Mit Beuys, Grass und Hegel
Wer will, kann die kulturelle Entwicklung in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und besonders seit der Dynamik, der sie seit dem Ende der 60er Jahre folgte, an vielen gesellschaftspolitischen und künstlerischen Neuerungen markieren. Sie ist letztlich nicht so zielgemäß verlaufen, wie mancher gefürchtet hatte. Der im Jahr 2018 gestorbene Kulturhistoriker, -politiker und Publizist Hermann Glaser beschrieb die Bedingungen und die Motive der Protagonisten.
Die kulturelle Entwicklung der Bundesrepublik im Zeitraum der Siebzigerjahre ist bestimmt durch die Nachwirkungen der 68er, vor allem der studentischen Protestbewegung und einen diffusen Pluralismus, dem Jürgen Habermas das Etikett der „Neuen Unübersichtlichkeit“ verpasste. Auf der einen Seite wehrte man sich gegen eingeschliffene Konventionen, die man hauptsächlich dem vom Kapitalismus geprägten Konsumismus des Wirtschaftswunders in der Regierungszeit Konrad Adenauers und Ludwig Erhards anlastete, obwohl sich die soziale Marktwirtschaft als „dritter Weg“ zwischen dem Kommunismus (Staatssozialismus der DDR) und der „deodoranten Warenästhetik“ der Amerikanisierung durchaus bewährt hatte, nämlich indem soziale Spannungen und antidemokratische Tendenzen kupiert wurden. Auf der anderen Seite fühlte man sich wohl auf dem Polster der Anpassung, das durchaus provokantes Aufbegehren als künstlerische Innovation zuließ, ja sogar populäre Zustimmung fand. Der Zeitgeist intonierte eine „Melodie“, welche (um ein Wort von Karl Marx abzuwandeln) erstarrte Verhältnisse zum Tanzen brachte. So war es durchaus symptomatisch, dass man 1971 in Nürnberg das Dürerjahr (den 500. Geburtstag des Künstlers) als Ereignis mit vielen unkonventionellen Events feierte – also solchen, die der „affirmativen Kultur“ der Jahre zuvor (mit Museen als „Verehrungsdeponien“) eine Absage erteilten. Zugleich brachten die Siebzigerjahre auch den Aufstieg der „Soziokultur“, die neue Kulturorte (z.B. Fabriken, Werkhallen, auch kleine Örtlichkeiten als „Kulturläden“) für verschiedene „Werkstatt-Formen“ künstlerischer Darbietung erschlossen.
Die gemäßigt „lockere“ kulturelle Befindlichkeit kann man auch daran ablesen, dass die konventionellste Form des Theaters, nämlich die Oper, durch Regisseure „aufgeknackt“ wurde, von denen Hans Neuenfels sich als besonders schöpferischer Protagonist erwies. Die Skandale, die er mit Inszenierungen (erst in Nürnberg, dann 1972 in Frankfurt) hervorrief, entsprachen einem „Rumoren“ im Theater insgesamt (etwa mit Peter Stein), im Film (mit Rainer Werner Fassbinder) wie im Lebensstil.
So auch in der Mode. Hatten weibliche Abgeordnete der SPD 1968 noch großen Protest bewirkt, als sie ankündigten, mit Hosenanzug in den Bonner Bundestag zu kommen, so trat bald darauf die Turnschuh-Generation mit Joschka Fischer als prominentem Politiker ihren Gang durch die Institutionen an. Die Bundesrepublik wurde bunter und flamboyanter.
Die „neue Kulturpolitik“ – plakativ propagiert mit den Slogans „Kultur für alle“ (Hilmar Hoffmann) und „Bürgerrecht Kultur“ (Hermann Glaser) – wollte die „Unwirtlichkeit der Städte“ (Alexander Mitscherlich), die sich vor allem in den rasch entstandenen Trabantenstädten zeigte, mildern und die aktive Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten am kulturellen Leben fördern; nicht zuletzt dadurch, dass man die Schwellenangst vor den „Kulturtempeln“, die als Theater, Museen, Konzerthallen, Bibliotheken meist in der Innenstadt angesiedelt waren, durch Dezentralisierung („Kultur um die Ecke“) abbaute.
Der Kulturausschuss des Deutschen Städtetags und die von Olaf Schwencke und anderen 1976 gegründete „Kulturpolitische Gesellschaft“ erwiesen sich dabei als „Denklabors“ für soziokulturelle Modelle, die dann mit unterschiedlicher politischer Intensität, besonders von sozialdemokratischen kommunalen Kulturpolitikern in Städten wie Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, München und Nürnberg realisiert wurden.
„Aufbruchsstimmung“ erfasste auch die „klassischen“ Bereiche des kulturellen Geschehens. Das Bremer Theater war mit dem Intendanten Kurt Hübner und seiner Mannschaft (darunter die Regisseure Peter Zadek, Peter Stein, der Bühnenbildner Wilfried Minks) ein Mittelpunkt der „theatralischen Erneuerung“, so wie die Modernisierung des Tanztheaters durch Pina Bausch in Wuppertal ihren Ort fand.
Die seit den Sechzigerjahren durch das „Oberhausener Manifest“ eingeleitete Erneuerung des deutschen Films – zunächst gegen die Heimatfilm-Idyllik der Nachkriegszeit gerichtet –, fand mit Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) ihren Bahnbrecher für eine cineastische Ästhetik, die große Aus- und Nachwirkung zeigte. „Soziale Direktheit“ löste das „rosarote Schaumbad“ ab, wie es sich über den Zeitgeist nach der 68er-Protestbewegung in den häufig als Postmoderne bezeichneten Jahren ausgebreitet hatte. Deren besondere Eigenart war unter Bundeskanzler Helmut Kohl ein Verzicht auf klare geistige Konturen zugunsten des „Aussitzens“ von Problemen und einer neuen Form von Geschwätzigkeit, die der Philosoph Odo Marquard „Inkompetenzkompensationskompetenz“ nannte.
Als starker Gegenpol zu der in der bildenden Kunst sich zeigenden Beliebigkeit bzw. einem in der DDR oktroyierten „Sozialistischen Realismus“ galt Joseph Beuys. Er war Garant kreativen Engagements, bei dem freilich Können und Bluff oft kaum unterscheidbar waren. Ein „Genie des Kundenleimens“ nannte ihn Peter Rühmkorf. Kein Künstler der Nachkriegszeit stand so wie Beuys im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Aura dieses charismatischen Gurus speiste gleichermaßen die Verehrung seiner „Gemeinde“ wie die Aggressivität seiner Gegner. Die Ausstrahlung des Mannes mit dem Filzhut wirkte nicht über den Umweg spiritueller Kommunikation, sondern erfolgte sozusagen direkt-dinglich: Er war ein Künstler zum Anfassen.
Die Vermarktung des Bürgerschrecks Beuys, mit Filzhut und Fliegerweste, wie ein Wanderprediger der Kunst durch den Jahrmarkt der Eitelkeiten schreitend, Eulenspiegel, „soziale Skulptur“, ließ oft den biografisch-ethischen Kern dieser Persönlichkeit vergessen. Im Zweiten Weltkrieg war Beuys als Stuka-Flieger über der Krim abgestürzt; seine wundersame Errettung verdankte er zwischen den Fronten nomadisierenden Tataren, die den Halberfrorenen aus den Trümmern gruben und den tagelang Bewusstlosen mit Talg salbten und mit Filz wärmten. Die nach einer Operation eingesetzte silberne Schädelplatte bedeckte seitdem fast immer ein Hut. Dazu kam das religiöse Klima seiner Herkunft; christliches Erbe katholischer Prägung erwies sich als Gärstoff für die Entfaltung seiner Kunst. Messen, Prozessionen, Mysterien, Reliquien, Kreuze, Monstranzen, Kelche, Kerzen, Blumen, Weihrauch prägten Beuys’ künstlerisches Zeichensystem, das, wie etwa die „Kreuzigung“ 1962/63, von ergreifender Überzeugungskraft ist, weil es das Pomphaft-Katholische vermeidet und „heilige Einfalt“ bekundet. Die verwendeten „armseligen“ Materialien wie Filz, Fett, Honig, Wachs, Eisen, Holz und andere „Elementarstoffe“ zeichneten sich, unabhängig von individuell-mythischen Konnotationen, durch ihren reichen „Assoziationsüberschuss“ aus: Von Beuys wurden sie intuitiv, ja häufig in geradezu provozierender Absurdität zur Verdeutlichung höchst einfacher polarer Gegensätze wie Wärme und Kälte, Empfänger und Sender, Geburt und Tod, weiblich und männlich, organisch und kristallin verwendet. „In einer Zeit technokratischer Hybris lenkte Beuys den Blick auf sanfte Kräfte der Natur, weckte er Verantwortung für den Umgang mit den Gaben der Erde. Lichtphänomene und der rinnende Sand; Frieden und Früchte. Manchmal agierte er als Prophet, schrieb Lebensmaximen auf große Tafeln, wie in der Nationalgalerie in Berlin. Er predigte Einfachheit und die Achtung der Naturgesetze. So weckte er Verantwortung des einzelnen, und so entstand auch seine politische Bewegung der direkten Demokratie: realisierbar vermutlich nur in einer friedenswilligen Welt.“ (Doris Schmidt)
Als „Beuys der Literatur“ kann man Günter Grass (1927–2015) bezeichnen, der bis zu seinem Tod die Rolle des wichtigsten deutschen Autors der Nachkriegszeit innehatte und als Repräsentant bundesrepublikanischer Kultur schlechthin galt. Mit seinen Werken, vornehmlich aus den Siebzigerjahren (u.a. „Der Butt“), blieb er, bei nachlassender literarischer Qualität, die unbestrittene moralisch-literarische Instanz, die der kulturellen Vielfalt in der Welt ihre höchst beachtete Stimme verlieh.
Die Bezeichnung „Postmoderne“ passt insofern für die Siebzigerjahre, als innovatorische Kulturströmungen und Tendenzen, also Modernität im besten aufklärerischen Sinn, die Gesellschaft Westdeutschlands und nach der Vereinigung der beiden Deutschlands Deutschland insgesamt „durchströmte“, während sich zugleich das Gefühl des dialektischen Aposteriori – der durch Erfahrung gewonnenen „Nacherkenntnis“ etwa als Bewusstsein von den Grenzen des Wachstums und ökologischer Gefährdung – verbreitete („Atomkraft – nein danke!“).
Die „neue Unübersichtlichkeit“ ging in den Siebzigerjahren über in eine „neue Sensibilität“ für die „Kunst und Kultur des Aufhebens“ – ein Denk- und Handlungsmuster, das Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit der dreifachen Bedeutung dieses Wortes definierte: „Aufheben“ heißt bewahren, „aufheben“ heißt aber auch überwinden, weiterentwickeln und „aufheben“ heißt schließlich hinaufheben. (conservare, negare, elevare).
Dieser Dreiklang als kulturelles Strukturmuster für die Siebzigerjahre wurde im nächsten Jahrzehnt auf das Erstaunlichste und Weltbewegendste durch das Denken und Handeln von Michail Gorbatschow, dem „Helden des Rückzugs“, in der Politik verwirklicht. Die Zauberworte, mit denen die stalinistische Diktatur und der „Kalte Krieg“ beendet wurden, hießen: „Perestroika“ (Umgestaltung des politischen und gesellschaftlichen Systems) und „Glasnost“ (Offenheit und Transparenz in der Politik). Sie sind dem Sinne nach als resümierendes Motto auf die Kulturentwicklung der Siebzigerjahre anwendbar, und zwar in Weltdeutschland sowie, in Ansätzen, in Ostdeutschland (wo das SED-Regime zunehmend der Erosion verfiel) gleichermaßen. Für die deutsche Geistes- und Kulturgeschichte begann eine neue Phase, die die „verspätete Nation“ auf dem Weg der „Westernization“ zu den Ideen der „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ führte.
Hoffentlich bleibt man sich auch in Zukunft der Erfahrung bewusst, dass, wer in der Demokratie schläft, in der Diktatur erwacht.
Der Text stammt aus: Wilhelm E. Opatz, Freunde Frankfurts (Hg.), „Architekturführer Frankfurt 1970–1979“, Mit freundlicher Genehmigung © Junius Verlag, Hamburg 2018
Hermann Glaser (1928-2018) war Kulturhistoriker, -politiker und Publizist. Er lebte in Nürnberg.
Letzte Änderung: 01.02.2022
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