„Sein Gewissen war rein. Seine Seele war keusch.“ So charakterisiert Joseph Roth Mendel Singer, für den sein Gott alles Unglück bereithält, was er einem einzelnen Menschen aufbürden kann. Johanna Wehner hat ihre Bühnenfassung, die am Schauspiel Frankfurt zu erleben ist, nach Roths Roman „Hiob“ gestaltet. Und Antje Kroll hat sie sich angesehen.
„Was ist das Leben?“, „Was erwarten Sie vom Leben?“, „Was tröstet Sie?“ Johanna Wehners Inszenierung „Hiob“, die sich eng an Joseph Roths 1930 erschienenem Roman orientiert, geht mit diesen direkt an die Zuschauerinnen und Zuschauer gerichteten Fragen, die vereinzelt auch antworten, gleich aufs Ganze. Sofort wird deutlich: Dieses Stück thematisiert existenzielle Fragen. Anders als der biblische Hiob des Alten Testaments ist der Rothsche zu Beginn kein wohlhabender Mann, sondern ein armer jüdischer Lehrer namens Mendel Singer, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seiner Frau Deborah und den Kindern, zwei Söhnen und einer Tochter, in sehr bescheidenen Verhältnissen in der Provinz auf dem Gebiet der heutigen Ukraine lebt. Doch obwohl sein „Leben ständig schwer und zuweilen sogar eine Plage war“, wie es im Stück heißt, dankt Mendel seinem Gott mehrfach täglich.
Am Morgen „für den Schlaf, für das Erwachen und den anbrechenden Tag. Wenn die Sonne unterging, betete er noch einmal. Wenn die ersten Sterne aufsprühten, betete er zum dritten Mal. Und bevor er sich schlafen legte, flüsterte er ein eiliges Gebet mit müden, aber eifrigen Lippen“. Der Alltag der Familie Singer ist sehr eng mit der Religion verwoben. Als ihr jüngster Sohn, den sie Menuchim nennen, schwer behindert zur Welt kommt, hofft das Ehepaar Singer auf ein Wunder, das ausbleibt. Eine medizinische Behandlung in einem Krankenhaus, die ein Arzt, der die Dorfbevölkerung gegen Pocken impft, anbietet, lehnt Mendel ab und setzt gegen den Willen seiner Frau durch, dass das Kind zu Hause bleibt. Seine Überzeugung: „Gesund machen kann ihn kein Doktor, wenn Gott nicht will. Soll er unter russischen Kindern aufwachsen? Kein heiliges Wort hören?“ Mendels Gebete und Fastentage helfen aber auch nicht, und schließlich lässt das Ehepaar das kranke Kind schweren Herzens zurück, um mit der Tochter nach New York auszuwandern, wo ein Sohn bereits lebt. Dieser Neuanfang bringt kein Glück, im Gegenteil, die Familie erleidet weitere Schicksalsschläge und der ehemals fromme Mendel bricht mit Gott: „Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehasst. (…) Alle Pfeile aus seinem Köcher haben mich schon getroffen. Er kann mich nur noch töten. Aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben“, so Mendels Fazit, das dem des biblischen Hiob entgegensteht. Sieben Darstellerinnen und Darsteller lassen den Alltag der Familie Singer lebendig werden. Jeder Ton und jede Geste „stimmen“, ohne dass die Rollen festgelegt wären. Das Bühnenbild setzt nur sparsame Akzente: zunächst mit einer Art Schuppen mit drei offenen Seiten, dann mit einer schwarzen stilisierten Freiheitsstatue. Es sind die stimmliche Vielfalt und die präzise Choreographie der Bewegungen, die im ersten Teil das Leben der armen jüdischen Bevölkerung in der ländlichen Ukraine heraufbeschwören und im zweiten Teil den Alltag der jüdischen Migrant:innen aus Osteuropa in New York. Auf die Frage „Was ist das Leben?“ gibt es letztlich keine – das Leben sei „gar nichts“, heißt es einmal – oder viele Antworten. Und dann geschieht ganz am Ende doch noch ein Wunder, so wie im Buch Hiob des Alten Testaments.
„Hiob“ ist im Schauspiel Frankfurt noch am 2.4., 18 Uhr; 17.4., 19.30 Uhr, zu sehen. Tickets: (069) 212 4 94 94, 14-45 €, erm. die Hälfte, www.schauspielfrankfurt.de
Letzte Änderung: 01.04.2023 | Erstellt am: 01.04.2023
HIOB
nach Joseph Roth
Regie: Johanna Wehner
Bühne: Volker Hintermeier
Kostüme: Ellen Hofmann
Musik: Daniel Kahn und Christian Dawid
Dramaturgie: Katrin Spira
Licht: Ellen Jaeger
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