Der Mensch ist nur ganz Mensch, wenn er spielt, malt, schreibt — oder fotografiert. Vivian Maier war ein Kindermädchen, das in New York unzählige Fotos machte und die Filme hortete. Sie wollte wohl nur fotografieren. 2009 wurden die Dokumente gefunden und eine Auswahl in Buchform veröffentlich. Martin Lüdke ist davon sehr angetan.
Das „Meisterwerk“ der amerikanischen Fotografin Vivian Maier neu präsentiert
Als Kindermädchen mit der Kamera ist Vivian Maier nach ihrem Tod berühmt geworden. Durch Filme. Durch Bücher. Durch ihre Lebensgeschichte. Sie wurde zu einem Mythos. Das New York und das Chicago der fünfziger und sechziger Jahre ist in ihren Bildern aufbewahrt. Sie dokumentierte das Alltagsleben und sie stellte sich selbst dar, in unendlich vielen Selbstporträts. Aber dahinter blieb – ein Rätsel.
Die Frau ist eine Entdeckung. Vermutlich die Entdeckung in der Geschichte der Fotografie des 20. Jahrhunderts. Sie hat ihr Leben lang Fotos ‚geschossen’, aber zu ihren Lebzeiten kein Einziges veröffentlicht.
East 108th Street, New York, 28. September 1959. Ein schwarzer Junge, kaum älter als zehn, rollt einen Autoreifen zwischen zwei spielenden kleinen Mädchen, die neben einem Fenster stehen. Auf dem Fensterbrett, der Rollladen ist weit heruntergelassen, lehnen zwei ebenfalls noch kleine Jungs, die Arme auf ein großes Kissen gestützt. Sie beobachten, was auf der Straße los ist. Eigentlich nichts. Zwei Frauen, die es offenbar eilig haben, drücken sich an dem Jungen mit dem Autoreifen vorbei. Ein älterer Mann, schwarze Hose, breiter Gürtel, helles Hemd, beide Hände in die Hüfte gestützt, steht in der Mitte des Bürgersteigs. Und guckt. Kleinstadtleben, mitten in New York. Gute sechzig Jahre her. Eine andere Welt.
Oder: Central Park, 1953. Herbst oder Winter. Eine Frau, in einem dunklen, langen Mantel, das Alter lässt sich nicht erkennen, sitzt neben einem kahlen Baum auf einer sehr langen Bank an der Ostseite des Großen Sees und ganz am Rand des Bildes. Man sieht den See, der den größten Teil des Bildes einnimmt. Hinten am Horizont wieder Bäume, einige größere Häuser, die über die Baumspitzen emporragen. Grau ist alles. Auch die Stimmung, die das Bild vermittelt. Zeitlos.
Oder: ein Selbstporträt aus Florida, 1960. Auf der Radkappe eines Weißwandreifens ist das Zeichen VW deutlich zu erkennen. Die Kappe, vermutlich verchromt, spiegelt gestochen scharf eine im Gras liegende jüngere Frau, die ihren Fotoapparat vor der Brust hält. Hinter ihr ein weites Feld, am Horizont einige helle Fabrikbauten, dazu einige weiße Wolken am Himmel. Es ist eines ihrer vielen Selbstporträts, das allerdings nichts weiter als die fotografierende Frau in einem dunklen, kurzärmeligen Kleid erkennen lässt. Kein Alter. Keine Mimik. Nichts. Eine Frau, die fotografiert. Weiter nichts.
Ein französischer Bauer, schreibt Marvin Heiferman in seiner Einführung, habe sie einmal angesprochen: „Sie machen ja außergewöhnlich viele Bilder!“ Sie entgegnete ihm ziemlich schnippisch – „Haben Sie mitgezählt?“ Diese Antwort passt zu ihr. Denn Vivian Maier war sicher eine eigenartige Frau.
Die Angaben darüber, wie viele Fotos sie in ihrem Leben gemacht hat, differieren deutlich. Zwischen hundert- und hundertfünfzigtausend sollen es gewesen sein. Die meisten ihrer Filme blieben unentwickelt. Hunderte solcher Filmrollen hat sie in großen Wannen aufbewahrt. Sie machte ihr Bild und dann war, in aller Regel, die Sache für sie erledigt. Nur weggeworfen hat sie nichts. An irgendeine Form von Publizität hat sie offenbar nie gedacht. Erstaunlich dabei ist allerdings die große Anzahl von Selbstporträts, in den unterschiedlichsten Brechungen, als Spiegelbild, als Schattenriss, mit Selbstauslöser. Ihre Bilder konnte sie oft unauffällig, ja häufig sogar unbemerkt machen, denn die Rolleiflex, eine deutsche Spiegelreflexkamera, die sie sich irgendwann zugelegt hatte, baumelte vor ihrem Bauch, der Sucher oben, so dass sie beim Blick in die Kamera das spätere Foto bereits Bild sah und nur noch abdrücken musste. Bild-, Persönlichkeitsrechte und dergleichen ignorierte sie schlicht. Sie hatte, wohl zu recht, kein schlechtes Gewissen. Sie machte zwar Bilder, aber machte eben nichts daraus.
Vivian Maier wurde 1926 in der Bronx in New York geboren. Ihr Vater kam aus Österreich. Die Mutter war Französin. Etwas von deren Akzent soll sie ein Leben lang behalten haben. Sie arbeitete, so lange sie konnte, als Kindermädchen, später dann als Haushaltshilfe oder Gesellschafterin. Verheiratet war sie nie. Überhaupt ist über ihr Leben nur wenig bekannt. Erst ihr Nachruhm führte zu Nachforschungen. Was man weiß, das haben meist die Leute erzählt, die einst als Kinder von ihr betreut worden wurden. Sie hat lange in New York gearbeitet, später, nach einem Aufenthalt in Frankreich, der Heimat ihrer Mutter, die letzten Jahrzehnte ihres Lebens in Chicago. Auf diese Weise wechselte sie natürlich häufig ihre Arbeitgeber. Bei jeder neuen Stelle beanspruchte sie allerdings auch den entsprechenden Platz für ihre beachtlichen Sammlungen von Fotos, Filmen, aber auch von Zeitungen und Zeitschriften, die sie in einer Unmenge von Kartons verstaut hatte. Bei dem, was sie alles gesammelt und aufgehoben hat, dürfte auch der Begriff „Messie“ diese Sammelleidenschaft beschreiben. Dazu passt, dass man nach ihrem Tod eine ganze Reihe von ungeöffneten Briefen fand, darunter einige Briefe von der Steuerbehörde mit Schecks der Steuererstattung von einigen tausend Dollars.
Ihr wahrlich beachtlicher fotografischer Nachlass wurde erst kurz nach ihrem Tod, 2009, entdeckt, dank mehrerer glücklicher Zufälle weitgehend bewahrt und bald darauf sukzessive, zum Erstaunen der Nachwelt und mehr noch der Fachwelt, zu stetig steigenden Preisen verhökert und schließlich zu Teilen veröffentlicht.
Unterdessen sind mehrere Fotobände publiziert, einige Dokumentationen und Filmporträts produziert worden. Das heißt: ein wahrhaft imposantes Werk, das sich nicht nur messen kann mit dem ihrer zeitgenössischen Kollegen wie Walker Evans, Edward Steichen, Elliot Erwitt, Helen Levit, Henry Burger, usw., sondern gleichrangig daneben steht. Sie gehört zu den Fotografen, die ihre Gegenwart ins Bild gesetzt haben.
Letzte Änderung: 01.02.2022
Vivian Maier Das Meisterwerk der unbekannten Photographin
1926 – 2009.
Hrsg. Von Howard Greenberg
288 Seiten und 33 Tafeln
Format: 325 × 270 mm
Schirmer/Mosel Verlag, München 2021
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