Otto Freundlich war Maler, Bildhauer und Autor, einer der ersten Künstler der Abstraktion, Jude, Kommunist und Kosmopolit. 1908 zog er nach Paris ins Bateau-Lavoir, wo er sich mit Picasso, Braque, Gris und Apollinaire befreundete. Unter der Vichy-Regierung musste er fliehen, wurde mehrfach verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Im okzitanischen Saint-Martin bot ihm eine Familie ein Versteck, doch es wurde verraten; seine Spur verliert sich in Sobibór. Johannes Winter ist seiner Geschichte nachgegangen.
Er hat keine letzte Ruhestätte gefunden. Otto Freundlich, der Maler und Bildhauer der Abstraktion, endete, wie Paul Celan in seinem Gedicht „Todesfuge“ sagt, in einem „Grab in den Lüften“. Seine Lebensgefährtin, die Malerin Hanna (Jeanne) Kosnick-Kloss, liegt auf dem Friedhof in Auvers-sur-Oise, neben den Brüdern Vincent und Théo van Gogh. Auf ihrer Grabplatte erinnert eine Inschrift an Freundlich.
In Berlin regierte der letzte Preuße, als Otto Freundlich, geboren 1878 in Stolp in Pommern, beschloß, nach Frankreich zu gehen, ins Paris der Vorkriegsjahre. Im Künstlerhaus Bateau-Lavoir auf dem Montmartre fand er ein Atelier neben Picasso und seiner Freundin Fernande Olivier, neben Kees van Dongen, Juan Gris und Ame-deo Modigliani, ein Ort, an dem auch Georges Braque und die Delaunays verkehrten.
Bald zog es ihn nach Chartres, wo er im Turm der Kathedrale ein Atelier bezog, um die Kunst der Bleiglasfenster zu studieren, deren Farben, vor allem „das reinste Blau des Himmels“, ihn tief beeindruckten. Als der 1. Weltkrieg ausbrach, war er verpflichtet, nach Deutschland zurückzukehren. Er leistete Ersatzdienst als Sanitäter, erlebte die kurze revolutionäre Phase nach Kriegsende, der seine Sympathie ebenso galt wie der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik.
Der bildende Künstler, der auch Bildhauer war, nicht zuletzt Schriftsteller, fand bald vom Symbolismus und Expressionismus zur Abstraktion, welche ihn zu seinen mosaikartigen Farbfeldkompositionen führen sollte. Gemäß seiner Erkenntnis, die Kunst der Zukunft sei nicht an nationale Grenzen gebunden.
Indem er das Motiv des Kopfes in monumentaler Form in den Blick nahm, entdeckte Freundlich die Kultur der Osterinseln. Seine frühe Skulptur „Großer Kopf“ hat auffallende Ähnlichkeit mit den Kolossalfiguren des „modernen Athens Ozeaniens“ (André Breton). Sie galt als „Utopie einer Gesellschaft“, als „Alternative zur totalitären Zukunft“ (Isgard Kracht), wie sie in den zwanziger und dreißiger Jahren europaweit aufstieg. Die Plastik sollte verhängnisvolle Berühmtheit erlangen.
Weltbürger, aktiver Sozialist
Freundlich zog das Interesse von Mäzenen wie Rudolf Hagelstange und Sammlern wie Karl Ernst Osthaus auf sich. Er schrieb und veröffentlichte Texte zur Theorie gegenstandsloser Kunst in Zeitschriften wie „Die Aktion“ und „Der Sturm“ und war führendes Mitglied der „Novembergruppe“. Nahm teil an der „Internationalen Ausstellung revolutionärer Künstler“ in Berlin und gesellte sich der anarchistischen Künstlergruppe „Kommune“ zu.
Für seinen Biographen Joachim Heusinger von Waldegg war er ein „aktivistischer Künstler, der die avantgardistischen Prinzipien seiner Kunst nicht von den dynamischen gesellschaftlichen Kräften seiner Zeit getrennt wissen wollte. Der moralische Impetus seiner künstlerischen Ethik (zielte) auf eine Verbrüderung der Menschheit und auf einen ‚kosmischen Kommunismus’“.
Der Begriff „Weltbürgertum“, so Heusinger, spielte in seinem Denken eine zentrale Rolle. Freundlich bewegte sich zwischen Berlin und Paris, Köln und Düsseldorf. Er entwarf das Projekt einer Völker verbindenden „Straße des Friedens“ („Une voie de la fraternité e solidarité humaine“) quer durch Europa, die Paris mit Moskau verbinden sollte.
Also verließ er Deutschland Mitte der zwanziger Jahre und ging zurück nach Frankreich. Paris wurde ihm zur zweiten Heimat, er eröffnete ein Atelier, darin, gemeinsam mit der Malerin Hanna (Jeanne) Kosnick-Kloss, die private Akademie „Le Mur“ – ein Ort des Austauschs, in dem er seine Theorien und Schriften vorstellte. Er schwärmte von „Frankreich, dem Land der Kultur, der künstlerischen Tradition, (von) Frankreich mit dem menschlichen Herzen, dem ich mich seit meiner Jugend so innig verbunden fühle.“
Über seine Wirkung auf Mitmenschen schrieb der Kunstkritiker Maurice Raynal: „Wir waren alle wie verzaubert von der träumerischen, fast ekstatischen Sanftheit seines Gesichtsausdrucks, der eine natürliche Großzügigkeit und Güte bezeugte.“
Marktgängige Kunst zu schaffen, blieb ihm fremd. So bedurfte Freundlich der Unterstützung und bekam sie. Ein Aufruf bedeutender Künstler wie Sophie und Hans Arp, Picasso, Léger, Kandinsky, Gropius, Sonia und Robert Delaunay, Kokoschka, Max Ernst, auch Alfred Döblins bewirkte, dass der Staat zwei seiner Werke für das Pariser „Jeu de Paume“ ankaufte.
1933. In Deutschland wurde der NS-Führer Adolf Hitler Reichskanzler und ergriff samt Partei die Macht. Seine Diktatur sicherte er ab mithilfe eines Terror-Apparats. Für Otto Freundlich wurde die Lage auch in Frankreich bedrohlich. Ihn zu unterstützen, veranstaltete der Freie deutsche Künstlerbund in Paris eine Ausstellung emigrierter Künstler wie Max Beckmann, Max Ernst, George Grosz, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Kokoschka und Felix Nussbaum. Freundlich schrieb dazu den Text „Der bildhafte Raum“. Als wacher politischer Zeitgenosse gründete er einen „Hilfsverband für Flüchtlinge“, der über die Verhältnisse in deutschen Konzentrationslagern informierte, und spendete eigene Werke, um spanischen Flüchtlingskindern zu helfen.
Im Stich gelassen
Die Ausstellung „Entartete Kunst“ (1937) des Hitler-Staates stellte Freundlich nicht nur an den Pranger. Seine Skulptur „Großer Kopf“, im NS-Jargon „Der neue Mensch“, diente der Goebbels´schen Propaganda als Inbegriff der von ihr verfemten Kunst und figurierte, verzerrt und manipuliert, auf der Titelseite der Ausstellungsbroschüre („Preis 30 Pfg.“). Die Plastik ist, wie vieles aus seinem Werk, verschollen. 1939. Der Anfang vom Ende. Europa war unter die Gewalt von Diktaturen geraten. Frankreich sah sich eingekesselt von autoritären Regimen in Rom, in Berlin, in Madrid. Moskau nicht zu vergessen. Die Stimmung im Land wandelte sich, wurde besorgt, bald unduldsam, gar feindselig.
Im Sommer der spanische Exodus: Eine halbe Million Anhänger der Republik suchte sich vor dem Putschisten Franco, Sieger im Bürgerkrieg, über die Pyrenäen ins Nachbarland zu retten. Sie wurden nicht gut empfangen. Frankreich errichtete Sammellager, baute ein System auf von „camps de concentration“.
Bevorzugte Orte waren Sport-Stadien wie das Roland Garros in Paris, in dem heute Tennis-Grand-Prix-Wettbewerbe stattfinden, Haftorte, die offiziell als „camps digne de la France“, als ‚Frankreich(s) würdige Lager’ bezeichnet wurden. Darin weggesperrt waren „sujets ennemis“, sogenannte feindliche Personen. Gemeint waren Ausländer.
Otto Freundlich, der bereits seit fünfzehn Jahren in Paris lebte, der sich an der Seine zuhause fühlte, wurde in die Kategorie „unerwünscht“ eingeordnet und, kaum daß der 2. Weltkrieg im September 1939 ausbrach, in einem Stadion-Lager interniert, im Colombes bei Paris. Wie Walter Benjamin und Ernst Kantorowicz. Er war in die Welt der Lager geraten, ihr hilflos ausgesetzt.
In einem Exzess behördlich-rassistischer Willkür verschob man ihn weiter, in das Lager Blois, in das Lager Francillon-par-Villebarou, das Lager Marolles, das Lager Fossé, das Lager Cepoy, wo auch Golo Mann inhaftiert war. Von dort kehrte er nach Paris zurück, blieb jedoch von weiterer Haft nicht verschont. Nicht die letzte Station war das Lager Buffalo, erneut ein Stadion, nahe der Hauptstadt.
Im Mai 1940 fiel die deutsche Wehrmacht in Frankreich ein und nahm den Norden unter Kontrolle, der zur „besetzten Zone“ wurde. Gab die Erinnerung an die Schrecken des 1. Weltkrieges den Ausschlag? Paris zog jedenfalls einem Krieg den Waffenstillstand vor. Der nicht nur die Geburtsstunde der Kollaboration, sondern auch das Todesurteil für zahllose Ausländer war.
Ein neuerlicher Exodus setzte ein, als Hunderttausende panisch aus der Hauptstadt flohen, um über verstopfte Nationalstraßen in den unbesetzten Süden zu gelangen, wo sie sich vor den Besatzern in Sicherheit zu bringen suchten, ob in der Auvergne, an der Côte d´Azur oder den Pyrenäen.
Die französische Regierung erhob Gefügigkeit gegenüber der deutschen Militärverwaltung zur Richtlinie ihrer Politik, achtete jedoch darauf, indem sie in den Kurort Vichy umzog, den Eindruck von Eigenständigkeit zu popularisieren. An ihrer Spitze stand Marschall Philippe Pétain, ein Weltkriegs-General, nun formell Herr über den Süden des Landes, die sogenannte „freie Zone“, sowie Garant für die „collabo“ mit NS-Deutschland. Diese Kollaboration würde Frankreich ein Trauma hinterlassen.
Das Land, immer schon stolz auf seine Revolutions-Ideale Egalité, Liberté, Fraternité, verlegte sich auf eine Politik der Ausgrenzung. Innere Sicherheit gegen Humanität. Juden wurden vom Vichy-Regime zum „Fremdkörper der nationalen Gemeinschaft“ erklärt. Bald hatten sie den gelben Stern zu tragen.
Inzwischen im Lager Bassens bei Bordeaux inhaftiert, erneut entlassen, wurde Otto Freundlich wieder gefangen genommen. Und freigelassen. Er überlebte acht Lager, gedemütigt, verschreckt, getränkt mit der Angst, an Deutschland ausgeliefert zu werden.
Die Bevölkerung habe dies, so der Flüchtling Lion Feuchtwanger („Der Teufel in Frankreich“), in der Haltung des „Je-m´en-foutisme“ (Je-m´en-foue – ich scheiß drauf) hingenommen. Sie habe es begleitet, auch unterstützt. Ein Verhalten, das Feuchtwanger mit „Herzensträgheit, Gedankenlosigkeit“ übersetzte, Teil des Alltags, geschätzt als „Système D“, nach débrouiller, sich durchmogeln.
„Collabo“ à la française
Freundlich, der nach Intervention der Pariser Künstler-Szene freigekommen war, flüchtete in den Süden. Er fand Obdach in einem Ort in der Nähe von Perpignan. Doch im Grunde suchte er ein Versteck. Und mehr noch, er suchte Papiere. Um ausreisen zu können. Denn er, der Jude, der Kommunist, der Ausländer, inzwischen über 60 Jahre alt, blieb gefährdet. In Lebensgefahr geriet er, als die Besatzer ihre Herrschaft bis zu den Küsten des Mittelmeeres ausdehnten, auf ganz Frankreich, dessen Regierung in Komplizenschaft mit NS-Deutschland in den Jahren der Besetzung bestritt.
Mit Razzien von Polizei und Miliz, unterstützt von SS und Gestapo, trat das Vichy-Regime auf als Handlanger der Deutschen, verschärfte die Jagd auf Ausländer. Wie Otto Freundlich einer war. Und er war Jude, von Berlin zum Staatenlosen gestempelt. Denn Franzose zu werden, war ihm nicht gelungen. Seine Bemühungen waren gescheitert. Die französischen Behörden schufen juristische Instrumente zur Abwehr von Minderheiten, von Schutzsuchenden, die im Glauben gekommen waren, sich im selbst ernannten Mutterland der Menschenrechte in Sicherheit gebracht zu haben. Aus eigenem Antrieb erließ Marschall Pétain, den grassierenden Antisemitismus nutzend, das Judenstatut, das sein Vorbild, die Nürnberger Gesetze, an Härte und Unnachgiebigkeit übertraf.
Mit der Folge, daß Freundlich, unter Hausarrest („residence surveillée“) gestellt, sich täglich bei der Polizei zu melden hatte – Praxis im autoritären „Etat français“, unter der neuen Parole „travaille, famille, patrie“ (Arbeit, Familie, Vaterland). Wofür sich die Volksweisheit mit dem sarkastischen Motto „tracas, famine, patrouille“ (Sorgen, Hunger, Kontrollen) bedankte.
Solcher Caféhaus-Widerständigkeit zum Trotz zeigte sich das Pétain-Regime botmäßig. Es half mit, dass 76.000 Juden, die Mehrheit ausländische, darunter 7.000 deutsche, mit aktiver Unterstützung der Behörden in deutsche Vernichtungslager deportiert wurden. Vergessen aber werden soll und darf nicht, was einem seltsamen Widerspruch gleichkommt. Drei Viertel der Juden überlebten Besatzung und collabo – mehr als, außer in Dänemark, in jedem anderen besetzten Land. Weshalb Historiker vom „Rätsel der 75 Prozent“ sprechen. Einer der Gründe: Die Meldepflicht wurde leger gehandhabt, wozu gehörte, daß Begriff und Praxis einer „Judenkartei“ unbekannt waren. Zumal sich nicht wenige Franzosen, während die Besatzung anhielt, in der gemeinsamen Abneigung gegen die „boches“ wiederfanden – wie sie die Deutschen verächtlich zu nennen pflegten.
Hoffnung gegen Verzweiflung
Saint-Paul-de-Fenouillet, ein beschauliches Städtchen westlich von Perpignan – im Le Fenouillèdes, Fenchelland heißt die Region nördlich des Canigou, des heiligen Berges der Katalanen. Schneeweiß leuchtet der höchste Gipfel der östlichen Pyrenäen bis weit in den Sommer. Spatzengezwitscher. Schattengassen. Eine vergilbte Wandinschrift: „Hotel Galamus“, Otto Freundlichs einstige Zuflucht. Die spanische Familie, die im Hotel wohnte, bezahlte dem Mittellosen den ersten Monat. Bevor sie abreiste, porträtierte er die Señora.
Der Künstler befand sich in erbärmlichsten Verhältnissen, er litt, war zermürbt. In einem Brief aus Anlass seines Geburtstages heißt es: „Die gute Wirtin hat mir einen Kaffee Crème und ein Stück Brot gebracht. Aber seit gestern habe ich nichts bekommen, und heute gab es auch nichts. Ohne Geld, ohne Brot sah ich die Nacht kommen, erwartete ich Hungerattacken auf meinen Magen und meine Brust.“
Seine Lage, ein Leben in Einsamkeit und Entbehrung, wurde bedrückend. Sie wurde so unerträglich, dass er auf den Gedanken kam, lieber freiwillig in ein Internierungs-Lager wie Saint-Cyprien zu gehen, eines der riesigen, zunächst barackenlosen Areale hinter Stacheldraht, auf den Strand gesetzt nahe Perpignan, in dem zunächst Tausende von aus dem nahen Spanien geflüchtete Männer, Frauen und Kinder zusammengepfercht waren.
Dieses Lager war es auch, das der Schriftsteller Walter Mehring überlebt hat: „Bin hinter Draht, im Sandgerölle, genannt: die Pyrenäenhölle. Geprügelt wurde nur gelegentlich, wenn die Wächter, verbiesterte Bauernburschen, sich gerade langweilten.
Gestorben wurde an Typhus. Erschossen bei fahrlässigen Fluchtversuchen.“ Auch der Autor und Jurist Alfred Kantorowicz erinnert sich an „die Hölle von Perpignan, wo man siebentausend deutsche und polnische Juden aus Belgien und Holland einpferchte“ – unter ihnen der Maler Felix Nussbaum, der später in Auschwitz ermordet wurde.
Otto Freundlich, das Für und Wider abwägend, zog es schließlich vor, in Saint-Martin im Fenchelland auszuharren. Ungewissheit wurde sein Zuhause, die zur Aussichtslosigkeit wurde, nachdem er sein Radio verkauft hatte, aus nackter Not.
Hin und wieder erreichten ihn Geldzuwendungen. Seine Gönnerin Hedwig Muschg, die Schwester des Schriftstellers Adolf Muschg, eine Schweizer Lehrerin, unterstützte ihn, nicht zu vergessen die Galeristin Peggy Guggenheim. Freundlich bat Picasso, die Miete für sein Atelier in Paris vorübergehend anzuweisen. Er wandte sich an den Architekten Alfred Gellhorn an der Columbia University in New York, ihm und seiner Gefährtin bei der Einreise in die USA behilflich zu sein. Erfolglos versuchten Freunde, das Paar auf die Liste des Emergency Rescue Comit-tee/ERC zu setzen, das von Varian Fry geleitet wurde, dem amerikanischen „Engel von Marseille“, dem Freundlich zum Dank für finanzielle Unterstützung ein Gemälde zukommen ließ. Ein dringend benötigtes Affidavit aber, als Voraussetzung für ein Visum, konnte auch Fry nicht besorgen.
Bergauf ging es, als Otto Freundlich nach seinem Rausschmiss aus dem „Galamus“ die Straße nach Saint-Martin-de-Fenouillet unter die Füße nahm. Die Wirtin hatte dem Maler mit dem deutschen Akzent das Zimmer gekündigt. Er hatte den Kredit verloren. Südlich von Saint-Paul schnitt die Landstraße durch einen Felsrücken, als ob eine Riese ihn mit der Axt gespalten hätte. Solche „Bergformationen, nicht sehr hoch, aber sehr skulpturenhaft“ waren Freundlich beim Spazieren aufgefallen. Neben der Landstraße ein Flüsschen, dem der Bogen einer römischen Brücke antiken Charme verlieh.
Das Abseits als sicherer Ort – das Dorf in den Hügeln ließ seine Hoffnung keimen, im Languedoc zu überleben. Freundlich korrespondierte, schrieb seinen geradezu testamentarischen Text „Ideen und Bilder“, füllte Blätter mit Skizzen.
Zum Gedächtnis des Dorfes gehörte, dass die Bauernfamilie Bénassis, daß Marie und Joseph dem Maler aus Deutschland Zuflucht gewährten, in einem Verschlag neben dem Stall. Hier hauste er mit Hanna, seiner Lebensgefährtin, im Refugium unter Aprikosenbäumen. Den „unvergessenen und lieben Freunden“ widmete er zum Dank eine Bleistiftzeichnung.
Doch die beiden blieben Fremde, sie weckten nicht nur Neugier, sondern auch Misstrauen. Wagten sie es, geradezu verstohlen durch die Gassen zu schleichen, mussten sie wohl oder übel das Anwesen des örtlichen Winzers passieren, dessen Name auf dem Dach prangte.
Was sie nicht ahnten: Auf dem Dorf unerkannt zu bleiben, war aussichtslos, sich zu verbergen, unmöglich. Ob jemand gelangweilt hinterm Vorhang lauerte oder übelgesonnen im Schatten hockte – gegen den kollektiven Hofhund gab es kein Versteck.
Im Dorf ein Denunziant
Achtzig Jahre später. Abendessen im Restaurant am Fluss. Forelle unter Mandeln, Wein aus einer Domaine im Nachbardorf Saint-Martin. Dem Winzer sollten wir wiederbegegnen.
Bergauf ging es, auch unser Ziel war Saint-Martin, der Weiler inmitten von Weinbergen. Die Straße wand sich durch die Garrigue, eine felsige Heidelandschaft, bewachsen von Ginster und Steineichen.
Siesta, die Kneipe geschlossen, auf der Bank vor der Kirche brauchte es ein wenig Geduld, bis jemand seine Schritte über die Place lenkte, der geneigt war, uns der Lösung eines Rätsels näherzubringen. Denn unvergessen war, daß ein Verräter Freundlich auf dem Gewissen habe. Manchem war nicht nur sein Name gegenwärtig – Iréné Salvat, Patron der örtlichen Domaine –, der eine oder die andere scheute sich ebenso wenig, ihn preiszugeben. Sein Wein, vom Abendessen in Erinnerung, bekam einen schockierenden Nachgeschmack.
Der Winzer hatte in einem Akt der Selbstjustiz gehandelt. Er gab einen Menschen, der ohnehin Opfer war und des Schutzes bedurft hätte, einem mörderischen Regime preis, zur Beute. In ihm verwirklichte sich die soziale Kontrolle unterm Kirchturm als Kollaboration auf unterster Ebene.
Eine Gasse führte hinauf zum Anwesen, in dem der Maler sich sicher geglaubt hatte. Vor der Tür ein Möbelwagen. Das Haus wurde geräumt. Yvette Bénassis, letztes Mitglied der Familie, war soeben verstorben. Während ihre Möbel hinausgetragen wurden, schob sich ein Foto vor unsere Augen, wohl das letzte von Otto Freundlich. Es zeigt ihn, wie er an der Hausecke auf der Treppe sitzt, seiner Gefährtin Hanna zugeneigt, mit düsterem Blick. Kalt muss es sein, darauf deuten die Schichten an Kleidung, mit denen die beiden sich zu schützen suchen. Zwei Menschen, denen die Entbehrungen anzusehen sind.Otto Freundlich im Besonderen, gezeichnet, geschwächt von einem chronischen Nierenleiden, gegen das er nie genug Medikamente bekommen konnte. Vor ihnen ein Haufen Reisig, vielleicht getrocknete Bohnen, die ein hilfsbereiter Nachbar vorbeigebracht hat.
Vorstellbar wäre, wie er, schien die Sonne, sich seine verzweifelte Lage auf dieser Treppe von der Seele zu zeichnen suchte. Wie er „L’ indélicat“, den Gewissenlosen skizzierte – gleichsam der Steckbrief des diebischen Geldboten, dem er es zu verdanken hatte, daß etliche Sendungen seiner Gönnerinnen ihn nie erreichten.
Zeichnungen von seiner Hand, mit Feder oder mit Bleistift, hatte Simon aufbewahrt, der Sohn der Familie Bénassis: die Nachbarin Madame Fabre, der Dorfbriefträger Michel, der Freund Roger. Sie belegten, dass es in Saint-Martin Menschen gab, die dem Maler nicht mit Hass begegneten, die „dem Dorf die Ehre zurückgeben“, wie Joël Mettay in seiner „Suche nach Otto Freundlich“ schreibt. Der Farbkasten wurde, lange nach dem Tod des Malers, im Küchenherd entdeckt. Wer ihn versteckt hat, ist nur zu erahnen.
Es brach jener Februarmorgen 1943 an, an dem zwei Gendarmen anklopften, Handlanger der deutschen Vernichtungsmaschine, um Otto Freundlich abzuholen. Weil er Jude war. Entsetzen im Hause Bénassis, während die Verhaftung vollstreckt wurde, aus Willfährigkeit. Es war der Vollzug einer sogenannten Vergeltungsaktion, wie die deutschen Besatzer Razzien nannten, ihre Reaktion auf einen Anschlag der Résistance.
Die Denunziation aus der Domaine verurteilte Otto Freundlich zum Tode. Er wurde verladen, deportiert von der Staatsbahn SNCF als Komplizin der Reichsbahn, als Erfüllungsgehilfin der „Endlösung“, ahnungslos eingepfercht in einen Waggon, der dazu bestimmt war, aus Menschen Opfer zu machen, ein Waggon, der zwei Wochen lang unterwegs war, vom berüchtigten Lager Gurs nahe Bayonne über das Lager Drancy bei Paris durch das Land der Mörder nach Polen, das die Deutschen im Schatten des Krieges zum Territorium der Vernichtung von Europas Juden gemacht hatten.
Ziel war das Vernichtungslager Sobibór bei Lublin, Anfang März 1943. Starb Otto Freundlich im fahrenden Gefängnis? Starb er in einer Gaskammer des Mordortes? Niemand weiß die Antwort. Sein genaues Todesdatum ist unbekannt geblieben.
Wie sich Fassungslosigkeit anfühlt, war auf dem Weg durch die Gassen von Saint-Martin zu spüren, das für den Künstler vom Zufluchts- zum Unglücksort wurde, vorbei an der Mairie mit den blauen Fensterläden, vorüber an einer Hochzeitsgesellschaft unter Platanen, die tafelte und sang und feierte. Friedliche Laute, friedliche Leute.
Im Bestand des Frankfurter Städel befinden sich zwei Bronze-Abgüsse von Freundlichs Skulptur „Ascension“ (1929) und von seiner „Composition“ (1933). Gewürdigt wurde er 1964 auf der documenta III. Das Museum Ludwig zu Köln feierte ihn 2017 mit der Ausstellung „Kosmischer Kommunismus“. Die Basler Ausstellung „Zerrissene Moderne“ von 2022/23 führt im Katalog Freundlichs Werk „Großer Kopf“ auf, um es (zweifach) als faksimiliertes Titelbild der Nazi-Broschüre von 1937 zu zitieren.
Letzte Änderung: 16.03.2023 | Erstellt am: 11.03.2023