Für das Gemälde "Sleeping by the Lion Carpet" (oder "Die Sekretärin") arbeitete der britische Maler Lucian Freud (1922-2011) zum vierten Mal mit dem Aktmodell Sue Tilley (* 1957) zusammen. Tilley war ursprünglich in der britischen Arbeitsverwaltung tätig und stieg dort von der Angestellten zur Leiterin eines Arbeitsamts in London-Mitte auf. Zum Maler Lucian Freud erhielt sie Kontakt über einen gemeinsamen Bekannten, den australischen Performancekünstler Leigh Bowery, der Freud ebenfalls Modell saß. Bowery lernte Sue Tilley als Kassiererin im Londoner Nachtklub „Taboo“ kennen. Rotraut De Clerk hat sich das Werk einmal genau angeschaut...
Lucian Freuds Nackte kann man nicht übersehen. Das ist die erste Erklärung für den Aufruhr, den sie entfacht haben. Sie stürzen überlebensgroß auf den Betrachter ein und bedrängen ihn mit ihrem Fleisch und ihren Genitalien.
Auch Lucian Freud nennt, wie Sigmund Freud, die Dinge unmissverständlich bei ihrem Namen: Er malt das Genital seiner Modelle ohne Feigenblatt, individuell, detailgetreu, ungeschönt, sogar eher hässlich. Lucian Freud malt keine Akte, er malt Menschen, Persönlichkeiten, die durch ihre Körper repräsentiert sind. Auch bei ihm ist das Ich vor allem ein körperliches. Das Portrait richtet sich hier nicht auf das Gesicht als Ausdruck des Geistigen und der Gedanken, oder wenigstens des Charakters, sondern auf den Körper als Projektionsfläche des Psychischen: die Person ist der Körper und der Körper ist die Person. Ganz primär ist sie Geschlecht und Haut: Geschlecht und Haut bezeichnen die Körper wie die Seelen.
Was an Lucian Freuds Bildern so bestürzend ist, ist die Erfahrung, die sie heutzutage auslösen: Die Sexualität ist beunruhigend, nicht der Sex. Es sind gar nicht die flachen Bilder, die Zweidimensionalität der Videos in ihrer Wiederholung von immer wieder “Bauch – Titten – Po”, die pornographischen Bilder, die verstören. Das Beunruhigende in den Gemälde von Lucian Freud hat mit der Erkenntnis zu tun, dass hier die Wahrheit der eigenen Sexualität dargestellt wird, dass man selber auch so oder so ähnlich ist oder aussieht, oder einmal aussehen könnte, oder doch einmal wird. Der Sex lässt sich zur Seite legen, die Sexualität hat etwas Unentrinnbares. Man blickt in einen Spiegel, hofft, dass es ein Zerrspiegel ist und fühlt sich doch getroffen, entblößt. Man kann sich nicht so leicht distanzieren wie von einem Pin up oder Centerfold. Lucian Freuds Körper lassen keine Distanzierung zu; sie lassen den Betrachter seinen eigenen Körper fühlen. Und sie lassen darüber neuerlich erfahrbar werden, dass die eigene Sexualität nicht etwas Gegebenes, sondern etwas Erworbenes ist: über Angst, Verwirrung, Scham und Schuld, Lust und Begierde; ein mühsam über die Jahre und Jahrzehnte Hergestelltes, Intimes und Verletzliches, das den Körper wie die Seele gezeichnet hat.
Das Bild “Sleeping by the Lion Carpet” von 1995/96 ist eine Darstellung des Modells Sue Tilley, die als Sachbearbeiterin bei der Londoner Wohngeldstelle arbeitete und deshalb auch informell “Die Sekretärin” genannt wird. Ich werde sie so nennen, weil sie so gut zu Sigmund Freuds Fallgeschichten mit den anonymisierten Frauennamen und eben zu ihrer Gegenspielerin in meiner Arbeit, der Dora, passt, die ja auch korrekter Weise neutralisierend Bruchstück einer Hysterie-Analyse heißt.
Wir sehen eine massige Frau, im Sessel schlafend. Der Körper ist groß, nach vorne ins Bild gestellt, besser gelegt, der Kopf nach hinten und das Gesicht halb im Schatten, teilweise verdeckt durch eine Hand, die den Kopf stützt und dabei das Gesicht verzerrt. Das Gesicht ist selbst nur so groß wie eine der beiden Brüste, die schwer, breit und voll auf dem Bauch der Frau aufliegen, der sich wiederum nach oben wölbt.
Zusammen mit den kräftigen Oberarmen nehmen die Brüste die breiteste Stelle des Bildes ein. Das Licht fällt auf diese Brüste, den Bauch und die Schenkel. Sie sind so ausgeleuchtet wie sonst bei einer Portraitaufnahme das Gesicht. Die Haut strahlt großflächig, sie bedeckt annähernd zwei Drittel der Gesamtfläche des Bildes. Damit wird der Haut die prominenteste Bedeutung in der Darstellung dieses Frauenkörpers beigemessen. Das Geschlecht ist hier, anders als in den meisten der anderen Naked Portraits von Lucian Freud, nicht exponiert, sondern verdeckt von einem Fettlappen des Bauches, der sich über den Schamhügel wölbt. Die Knie sind dick, unförmig, die Unterschenkel gespreizt wegen der fleischigen Oberschenkel, die Füße ungelenk auf dem Boden platziert. Die Hand, die den Kopf stützt, berührt mit der gesamten Innenfläche des Ober- und Unterarmes die Haut der rechten Brust, während der andere Arm nach unten gerichtet eng am Körper anliegt, wobei die linke Hand schließlich mit der Handfläche nach unten auf dem linken Oberschenkel zu liegen kommt.
Die Frau berührt sich zweimal selbst. Einmal mit dem Arm die rechte Brust und gegenüberliegend mit dem linken Arm die linke Bauchseite und den Schenkel. Der Daumen der Hand, die ganz entspannt zu liegen scheint, reicht sehr nah an die Gegend des Genitales heran, er leitet, leicht abgespreizt, den Blick des Betrachters auf dieses Versteckte und suggeriert die Möglichkeit, dass die Hand schlaftrunken dorthin wandern könnte, um sich an ihm zu betätigen. Das könnte die dritte Selbstberührung sein.
Die Frau scheint alleine im Raum. Wir sehen in ihr eine dicke, unproportionierte, mittel alte Frau, mit hängendem Fleisch und zerbeulter Haut, vielleicht Abscheu, vielleicht Mitleid, vielleicht Zuneigung erregend. Aber sie ist definitiv eine Frau mit einer eigenen Sexualität. Sie erregt nicht die Sexualität beim Betrachter, sie hat eine. Dies wird neben der Selbstberührung der Haut und die möglicherweise wandernde Hand noch durch den Hintergrund suggeriert, den “Lion Carpet”. So trivial “freudianisch” es erscheinen mag, darin die Darstellung des Triebhaften zu sehen, so berechtigt erscheint es hier. Die Sexualität ist eigen aber nicht originell: Auf der Ebene der Darstellung ihrer Ubiquität bedient sich Lucian Freud, so wie auch Sigmund Freud es in den Träumen und Phantasien seiner Patienten gezeigt hat, der immer wieder gleichen Metaphern – wilde Tiere, Schlangen, ein “Täschchen” oder “Schmuckkästchen”, wie bei Dora. Auf der generellen Ebene heißt das: Auch diese Frau, egal, wie sie ist, egal, wie sie aussieht, hat, so wie alle anderen, eine Sexualität. Diese wird als triebhaft, ungezügelt, ungezähmt und wild dargestellt, wie bei allen anderen. Daran, so könnte man Lucian Freud lesen, hat sich seit den Arbeiten des Großvaters von 1900 nichts geändert – die Grundmuster sind vorgegeben.
Aber “Die Sekretärin” ist zugleich eine Verkörperung dieses Allgemeinen wie des Besonderen und Individuellen: Ihr Körper ist nicht überindividuell geschönt, er ist keine Ikone. Er ist sorgfältig in seinem persönlichen, fast pathologischen Fett, das auf ihre Gefräßigkeit und Gier hindeutet, liebevoll ausgestaltet. Ihr fort- geschrittenes Alter wird nicht verschleiert und die Spuren, die es auf der Haut hinterlassen hat, werden nicht geglättet. Vielleicht ist sie einsam und auf die Selbstbefriedigung angewiesen, vielleicht gibt sie ihr den Vorzug. Jedenfalls wird die Haut hier als Sexualorgan in den Mittelpunkt gerückt. Lucian Freud betont die Haut, um die Qualität der Berührung, des Autoerotischen des Körpers zu fassen zu kriegen. Dazu muss die Haut so gemalt, dass sie den Eindruck der Nacktheit, das Gefühl der Wärme und den Druck der Selbstberührung, wiedergibt, eine wirkliche Haut, mit ihrer taktilen Textur. Daher, meine ich, rührt sein Zugriff auf die gegenständliche Malerei, der kein Rückgriff ist sondern eine Fortentwicklung im Dienste der Repräsentation bestimmter Inhalte. Ein abstrakter Mensch hat keine Autoerotik.
Auch diese Frau also hat eine Sexualität, die sie lebt, ein wildes Land, mit Erregungen und Gefährdungen, verkörpert in der Savanne und den Löwen. In diesem Gewöhnlichen des Sexuellen, das sich nicht kümmert um gängige Begriffe von Attraktivität, Status, Geld oder “Location”, wie man heute sagt, das sich formt in der Intimität des Häuslichen, wie von Sigmund Freud beschrieben, oder in seinem Studio, wie bei Lucian Freud dargestellt, unter Familienmitgliedern und engen Freunden, entfaltet sich die Begierde. Vor diesem Hintergrund relativieren sich Abhängigkeiten von gesellschaftlichen Begriffen von Schönheit und Hässlichkeit, glatter oder schlaffer Haut, Schlankheit Fülle. Für die Auslösung eines tiefen sexuellen Begehrens es Nähe, oder sogar Enge. Begehren kann durch ganz Anderes Schönheit, eben durch Idiosynkrasien, wie einen bestimmten Blick, Klang der Stimme, den Geruch der Haut oder eine besondere Eigenart, sich zu bewegen, hervorgerufen werden. Darin liegt das Schockierende aber auch das Anrührende und Erleichternde der Aussage: Diese Bedingungen von Sexualität machen unabhängig von einem gesellschaftlichen Außen, setzen sich über verordnete Normen hinweg und verbürgen damit einen Bereich subjektiver Freiheit.
Eine Patientin berichtete mir schamhaft von dem leicht ranzigen Geruch der Haare ihres Partners, der sie anzieht. Der Vater war asozial gewesen und, von der Familie ausgestoßen, meistens abwesend. Sie aber liebte ihn. Über seinen Geruch konnte sie ihn sich zurückholen.
Damit ist der immer wieder ungeheuerliche psycho-sexuelle Zusammenhang hergestellt, wie Sigmund Freud ihn aufspürte: Die wirklichen Körper erzählen eine Geschichte. Sex ist überall, glatte Haut ist ubiquitär, Sex und Pornographie ist globalisierbar, aber nicht die Sexualität (vgl. Maak 2002, S. 25). Gegen die Verflachung der Fernsehschirmbilder setzt Lucian Freud Dreidimensionalität: Körper von Gewicht. Über seine Bilder vermittelt er die Erfahrung von Berührung und Druck. Wenn Körper auf einem anderen liegen, umhüllen sie ihn mit ihrer Wärme oder sie erdrücken ihn. In jedem Fall hinterlassen sie einen Eindruck.
Wenn bei Sigmund Freud die Zeitdimension der Sexualität im Zentrum steht, so ist es bei Lucian Freud der Raum, die Körper im physikalischen Sinn als Materie verdrängend. Aber auch bei ihm kommt die Zeitdimension als wesentliches Element herein. Es sind über Jahre erworbene Körper, denen die Erfahrungen eingeschrieben sind. Sie beanspruchen Raum und Zeit (vgl. hierzu a. Butler 1993). Raum und Zeit sind die Komponenten der Realität welche die Sexualität vom Sex unterscheiden.
Über die malerische Repräsentation dieses Eindrucks im Körper gibt Lucian Freud analog auch der psychischen Erfahrung das Gewicht und den Raum, der ihr zukommt. Dora spürte noch lange den Druck des Körpers des Herrn K. auf ihrem Brustkasten, hatte Sigmund Freud geschrieben (vgl. a.a.O., S. 188ff.). Die Psyche reagiert: Die Spuren graben sich ein, in die Körper und die Seelen.
Wenn man akzeptiert, wie uns Sigmund Freud gezeigt hat, dass nicht die Abbildung dessen, was da ist, pornographisch ist, sondern die perverse Phantasie, die dem Abbild hinzugefügt wird um das Objekt zu sexualisieren und unter Beimischung von Sadismus zu degradieren, so sind Lucian Freuds Bilder nicht im mindesten pornographisch. Sie zeigen, fast nüchtern, die Realität der Körper aus Fleisch und Blut. Und sie setzen sich darüber auch mit der Vergänglichkeit auseinander. Sie zeigen Körper, die mit der Zeit verfallen, auch wenn die Phantasien zeitlos sind. Hierin liegt eine Verweigerung gegenüber den manischen Mechanismen des Sex, die auf den Augenblick abgestellt sind. Die Sexualität in Lucian Freuds Bildern beinhaltet eine Geste der Trauer in der Vorahnung des Todes. Die zeitliche Dimension im Fortschreiten ihrer infantilen Formen über die Reife bis zum Verfall wird dem Betrachter vor Augen geführt und lässt ihn teilhaben an der Wahrheit seiner eigenen Vergänglichkeit.
In diesem Sinn setzt Lucian Freud das Werk Sigmund Freuds fort: Er ist ein Aufklärer, der zeigt, dass das individuelle menschliche Leben eine eigene Bedeutung und einen eigenen Wert gewinnt. In unserer durchsexualisierten Bilderwelt, in der die Sexualität des Einzelnen unterzugehen droht im Klischee, lenkt er den Blick neuerlich auf die Unverwechselbarkeit des Individuellen und die sexuelle Besonderheit des Subjekts aber auch auf seine eigene Auseinandersetzung mit dem Tod. Er zeigt, dass die Sexualität eine Schöpfung ist, bei der jeder sein eigener Schöpfer ist. Sie ist das Resultat von psychischer Arbeit, die im Ich stattfindet und keineswegs davon abzutrennen ist als eine allein triebhafte Angelegenheit. Darüber setzt er auch den Körper wieder in sein Recht ein, nicht den virtuellen globalisierten Körper der Video und Fernsehpornos, sondern den wirklichen, den Leib, der leidet, den Leib, der blutet, den Körper der “verwöhnten Lippenzone” Doras oder den Körper mit den Beulen und Falten der Sekretärin, den schönen und hässlichen, erbarmungswürdigen und lüsternen, den, der als einziger ein tiefes Begehren entfachen kann.
Auszug aus:
Rotraut De Clerck: Der zudringliche Blick. Sexualität und Körper: Subjektvorstellungen bei Sigmund Freud und Lucian Freud. Mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial Verlags.
Letzte Änderung: 14.10.2022 | Erstellt am: 14.10.2022
Der vollständige Essay von Rotraut De Clerck: “Der zudringliche Blick” ist aus:
Ästhetische Erfahrungen
Neue Wege zur Psychoanalyse künstlerischer Prozesse
Herausgegeben von Philipp Soldt
Psychosozial-Verlag
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