Vom Anderssein

Vom Anderssein

Alexander Zemlinskys „Der Traumgörge“
AJ Glueckert (Görge) und im Hintergrund Zuzana Marková  | © Barbara Aumüller

In kunstvoll reduzierter Bühnenumgebung Platz für das durch magische Musik erzeugte Kopfkino schaffen. So lässt sich am treffendsten die Produktion von „Der Traumgörge“ umschreiben. Die von Alexander Zemlinsky komponierte Oper mit der schicksalhaften Aufführungsgeschichte erlebte in der Oper Frankfurt eine Neubelebung mit großartigen Künstlern. Allen voran der Tenor AJ Glueckert und die Sopranistin Zuzana Marková in den Hauptrollen. Andrea Richter war bei der Premiere dabei.

Unter einem ruhigen dunklen Nachthimmel, an dem helle Harfen-Sterne funkeln; eine Celesta schickt einen Klang-Meteoriten. Innerhalb von eineinhalb Minuten gelingt es Zemlinsky, ein musikalisches Firmament auszubreiten, unter dem man ewig weiterträumen könnte. Dort liest Görge, der gutmütige Träumer. Doch die bodenständige Grete platzt in seine Traumwelt. Mit einem „Husch, husch!“ will sie eine Katze vertreiben. „Du, lass mir den Kater“ bittet Görge. „Was soll‘n denn das wieder für Dummheiten sein?“, fragt Grete. Görges Antwort: „Hast du noch nie von dem Kater gehört, der wie ein Fürst geehrt? Vom großen gestiefelten Kater…?“ Damit ist das Spannungsfeld zwischen dem „Normalen“ (Grete: Magdalena Hinterdobler, Sopran) und dem „Anderen“ (Görge: AJ Glueckert, Tenor) nach zweieinhalb Minuten sowohl inhaltlich als auch musikalisch abgesteckt. Die Beiden sollen sich verloben, was schief gehen muss. Denn die derbe Grete liebt Hans, und der vom Volk verspottete, aber wirtschaftlich wohl situierte Görge die Traumprinzessin (Zuzana Marková, Sopran) aus seinen Märchen. Eine tolle Frau, groß, schlank und elegant, schon optisch das krasse Gegenteil von Grete und den Leuten des Dorfs. Sie unterstützt ihn bei seiner Vision von einer besseren Welt. Sie taucht im 2. Akt als verzweifelte Gertraud auf, die vom aggressiven Volk als Hexe gejagt wird. Der geflohene, inzwischen verarmte Außenseiter Görge kehrt zurück und verliebt sich in sie. Das Volk, das gegen „die da oben“ rebelliert (großartig Iain MacNeil, Bariton, und Michael Porter, Tenor), will nun ausgerechnet Görge für die Realisierung der Umsturzpläne gewinnen. Dafür soll er auf Gertraud verzichten. Er lehnt ab. Der wütende Mob bringt sie um. Im Nachspiel leben die beiden „Anderen“ in einer friedlichen Welt und träumen und spielen und schweben.

Der Traumgörge. Michael Porter (Züngl), AJ Glueckert (Görge) und Iain MacNeil (Kaspar) | © Foto: Barbara Aumüller

Die im Grunde genommen simple Handlung erfährt ihre dramatische Ausgestaltung durch die Musik. In jedem Moment schildert sie das Geschehen. Episch-sphärische Klänge, oft an der Grenze der Tonalität ähnlich wie bei Richard Strauss und Gustav Mahler, wechseln sich mit lied- und lebhafter Harmonik ab, lyrisch, zarte Arien mit rauem Volksgepolter in großen Chorszenen. Das Werk als opulent zu bezeichnen, wäre untertrieben. Es entwickelt mit seiner abwechslungsreichen, eigenwilligen Klangsprache einen Sog, der sogar Wagner übertrifft, allerdings mit dem großen Vorteil, schneller zum Punkt zu kommen. Wobei die Anforderungen an die Musiker enorm hoch sind. Ein 100-Mensch-Orchester muss im Graben mal zu symphonischer Größe angetrieben und Sekunden später zu träumerischem Sphärenklang zurückgenommen werden. Das gelang Markus Poschner ausgezeichnet. Ohne ein äußerst durchdachtes und diszipliniertes Beherrschen der Stimmungsschwankungen und vor allem der Notwendigkeiten für die Sänger:innen könnte die Komplexität des faszinierenden Werks nicht ihren Sog entfalten. Insbesondere die Hauptpartie des Görge wäre nicht durchzuhalten. Denn insbesondere von ihm fordert Zemlinskys Komposition das Äußerste. Sowohl konditionell als auch gesanglich steht sie den Anforderungen an einen Tristan in keiner Weise nach. Der Sänger muss seine Kräfte sehr genau einteilen, um bis zum Schluss durchzuhalten. AJ Glueckert hat die Aufgabe bravourös gemeistert.

Der Traumgörge. Zuzana Marková (Gertraud) und AJ Glueckert (Görge) sowie im Hintergrund Ensemble | © Foto: Barbara Aumüller

Alexander Zemlinsky hat mit diesem Werk ein Porträt seiner Zeit und seiner selbst geschrieben. Seiner selbst insofern, als er in der damaligen Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende ein Außenseiter war und sich ausgerechnet in seine Schülerin Alma Schindler (später Mahler, Gropius, Werfel) verliebte. Zemlinsky liebte Alma abgöttisch („Ich will dich – mit jedem Atom meines Fühlens!“), lehnte aber ihr oberflächliches Gesellschaftsleben ab. Auch sie fühlte sich zunächst von ihm angezogen, beschrieb ihn allerdings als „Eine Carricatur − kinnlos, klein, mit herausquellenden Augen und einem zu verrückten Dirigieren.“ Sie heiratete statt Zemlinsky Gustav Mahler. Unter diesem unerfüllten Liebestrauma litt Zemlinsky Zeit seines Lebens, und es ist anzunehmen, dass der Komponist aus ihren Eigenschaften die drei Frauenfiguren Grete, Traumprinzessin und Gertraud erschuf. Zemlinsky, Schwager von Arnold Schönberg, lebte in der damals wohl kosmopolitischsten Stadt Europas, Wien, in dem sowohl das alte Habsburger Reich voller Traditionen als auch die Moderne direkt aufeinandertrafen. Verwirrung prägte, ähnlich wie heute, die Gesellschaft. Wie immer in solchen Umbruchsituationen wurde von Teilen der Gesellschaft nach einem Sündenbock gesucht und einer gefunden: Die Juden! Mit „Hep-Hep“ Rufen (in der Oper „Hex-Hex“) schürten sie die antisemitische Stimmung, die den Juden Zemlinsky erschütterten und seinen Freund Gustav Mahler dazu brachten, seinen Posten als Chef der Hofoper entnervt hinzuschmeißen. Mit der Folge, dass die von Mahler geplante (stark gestrichene) Uraufführung des Traumgörge in der Spielzeit 1907/08 platzte. Zemlinsky sollte sein Werk niemals auf der Bühne erleben. Denn nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 musste er ins Exil nach Amerika fliehen, wo er 1942 starb. Erst in den 1970er Jahren wurde Der Traumgörge in den Archiven der Wiener Staatsoper wiederendeckt und 1980 endlich in der Strichfassung Mahlers in Nürnberg uraufgeführt. Danach nur noch vier Mal. Das erstmals komplette Werk sollte in der Spielzeit 2021 in Frankfurt „uraufgeführt“ werden. Doch wieder ging es schief: Corona ließ den Traum sterben. Nun endlich ist das Meisterwerk Zemlinskys voll umfänglich zu genießen und zu bestaunen. Wer es verpasst, verpasst etwas!

Letzte Änderung: 02.03.2024  |  Erstellt am: 02.03.2024

Der Traumgörge
Oper in zwei Akten und einem Nachspiel
Musik Alexander Zemlinsky (1871-1942)
Text Leo Feld
Uraufführung 1980, Opernhaus Nürnberg

Musikalische Leitung Markus Poschner
Inszenierung Tilmann Köhler
Bühnenbild Karoly Risz
Kostüme Susanne Uhl
Choreografie Gal Fefferman
Licht Jan Hartmann
Chor Tilman Michael
Kinderchor Álvaro Corral Matute
Dramaturgie Zsolt Horpácsy

Görge AJ Glueckert
Prinzessin / Gertraud Zuzana Marková
Grete Magdalena Hinterdobler
Hans Liviu Holender
Marei Juanita Lascarro
Müller Dietrich Volle
Pastor Alfred Reiter
Züngl Michael Porter
Kaspar Iain MacNeil
Mathes Mikołaj Trąbka
Wirtin Barbara Zechmeister
Wirt Andrew Bidlack
Ein Bauer Thomas Schobert
Ein älterer Bauer Lars Rößler
Erster Bursche Alexey Egorov
Zweiter Bursche Yongchul Lim
Eine Traumstimme Tiina Lönnmark
Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Oper Frankfurt
Weitere Vorstellungen: 29.2. und 3.3., 9.3., 13.3., 16.3, 23.3., 31.3. 2024

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