Ein Kreuzweg

Ein Kreuzweg

Der Art brut-Künstler Peter Wirz
Peter Wirz: „Das Kreuz Christi“  | © Sammlung Dadi Wirz

Der Schweizer Peter Wirz konnte sein von Anbeginn verunglücktes Leben nur mit Bildern vermitteln. Dem Jugendlichen war eine geistige Behinderung attestiert worden. Im Jahre 2000 ist er gestorben und heute gilt er als bedeutender Vertreter der ‚Art brut‘. Michael Eberth berichtet vom Leben des Künstlers und bespricht das zeichnerische Werk, das Andres Müry herausgegeben hat.

Einen Fund der besonderen Art präsentiert in diesen Tagen der Basler Autor Andres Müry, der als Dramaturg und später als Kritiker in der deutschen Theaterszene aktiv war: das zeichnerische Werk eines entfernten Verwandten, des nahezu unbekannten Art brut-Künstlers Peter Wirz (Andres Müry, Wirziana. Die andere Welt des Peter Wirz, Vexer Verlag, St. Gallen und Berlin, 2020).

Müry leitet den Band mit einem Essay ein, in dem er mit subtiler Lakonie darstellt, wie grausam sich die bürgerlichen Gesellschaften des letzten Jahrhunderts an denen versündigten, die von den Normen abwichen, und welche Formen diese Grausamkeit in der heuchlerisch-frömmelnden Schweiz annahm.

Das Drama des 1915 geborenen Peter Wirz, das nahezu das gesamte letzte Jahrhundert durchzieht, beginnt im Moskau der Zarenzeit, wo der Großvater (und Urgroßvater von Andres Müry) als Fabrikant von Seidenbändern zu einem Vermögen kam, das er in Schweizer Banken anlegte. Das Rumoren des Umbruchs war in Russland schon im Jahrhundert davor zu spüren. Von den Früchten dieser Voraussicht konnte die Familie zehren, als sie in den Wirren der Revolution in die Schweiz zurückkehrte.

Peter Wirz: „In Stacheldraht eingewickelter Mann“  | © Foto: Sammlung Dadi Wirz

Paul Wirz, einer der Söhne, empfand das Leben in der Schweiz als so beklemmend, dass er in der Ethnologie, einer am Anfang des vorigen Jahrhunderts aufkeimenden Wissenschaft, einen Weg der Befreiung suchte. Noch als Student heiratete er eine Cousine ersten Grades. Als diese schwanger wurde, steckte er sie mit einer Lues congenitalis an, die er sich vermutlich bei einem Bordellbesuch zugezogen hatte. Sie wurde nach der Geburt auch beim Sohn diagnostiziert. Säugling, Mutter und Vater wurden mit der drastischen Methode einer Kur auf Arsen-Basis behandelt, die vor der Erfindung des Penicillins üblich war.

Als der Sohn fünf Monate alt war, brachen die Eltern zu einer Forschungsreise in das Neuguinea der Papuas auf. Das Kind gaben sie in die Obhut von Verwandten der Mutter, die strenggläubige Anhänger des Pietismus waren. Nach vier Jahren kehrten sie zurück. Im Jahr drauf brachen sie zu einer weiteren Reise auf.

In der Familie der Mutter war es zu Fällen von Schizophrenie gekommen. Ob die geistige Behinderung, die beim Sohn mit den Jahren hervortrat, auf die Syphilis-Kur oder die Erbanlagen zurückging, war nicht zu ermitteln. Der Vater mied den Anblick des Sohnes. In Begleitung der Mutter trat er wieder und wieder die Flucht ins Weite an.

Als in den zwanziger Jahren die Freikörperkultur eine verklemmte Sexualmoral zu überwinden suchte, wandte sich der Ethnologe auch diesem Weg der Befreiung zu – und brachte die um einiges ältere Ehefrau mit Affären gegen sich auf. Bei einem Bootsausflug der Familie auf dem Rhein fiel die Nicht-Schwimmerin aus dem Boot und ertrank. Das Gerücht, der Gatte habe das Unglück befördert, wollte nicht verstummen.

Während beim Sohn die Symptome der geistigen Behinderung immer deutlicher zu erkennen waren, brach der Vater mit neuen Partnerinnen zu neuen Expeditionen auf. Die unverheirateten Schwestern der Mutter, in deren Obhut der Junge inzwischen gelangt war, kapitulierten vor dessen erwachender Sexualität, die durch exhibitionistische Handlungen in der Öffentlichkeit Anstoß erregte. Die Folge waren Einweisungen in die Psychiatrie, Therapien mit Psychopharmaka, die Entmündigung und schließlich die Kastration. Die Eugenik war in der Schweiz nicht wie in Hitlers Reich Staatsdoktrin, war aber seit Beginn des Jahrhunderts unter dem Label “Volksgesundheit” gängige Praxis.

Das zeichnerische Werk des Peter Wirz, das Andres Müry mit seiner Publikation zum ersten Mal einer größeren Öffentlichkeit bekannt macht, bildet die innere Welt eines Menschen ab, der kein Mittel findet, um gegen die Gewalt aufzubegehren, der er ohnmächtig ausgesetzt ist. Stetig wiederkehrende Motive sind die Figur des Gemarterten, ja Gekreuzigten, und seines Widersachers, des Teufels. Eine Phantasie, die im Überschreiten der Formen normierter Darstellung des Wirklichen um ihr Erscheinen ringt, schafft sich mit den Zeichnungen eine eigene Welt. Christliche Mythen, Basler Fasnachtsbräuche, Darstellungen der Gewalt, die in den eigenen Leib eindringt, und Ornamente einer privaten Heraldik werden ins Surreale überhöht, wie es den Werken der Künstler der Art brut eigen ist.

Blick ins Buch: „Wirziana – Die andere Welt des Peter Wirz“: S. 122-123, mit der Zeichnung „Der Teufel im Konzentrationslager“ | © Foto: Vexer Verlag, St. Gallen und Berlin

„Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht nicht ward“ (Hölderlin), buhlte um Anerkennung, indem sie sich mit dem Zeigen der Zeichnungen darum bemühte, ihrer Umwelt zu offenbaren, was im Verborgenen blühte. Verwandte wurden in heraldisch verzierten Postkarten oder Briefen um die Erlaubnis gebeten, sie besuchen zu dürfen. Zu den Besuchen brachte der Künstler Zeichnungen mit. Unbekannte, oft junge Frauen, wurden in Parks oder auf öffentlichen Plätzen gebeten, die Zeichnungen zu betrachten. „Die Misserfolge im grossen und ganzen haben mir den Mut zum Zeichnen verloren (sic!)“, schrieb er in seinen Notizen. „Ich kann nicht einmal spazierengehen, so bin ich von den Mädchen-, Liebes- und Zeichnungen-Erfolgsgedanken deprimiert. Ich habe zwar vereinzelt schon Erfolge gehabt im Zeigen meiner Zeichnungen, aber es befriedigte mich nicht.“

Die Verwandten reagierten mit einem hilflosen „schön“ oder „interessant“, wenn sie nicht dafür sorgten, dass die Werke wegen ihres vermeintlich obszönen Gehalts vernichtet wurden. Dem jüngeren Bruder des Künstlers (und Spross einer zweiten Ehe des Ethnologen) ist es zu verdanken, dass ein Teil des Schaffens von Peter Wirz vor der Vernichtung bewahrt wurde. Dadi Wirz, selbst Künstler, entdeckte durch einen Zufall, dass der Bruder seine Werke dadurch in Sicherheit brachte, dass er sie in antiquarische Bücher einlegte.

„Es ist doch nicht alles wertlos, oder?“, fragte Peter Wirz den jungen Andres Müry, als der sich für Person und Schaffen des Verwandten zu interessieren begann, dessen seltsames Gebaren ihn schon als Kind befremdet und fasziniert hatte.

Im Herbst 1990 gelang es Bruder Dadi, fünf Zeichnungen von Peter Wirz in einer Gruppenausstellung unterzubringen, die unter dem Titel Art brut et ses lisières im Umland von Basel stattfand. Ein Foto zeigt den 75-jährigen Künstler umrahmt von den Direktoren berühmter Sammlungen, die der Ausstellung Werke von Künstlern wie Adolf Wölfli, Johann Hauser oder August Walla zur Verfügung stellten – und erkennen konnten, dass das Werk des Unbekannten dem der durchgesetzten Künstler durchaus ebenbürtig ist.

Blick ins Buch: „Wirziana – Die andere Welt des Peter Wirz“: S. 110-111 | © Foto: Vexer Verlag, St. Gallen und Berlin

Zehn Jahre später starb Peter Wirz. Die Psychopharmaka hatten den Impuls, der Seele zu ihrem göttlichen Recht zu verhelfen, längst zum Erlöschen gebracht. In einem St. Galler Museum wurde posthum ein Kabinett mit Zeichnungen und persönlichen Objekten von ihm installiert.

Das opulent illustrierte Buch von Andres Müry zeigt auf erschütternde Weise, wie sich eine vielfach vergewaltigte Seele gegen die Auslöschung wehrt. „Ich für mein Leben täte ihm Unrecht, wenn ich ihm fluchen täte“, schrieb Wirz in Identifikation mit dem von Gott gemarterten Hiob in seinen Notizen, „aber doch, andrerseits fluchte ich schon, wenn er dies oder jenes zuliess, besonders wenn es etwas war, was die andern nicht tragen müssen“.

Letzte Änderung: 16.08.2021

Andres Müry (Hg.) Wirziana Die andere Welt des Peter Wirz | © Sammlung Dadi Wirz

Andres Müry (Hg.)
260 Seiten
ISBN: 978-3-907112-16-8
Vexer Verlag, St. Gallen und Berlin 2020

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