Es waren nicht irgendwelche Filme, die man sieht und rasch vergisst. Von „Stranger than Paradise“ und „Down by Law“ bis „Paterson“ reichen die nachhaltigen Kinoerlebnisse, die Jim Jarmusch mit seiner eigenwilligen Arbeitsweise ermöglicht hat. Am 22. Januar wird der Regisseur, Drehbuchautor, Schauspieler, Kameramann und Filmproduzent 70 Jahre alt. Vor einem Vierteljahrhundert hat Marli Feldvoß in Venedig mit Jarmusch gesprochen.
Marli Feldvoß: Wie sind Sie auf die Idee zu „Year of the Horse“ gekommen?
Jim Jarmusch: Dieser Film war nicht geplant. Deshalb hat er so viel Spaß gemacht. Es bestand keine Absicht; wir haben die Absichten erst gefunden, als wir den Film drehten. Ich habe ihn weder vorher geschrieben noch entworfen. Der Entwurf kam erst, als wir das ganze Material zusammen hatten. In der Schnittphase schälte sich dann so etwas wie eine Absicht heraus, nämlich das lange Bestehen einer großen Rock ’n’ Roll-Gruppe hochleben zu lassen, auch ihre weniger bekannten Mitglieder vorzustellen und zu zeigen, welche Musik sie heute machen.
Was fasziniert Sie besonders am Rock ’n’ Roll und an der Musik von Neil Young?
Ich bin mit Rock ’n’ Roll aufgewachsen, es war für mich als Kid sehr wichtig. Es war befreiend. Es war etwas Eigenes. Aber ich mag viele Arten von Musik; von jeder Musik etwas; nur mit dem Swing habe ich Probleme. Mir gefällt auch nicht alles am Rock ’n’ Roll. Mir gefällt Material, das nicht imitiert, das authentisch ist. Neil Young ist dafür ein gutes Beispiel. Er ist kein Imitator. Er verkörpert bestimmte Traditionen des frühen Rock ’n’ Roll oder der Folkmusik, aber er verarbeitet es zu einer eigenen Form, in der Neil Young etwas über Neil Young ausdrückt. Diese Art von Musiker spricht mich an. Die Form ist nicht so wichtig, es könnte auch John Coltrane sein, oder auch klassische Musik, die Form ist nicht so wichtig, sondern das Herz. Ich mag Dinge, die sich echt anfühlen, die etwas von innen her ausdrücken; ich mag keine Oberflächen.
Sollte der Film einen bestimmten Look haben? Die sechziger Jahre aus heutiger Sicht?
Das kann jeder für sich entscheiden. Für mich sieht der Film so aus, wie er eben ist. Er hat eine rauhe visuelle Qualität, eine hochentwickelte Klang-Qualität, kombiniert mit sehr roher Musik. Ihre Musik ist roh und schön. Und so wollte ich auch die Bilder haben, roh und irgendwie schön. Manche Leute finden das nicht schön, sondern ungeschlacht (lacht). Aber ich mag Super-8, und ich mag Filmmaterial, das eine sinnlich erfahrbare Qualität hat. Deshalb ist für mich Schönheit in dieser Art von Filmmaterial.
Im Vorspann ist ja auch zu lesen: „Proudly filmed in Super-8“. Was gefällt Ihnen so gut an Super-8?
Es ist so filmisch, es ist überhaupt nicht wie Video. Das Korn ist so offensichtlich, die Kameras sind klein und tragbar, für Amateure gedacht, auch das gefällt mir. Sie sollten mit der Hand gehalten werden, sie sind für flüchtige Skizzen gedacht, für Familien- und Ferienzwecke, für home-movies oder, um mit dem Material herumzuspielen. Das ist sehr befreiend, es ist nicht so kostbar. Man fühlt sich nicht wie bei einem kostspieligen 35-mm Film, man dreht aus dem Stehgreif; es ist mehr eine Bleistiftzeichnung als ein Ölgemälde.
Ihnen gelingen mit diesem Material sehr archaische Bilder, es sieht oft so aus wie bei einem Stammestreffen. War das Absicht?
Ich habe das nicht entworfen, aber ich habe schon beim Drehen so ein Gefühl gehabt. Es war kein bewußtes Suchen, sondern etwas, was ich entdeckte. Es war einfach da.
Ist das so etwas wie die Essenz von Neil Young und von Rock ’n’ Roll?
Ich glaube schon. Rock ’n’ Roll ist eine Musik, die von jungen Leuten gespielt werden kann, das müssen keine virtuosen Musiker sein. Es ist eine Musik, die Kids in der Garage spielen. Sie ist wild und ungehobelt und extrem expressiv. Das gefällt mir so am Rock ’n’ Roll; man muß nicht Jimi Hendrix sein, man kann auch die Sexpistols sein. Man kann einfach sich selber über die Instrumente ausdrücken, und es gibt keinen großen Druck, weil keiner sagt: Die beherrschen ja nicht mal ihre Instrumente, die sind ja furchtbar – deshalb sind sie vielleicht gerade gut. Es geht darum, wie man sich fühlt, nicht darum, wo man zur Schule gegangen ist.
Der Film ist ein Gruppenporträt. Was hat diese Band eigentlich so lange zusammengehalten?
Das kann man nicht so leicht beantworten (lacht). Sie haben eine so lange gemeinsame Geschichte. Ihnen liegt sehr viel am Geist ihrer Musik. Sie sind sehr emotionale Typen. Sie interessieren sich nicht für das Äußerliche, sondern dafür, wo es herkommt. Es ist ihnen egal, was sie anhaben. Sie sehen aus wie die Müllabfuhr. Es ist kein oberflächliches Image, es kommt aus ihrem Innern.
Sie haben immer als ein independent filmmaker gegolten. Seit Ihren Anfängen hat sich in der Filmindustrie jedoch sehr viel verändert. Wie sehen Sie diesen Status heute?
Ich denke, daß sie das Wort independent übernommen haben und es dafür benutzen, ihre Produkte zu verkaufen. Deshalb bedeutet das Wort heute gar nichts mehr. Für mich heißt independent, daß die künstlerischen, kreativen Entscheidungen bei einem Film von den Filmemachern und nicht von den Finanziers getroffen werden. Und das stimmt heute nicht mehr für Filme, die independent genannt werden.
Wie würden Sie Ihre Filme dann einordnen?
Ich bin nicht der Richtige dafür, Etiketten zu entwerfen, denn ich mag keine Etiketten. Nehmen Sie den Rock ’n’ Roll, da gibt es diese Einteilung in Perioden, da ist Rockebilly, dann in den Sechzigern die britische Invasion, Psychedelia, Punk Rock, Grunge und all diese Etiketten. Die sind nur dazu da, ein Produkt aus der Sache zu machen. Wenn Sie in einem Hubschrauber oder in einem Flugzeug sitzen und von oben aufs Meer schauen, können Sie auch nicht die Wellen zählen, sie nicht voneinander trennen und sagen: Guck mal, diese Welle ist Punk Rock, weil Punk Rock von etwas anderem herkommt, weil sich alle Wellen überschneiden und alle Wellen Teil des Ozeans sind. Ich schaue lieber auf den Ozean. Und Film ist so eine wunderbare Sache, weil man alles mögliche machen kann.
Es gibt große kommerzielle Filme, gute Unterhaltungsfilme, die Sinn oder Spaß machen, und es gibt ganz andere, abstrakte, ohne Schauspieler, die sich mit Bildsprache, Licht oder Ton beschäftigen. Da sollte Platz für alle sein, denn die Form eignet sich für all diese Dinge. Hollywood ist nur eine Art, die Dinge zu sehen und eine sehr beschränkte dazu.
Welche Beziehung besteht für Sie zwischen diesem Musikfilm und ihren sonstigen sehr literarischen Arbeiten?
Mit Year of the Horse wollte ich eine kleine Skizze über einige Künstler machen, die ich wirklich verehre, über das, was sie mir und der Musikwelt gegeben haben. Es ist ein Film für sie, und sie sind das Herz des Films. Ich bin nur der Typ, der das Bild rahmt, wie ein Rahmenmacher; wenn ich hingegen einen Spielfilm mache, den ich schreibe, bin ich eher wie der Maler des Gemäldes. Diesen Film haben wir nur gedreht, weil Neil mich anrief und fragte: Warum machen wir nicht wieder einen Film, der wie das Video aussieht, das du mit uns gemacht hast, das auf Super-8 gedreht war. Wir wußten nicht, was daraus wird, es hätte genausogut ein anderes Video entstehen können, aber jetzt ist das dabei herausgekommen. Was immer das ist. Ich plane nichts im voraus. Ich sitze zwar jetzt an meinem nächsten Projekt, einem Spielfilm, aber ansonsten weiß ich nicht, was ich tue.
Wenn Sie ein neues Projekt angehen, wann denken Sie an den Stil des Films?
Kommt auf den Film an. Bei einem Spielfilm fallen mir schon beim Schreiben Ideen für die Machart ein. Der Inhalt inspiriert mich auch für den Stil. In diesem Fall war es das Video, das diesem Film sehr ähnlich sieht.
Wie sehen Sie Neil Youngs Entwicklung? Am Ende des Films schneiden Sie zwei Stücke aneinander, eines von 1976, das andere von 1996. Das endet alles in einer Art Kakophonie. Wie sehen Sie Neil Young als Musiker?
Ich sehe ihn als jemanden, der sich ständig auf sehr spannende Art weiterentwickelt. Zum Beispiel finde ich das Gitarrensolo, das er 1976 in „Like a Hurricane“ spielt, sehr, sehr schön, aber sehr glatt, trotzdem sehr Neil-Young-mäßig, sehr lyrisch und glatt. Ich wollte mit dem großen Zeitsprung den Kontrast zeigen, wie er mit dem gleichen Lied etwas macht, was ich nicht glatt nennen würde. Es ist sehr wild und, wie Sie sagen, eine Kakophonie. Es zeigt nur, wie er die gleiche Sache in einer anderen Periode auffaßt. Er könnte sich auch morgen hinstellen und das gleiche Lied mit einer akustischen Gitarre spielen, und es würde wieder etwas ganz anderes dabei herauskommen. Ich weiß nicht, ob das überhaupt eine Antwort ist. (lacht)
Wer hat die Auswahl der Lieder getroffen?
Neil hat mir freie Wahl gelassen. Ich habe auf die allzu bekannten Lieder verzichtet. Ich wollte die beiden neuen Lieder aus ihrer letzten Platte „Slip away in big time“ bringen, die für mich klassische Crazy-Horse-Songs sind, und dann wollte ich noch einige Lieder von der Platte „Zooma“, meiner Lieblingsplatte, bringen, und es gibt „Stupid Girl“ und „Borstal Blues“. Ich habe das ausgesucht, was mir besonders gefällt, und er war mit der Auswahl zufrieden.
Lassen Sie sich von der Musik inspirieren?
Musik und Film sind sich ähnlich, beide sind rhythmisch. Wenn man ein Buch liest, kann man innehalten, sich ein Urteil bilden, einen Absatz nochmals lesen; wenn man sich ein Bild ansieht, kann man schauen, solange man will. Aber Musik und Film bewegen sich auf rhythmische Art und Weise an dir vorbei, das ist Teil ihres Designs, Teil ihres Ausdrucks. Deshalb sind sie ähnliche Formen.
Wie war die Zusammenarbeit mit Neil Young bei Ihren letzten Film Dead Man?
Seine Musik für Dead Man war für mich seine emotionale Reaktion auf die Geschichte durch seine Gitarre. Für mich hat das dem Film eine weitere Ebene hinzugefügt. Für mich ist Dead Man ein Film, der viele Erzählebenen haben sollte. Man muß ja nicht alle verfolgen. Man muß zum Beispiel nichts über William Blake wissen, wenn ja, ist das eine weitere Ebene. Man muß nichts über die Geschichte der Feuerwaffen wissen, aber wenn man sich dafür interessiert, bietet der Film eine Ebene an, oder zur Indianerkultur. Aber die Musik ist natürlich eine sehr wichtige Ebene, weil sie emotional mit der Struktur des Films verwoben ist. Er hat beinahe eine weitere Filmfigur hinzugefügt. Die Musik war wie ein Geschenk für den Film.
Was wünschen Sie sich vom Kino der Zukunft?
Es soll sich zurück in Richtung Ausdruck entwickeln und nicht in Richtung Marktanalyse.
Das Gespräch wurde 1997 auf dem Filmfestival in Venedig geführt und ist zuerst in der NZZ vom 16. Juli 1998 erschienen.
Letzte Änderung: 22.01.2023 | Erstellt am: 22.01.2023
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