Warum Briony nicht sehen kann

Warum Briony nicht sehen kann

Vanessa Redgrave im Gespräch
Vanessa Redgrave | © Wikimedia Commons

Wir können gar nicht sehen, ohne das Wahrgenommene zu interpretieren. Das kann zu frappierenden Missverständnissen führen, zu Fehlinterpretationen, die, etwa durch einen Rachewunsch motiviert, fatale Schuldzuweisungen zur Folge haben können. Das und die sich daraus ergebenden Lebenslügen bilden die Basis des 2007 erschienenen Films „Abbitte“. Marli Feldvoß sprach im selben Jahr mit Vanessa Redgrave, die der Regisseur Joe Wright mit der Rolle der alten Briony Tallis, Urheberin des Dramas, betraut hatte.

Wenn man Vanessa Redgrave in ihrem kurzen Auftritt in der Ian-McEwan-Verfilmung „Abbitte“ sieht, in der Rolle der alt gewordenen Briony, muß man unwillkürlich an die reale, militante, fast übertrieben aufrichtige Vanessa Redgrave denken. Sie ist das leibhaftige Gegenteil von dieser stets lavierenden Romanfigur Briony, die aus Eifersucht, Rache, Karrieresucht und Unfähigkeit ihr Leben mit einer Lüge verbringt.

Marli Feldvoß: Mrs. Redgrave, deprimiert Sie das nicht, wenn Sie, wie in „Abbitte“ nur fünf Minuten lang in einem Film auftreten dürfen?

Vanessa Redgrave: (lachend) Nun ja, ich habe einen Oscar für einen Film gewonnen, obwohl ich nur vier Minuten lang zu sehen war. Das war „Julia“. Ich selbst habe die Minuten nicht gezählt. Was sind schon Minuten.

Stört es Sie nicht, daß Sie die Figur der Briony nicht besser entwickeln konnten?

Ganz und gar nicht. Wissen Sie, ich habe die Bilder, leider nicht die Originale, der großen chinesischen und japanischen Meister gesehen, die in drei Pinselstrichen eine ganze Welt erschaffen konnten. Und seitdem ich das gesehen und darüber gelesen habe, habe ich mir gedacht, wie wunderbar es ist, so etwas fertigzubringen. Und eigentlich habe ich es in noch kürzerer Zeit geschafft, als ich den Film „A Man For All Seasons“ unter der Regie von Fred Zinnemann drehte. Ich spielte Anne Boleyn ganz ohne Dialog. Zinnemann hat mich ausgesucht, weil er mir zutraute, dass ich in wenigen Sekunden etwas Außergewöhnliches über diese Frau aussagen könnte, die so viele Menschen und auch sich selbst ins Unglück stürzte. Ich hatte dazu eine Idee, die Zinnemann sehr gefallen hat: sie sollte lachen, lachen, unentwegt lachen. Das klingt vielleicht absurd, aber es hat funktioniert.

Was halten Sie von dieser Briony, die erst nach fünfzig Jahren für ihre unverzeihlichen Taten „Sorry“ sagt?

Nun, ich bin dazu erzogen worden „Sorry“ zu sagen, aber das ist die banale familiäre Ebene. Für mich liegt in „Abbitte“, im Buch wie im Film, eine Menge unter der Oberfläche verborgen. Es hat bei mir weitreichende Fragen ausgelöst. Nicht nur über mich selbst. Es ist für jeden ein Problem. Wenn man jemandem Schaden zufügt und es dann vergessen hat. Weil man es vergessen wollte. Ich meine aber auch den Schaden, der von vorgefaßten Meinungen ausgeht. Wenn die Leute nicht sehen, was in Wirklichkeit geschieht. Tolstoi schrieb darüber eine wunderbare Kurzgeschichte. Es ist das durchgängige Thema von „Abbitte“. Du hast Augen, Du kannst sehen, aber Du hast nichts gesehen, weil Deine Vorstellung eine Bedeutung davorgeschaltet hat, so daß die wahre Bedeutung gar nicht durchdringt oder keine Fragen mehr entstehen. Warum können wir nicht wahrhaftig sehen? „Abbitte“ erzählt die Geschichte, warum Briony nicht sehen kann. Und die Tragödie ist, dass Briony nicht wirklich Abbitte leisten kann.

Noel Coward hat einmal über Sie gesagt, dass Sie immer wahrhaftig seien, was immer Sie spielen. Was heißt das für Sie?

Ich horche in mich hinein, ob ich einer Figur oder einem Drehbuch glauben kann, ob es sich wahr anhört. Wenn ja, dann bin ich glücklich. Wenn man sich das Weltkino so anschaut, dann können sich die letzten Jahrgänge sehen lassen, weltweit. Ich hatte das Glück, gerade im letzten Jahr, an verschiedenen außerordentlichen Produktionen beteiligt zu sein. Auch „Abbitte“ gehört dazu. Aus langer Erfahrung weiß ich, ob etwas echt, ob es wahrhaftig ist. Ob Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit darin stecken oder Lüge oder eine Stimme, die etwas verbergen will. Ich höre das alles. Ich bin ein Radar, ein sehr entwickeltes Radarsystem, als Schauspielerin wohlgemerkt. Das gehört letztlich zur Schauspielerei dazu. „Halte den Spiegel dem Leben selbst vor“, sagt Hamlet. Das wurde uns allen beigebracht. Es ist also mein Beruf, die Natur zu studieren, menschliches Verhalten, und meine Kräfte zu entfalten, um mich auf eine bestimmte Rolle zu konzentrieren, wenn ich gefragt werde und dem Regisseur dabei helfen soll, die Essenz eines Augenblicks oder einer ganzen Geschichte herauszuarbeiten.

Hatten Sie außerhalb Ihrer Rolle Einfluß auf den Film?

Ich glaube nicht, dass Sie viele Schauspieler finden werden, die unbedingt bei der Regie mitmischen wollen. Vielleicht tun das die Amerikaner. Es ist schon schwer genug, sich auf die eigene Arbeit zu konzentrieren. Vielleicht haben wir britischen Schauspieler da unseren eigenen Kopf, daß wir da nicht reinreden wollen. Mir persönlich reicht es schon, wenn ich mich auf meine eigene Arbeit konzentriere, auf das, was ich glaube, tun zu müssen und was sich der Regisseur darunter vorstellen mag. Er ist schließlich der Dirigent des ganzen Orchesters. Die Geige sollte nicht dem Cello vorschreiben, eine andere Note zu spielen. So einfach ist das letztlich.

Zusammen mit Jane Fonda, „Hanoi Jane“, gelten Sie bis heute als „die“ politischen Ikonen der Filmindustrie. Gehen Sie noch mit dem Megaphon auf die Straße? Sind Sie noch eine militante Person?

Man kann viele Dinge tun, um die Kriege zu stoppen. Da muß man nicht unbedingt auf die Straße gehen. Ich engagiere mich schon lange Jahre als Unicef-Botschafterin, das ist eine hauptamtliche Tätigkeit. Wir versuchen, den Kindern zu helfen, egal wo. Das bedeutet auch, direkt in die Kriegszonen zu reisen. Das habe ich einen großen Teil meines Lebens gemacht. Ich habe die ganzen neunziger Jahre damit zugebracht, im Auftrag von Unicef nach Serbien, Kroatien und Sarajewo zu fahren, um den Kindern zu helfen. Viele Male. Auch nach Mazedonien und in den Kosovo.

Sie haben Ihren Oscar-Film „Julia“ über eine jüdische Widerstandskämpferin in den dreißiger Jahren einmal für den besten Film aller Zeiten gehalten…

Das ist Kino. Als ich während des Krieges in Slowenien war, besuchte ich ein psychologisches Beratungszentrum, das für ein Camp von 30.000 bosnischen Kindern zuständig war. Ich habe dort eine Frau kennengelernt, an die ich immer wieder denken muß, wenn wichtige Fragen auf mich zukommen. Sie ist Kroatin und Jüdin. Sie wurde, als die Hitlerfaschisten und die Ustascha, die kroatischen Faschisten, an der Macht waren, von einem einfachen kroatischen Bauern und seiner Frau gerettet. Sie haben sie zu Hause versteckt und nicht verraten, als die Faschisten kamen, die Geheimpolizei oder was auch immer. Das ist schon eine große Sache. Sie sagte, nach all dem, was sie durchgemacht hat: Dieser menschenfreundliche Akt hat mich gerettet. Weil sie schon als Kind gelernt hat, dass es so etwas wie Menschenfreundlichkeit gibt. Das wurde für sie zum Maßstab dessen, was es heißt zu leben.

Aber Sie sind dem Theater und dem Kino doch immer treu geblieben?

Ja, ich liebe meine Arbeit über alles. Ich trainiere, ich mache Sprechübungen, ich versuche gesund zu bleiben, mit Ausnahme des Rauchens. Übles Laster. Aber ich stimme ‚mein Instrument‘ immer in Absprache mit dem Dirigenten. Es ist komplex und einfach zugleich. Für mich ist es eine Ehre, an einer wunderbaren Arbeit beteiligt zu sein und wenn es nur eine einzige Szene ist. Es ist im Interesse von etwas, das größer ist als ich selbst, das unbedingt viel größer sein sollte als ich selbst.
 
 
 
 
Das Gespräch wurde am 30. August 2007 in Venedig geführt. Erstveröffentlichung im BR 2 Kulturjournal am 4. November 2007.

Letzte Änderung: 26.09.2023  |  Erstellt am: 26.09.2023

Abbitte Filmplakat | © Foto: Wikimedia Commons

ABBITTE

Regie
Joe Wright
Drehbuch
Christopher Hampton
Produktion
Tim Bevan,
Eric Fellner,
Ian McEwan,
Paul Webster
Musik
Dario Marianelli
Kamera
Seamus McGar-vey
Schnitt
Paul Tothill

BESETZUNG
• Keira Knightley: Cecilia Tallis
• James McAvoy: Robbie Turner
• Saoirse Ronan: Briony Tallis, 13 Jahre
• Romola Garai: Briony Tallis, 18 Jahre
• Vanessa Redgrave: Briony Tallis, 77 Jahre
• Harriet Walter: Emily Tallis, Mutter der Geschwister
• Patrick Kennedy: Leon Tallis
• Brenda Blethyn: Grace Turner, Mutter von Robbie
• Juno Temple: Lola Quincey
• Felix von Simson: Jackson Quincey
• Charlie von Simson: Pierrot Quincey
• Benedict Cumberbatch: Paul Marshall
• Daniel Mays: Tommy Nettle
• Nonso Anozie: Frank Mace
• Michelle Duncan: Fiona Maguire

divider

Hat dir der Beitrag gefallen? Teile ihn mit deinen Freunden:

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen