007 war ein besonderes Jahr für Peter Kurzeck. Gerade war Oktober und wer wir selbst sind erschienen, der vierte Band seiner autobiographisch-poetischen Romanreihe Das alte Jahrhundert und hatte, wie immer, sehr gute Presse. Vor allem aber seine Erzähl-CD Ein Sommer, der bleibt brachte nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern verkaufte sich auch sensationell und so stiegen mit einem Mal auch die Verkaufszahlen all seiner bisher erschienenen Bücher. Ständig fuhr er zu Lesungen. Und immer mit dem Zug zurück nach Calw. Auch am 30. Oktober. Frühmorgens war er von Bremen nach Frankfurt gekommen, hatte dort kurz Halt gemacht, fuhr weiter mit einem verspäteten ICE nach Karlsruhe, der dann auch noch wegen einer Fliegerbombe umgeleitet wurde.

Auf der letzten Strecke von Pforzheim nach Calw ließ er seine Brille im Zug liegen. Die war ihm besonders wichtig. Lange hatte er bestritten, dass er eine braucht. Wenn er nicht mehr richtig lesen konnte, behauptete er immer, es sei zu dunkel. Als er Stadtschreiber in Bergen war, hat ihm der freundliche Herr Netz von der Kulturgesellschaft Bergen deshalb einen ganzen Schwung Lampen für das Arbeitszimmer besorgt und wenn man ihn dort abends besuchte, leuchtete es aus den Fenstern des Stadtschreiberhäuschens so hell, als würde drinnen ein Film gedreht. Schließlich hatte er sich mit Beratung von Ute Schendel doch noch eine Brille in Rödelheim auf der Radilostraße machen lassen, und jetzt lag die im Zug nach Horb. Er setzte telefonisch alle Hebel in Bewegung, und tatsächlich erreichte er noch am gleichen Abend über Berlin und Stuttgart einen freundlichen Bahnbeamten in Tübingen, Herr Schomaker, der konnte ihm auch wenig später mitteilen, daß die Brille in der Endstation Horb gefunden wurde und am nächsten Morgen rief ihn der Bahnhof Horb an und gab ihm Bescheid, daß er die Brille um 10:32 Uhr beim Lokführer in Calw am Zug abholen könne.

2009 im September kam er nochmal nach Calw. Er war der Meinung, so ein Stipendium wäre sinnlos, wenn man nicht zu dem Ort eine langfristige Beziehung aufbaute. Im verspäteten ICE von Frankfurt schlief er kurz ein und vergaß dann in Karlsruhe beim Umsteigen seinen Koffer mitzunehmen, aber wir haben ihn tatsächlich nach umständlicher Telefonier- und Faxerei nach einer Woche aus Zürich nach Frankfurt zurückgeschickt bekommen. Weil er aber in Calw nicht unrasiert rumlaufen wollte und er dort keinen Laden fand, musste ich mit ihm am nächsten Tag in Nagold einen elektrischen Rasierapparat bei Radio Monauni kaufen. Ihm gefiel vor allem der Name Monauni. Das Geschäft gibt es immer noch, mein Vater hat dort schon in den späten 50er Jahren den Blaupunkt-Radioapparat Granada gekauft.

Ich fuhr ihn dann noch mit dem Auto zu einer Stelle bei Hochdorf, von wo man einen wunderbaren Blick auf den Trauf der Schwäbischen Alb hat. Von dort hatte ich ihn bei meinen Fahrradtouren immer angerufen und ihm die Alb beschrieben, weil sie jedes Mal anders aussieht. Mal wie eine mächtige blaue Mauer (Mörike), mal in zartem Dunst. Bei Föhn zum Greifen nah und so plastisch, dass man in die Täler reingucken kann. Er sagte dann immer, da kannste mal sehen, was ich für dich alles mache. Aber jetzt konnte man sie gar nicht sehen, die Wolken hingen so tief. Abends rief er mich dann aus Calw an, am Rasierapparat fehle das Plastikkäppchen, das das Scherblatt schützt, ich solle doch noch mal zu Frau Monauni. Hab ich Samstag früh auch gemacht, aber Frau Monauni sagte, es gäbe sowas bei diesem Modell nicht.

Peter Kurzecks Gedächtnis ist ja berühmt, seine detailversessenen Erinnerungswerke machten ihn für manche zum radikalen Biographen, wie Erika Schmied ihr Buch über ihn nannte. Und er selbst sagte oft, so auch in einem Gespräch mit Ralph Schock im Saarländischen Rundfunk: „Ich kenne Leute, die viel vergessen und gut schlafen. (…) Ich dagegen hatte von Kind auf den Zwang, nichts zu vergessen. Wenn man den hat, wird man entweder verrückt oder macht etwas damit und dieses etwas, ist in der Regel Kunst.“ Umgangssprachlich benutzen wir das Wort vergessen ja auch oft, wenn wir etwas liegengelassen haben, „ich hab mein Handy zuhaus vergessen“. Aus solchem Versehen entstand auch die großartige CD „Da fährt mein Zug“. Auf ihr erzählt Kurzeck, wie er einmal in Straßburg vor der Abfahrt nochmal aus dem Nachtzug nach Avignon aussteigt, um sich auf dem Bahnsteig die Beine zu vertreten und der Zug mit seinem Gepäck dann plötzlich ohne ihn abfährt. Im Taxi ist er ihm nachgefahren und hat es in Sélestat/Schlettstadt wiederbekommen. Aber das müssen Sie selbst hören.

Letzte Änderung: 19.09.2025  |  Erstellt am: 19.09.2025

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