Das international gefeierte Ensemble Nico and the Navigators zeigen erneut ein Meisterspiel mit den Sinnen. In ihrer neuen Inszenierung verweben sie Illusion, Ironie und postmoderne Erzählkunst zu einem Gesamtkunstwerk, das die Grenzen von Täuschung und Wahrheit auslotet. Zwischen atemberaubender (Tanz) Akrobatik, Klangcollagen und philosophischen Dialogen lässt die Truppe das Publikum lachen, staunen – und kurz innehalten. Doch wo endet der Schein, und wo beginnt die Lüge? Ein unvergesslicher Abend, der die Zuschauer mitreißt und nachdenklich stimmt.
Ganz sicher muß ich das 1998 von Nicola Hümpel und Oliver Proske gegründete Ensemble Nico and the Navigators nicht mehr eigens vorstellen. Längst tourt es international, wurde mehrmals für bedeutende (Musik)Theaterpreise nominiert, erhielt den Georg-Tabori-Preis; Nicola Hümpel selbst strich 2016 den Konrad-Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste ein. Doch das ist Betrieb.
Daß Proske und Hümpel Auge & Ohr auf die oft unmittelbare Gegenwart gerichtet halten, kommt ihm entgegen. Zugleich indes behalten sie im Blick, woraus sie sich speist – was künstlerisch zu einem starken Synkretismus führt, der sich, wie Alfred Schnittkes Musik, »polystilistisch« nennen ließe. Er verdankt sich postmodernen Narrativen ebenso, wie er auf den Spaß des Publikums, auf Entertainment, setzt. Das, sagen wir, ›pädagogische‹ Ziel mag Erkenntnis zwar sein, doch wird dem Publikum vor allem unentwegt Futter gegeben – nicht zuletzt durch mit großer Spiellust gehandhabter virtueller Techniken.
Die Menschen sollen erst einmal staunen, am liebsten auch noch lachen, selbst (oder gerade dann), wenn es zu auffälligen Momenten eines kurzen Zurückzuckens kommt, bevor begriffen wird – Zehntelsekunden der Verblüffung. »Und Jonas ist auch übrigens nicht dein Sohn«, offenbart die Frau dem Mann. Worauf ganz trocken er: »I know, I had a vasactomy.« Der wirkende Trick besteht darin, daß anstelle der Frau wir es sind, den kleinen Schock zu spüren; entsprechend werden die Lacher erst versetzt laut. Indessen sie selbst, die Frau, spricht unbetroffen weiter: »Deine tiefe Stimme ist so einlullend – eine endlose Predigt.«
Solche Sprechtheaterparts werden immer wieder zwischen die Aktions- vor allem Tanzszenen geschoben, die allzu schwere Bedeutungslasten wieder ins Schweben bringen und mit den Klang- und Bildcollagen ein Kontinuum realisieren, das einiges mit Richard Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks zu tun hat. Die von ihm erstrebte Transzendierung allerdings wird durchweg ironisch gebrochen; die Postmoderne ist zu cool, um Pathos zuzulassen, auch wenn die sinnliche Wahrheit selbst dann erhalten bleibt, wenn, wie es fast durchweg geschieht, die Mechanik der Illusion mit vorgeführt wird. Den Schein-Charakter versehrt dies nicht – unser Wahrnehmungsapparat (der Augenschein) fällt auf ihn rein.
Das reißt uns komplett mit. Dennoch findet sich die eigentliche, von der (Tanz)Akrobatik unterschieden, Kunst | in den Musikstücken. Imgrunde sind sie der Herzschlag einer jeden Aufführung, und zwar besonders, wo sie gleichsam reißen oder von referatsartigen Rezitationen (bzw. Dialogen wie oben) zwar nicht gestört, doch immer wieder auf den Boden der Realität heruntergezogen, gleichsam materiell werden. Und damit politisch.
Hier allerdings, in dieser neuen Inszenierung der »Navigatoren« – passender als das Berliner Radialsystem kann ein Haus für ihre Ästhetik nicht sein (aber auch dessen Existenz → ist nun gefährdet) … – diesmal thematisiert die Truppe gleichsam sich selbst: »The whole Truth about Lies« verschneidet den Schein eines jeden Theaters mit dem Begriff der Lüge als einem auf ein Ziel hin strategisch ausgerichteten falschen Behaupten. Das ist schon insofern nicht ohne Widersinn, als etwa ein KI-erzeugter halbphilosophischer Text auch dann nicht »gelogen« ist, wenn er, wird er ein bißchen abgeklopft, komplett in sich zusammenfällt.
Es fehlt ja die Absicht; eine solche setzte Bewußtheit voraus, über die Maschinen und ihre Algorithmen aber schwerlich verfügen. Von der KI wird nur gesammelt und nach Quantitäten gewichtet. Ebensowenig sind irrtümliche Aussagen schon Lügen; die Rechtsprechung spricht vom »guten Glauben«: Guten Glaubens gehandelt zu haben, schließt den Betrug eben aus. Bereits insofern wäre der »Schein« von der »Lüge« auch dort zu trennen, wo sich deren Konturen schon mal überlappen.
Das Spiel der Truppe trennt es nicht. Schließlich liegt es an uns selbst, wenn wir dem Spiegel glauben, der über die gesamte Bühnenbreite schräg gekippt ist: In der Luft balanciert jemand auf einer weißen Stange, aufrecht, nicht selten in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren; und wir sehen Menschen fliegen, dies ebenfalls im Spiegel. Tatsächlich, was wir aber zugleich sehen, führt jemand, der am Boden liegt, perfekt einstudierte Bewegungen aus. Und im Spiegel die Stange ist nichts anderes als auf dem Boden der Streifen einer in gerader Linie ausgerollten Klopapierrolle.
Wir wissen also und wissen doch nicht. Und erkennen, daß wir den Augen glauben wollten. Aber erst später beginnen wir zu denken: Sind wir der Täuschung bedürftig? Schon zieht es uns ins Herz der Kunst, das eine wahre Lüge ist – das mentir-vrai Aragons.
Genau das möchten die Navigators aber, verzeihen Sie das längst klischierte Wort, »hinterfragen«, d. h. politisch kritisieren. So schreibt Oliver Proske in dem Programmheft:
Die Umbenennung einer altbekannten Illusion in eine futuristische Technologie illustriert aber zugleich die Bereitschaft, mit der die Oberfläche für die Tiefe, das Abbild für das Original genommen wird. In einer solchen Welt wird die Lüge zur Wahrheit, weil sie bequemer, zugänglicher und spektakulärer erscheint. Diese Lüge ist nicht harmlos; sie reflektiert eine Gesellschaft, die zunehmend bereit ist, Oberfläche für Substanz, Erscheinung für Essenz zu nehmen (…)
Was falsch ist. Lüge wird nicht zur Wahrheit, man hält sie nur dafür. Das ist ein Unterschied, und es fragt sich sehr, ob dies jemals anders war. Scheint nicht auch das so nur zu sein? Zugenommen freilich haben die – mit der KI auch technischen – Instrumente der Manipulation. Doch das ist abermals Quantität, nicht Essenz. Gleichwohl, das Programmheft setzt mit der Travestie des christlichen Glaubensbekenntnisses noch eins drauf (dessen originaler Wortlaut die gesamte Performance begann)
Ich glaube an die Lüge
Die Allmächtige
Die Triebkraft der Menschen auf der Erde
(Gibt’s anderswo noch welche?)
Und an den Fortschritt
Ihren natürlichen Begleiter, unsern Stern,
Empfangen durch unstillbare Gier,
(…)
Aufgefahren in die Zukunft,
Er sitzt zur Rechten der Lüge,
Der allmächtigen Mutter;
(…)
Ich glaube an falsche Versprechen,
Da unaufhaltsame Wachstum,
(…)
Verleumdung der Guten und das ewige Böse.
Amen.
Ja, ganz furchtbar, dieser Text; hätte ich ihn vor der Aufführung gelesen, ich hätte nicht im Publikum gesessen. Nur hätt ich dann das Grandiose dieses Abends verpaßt – nämlich daß völlig anders, als dieser agitatorische Politkitsch fürchten läßt, das neue Stück der Truppe vorsichtig agiert; bei aller Virtuosität besonders des Ausdruckstanzes (umwerfend: Yi Kawaguchi) und der Instrumentenführung bekam ich ständig das Gefühl, mich auf brüchigstem Boden zu bewegen: Etwa ist die Rezitationsform – Rezitativ möcht ich sie nennen – vor allem eine des ständigen sich selbst und die andren Befragens.
Nichts ist fest gefügt, wenig sicher gewußt. Wir bewegen uns durch dasselbe, nur eleganter, Kontinuum aus Ungewißheiten wie in unsrer Alltagswirklichkeit. Der Unterschied – ein eklatanter allerdings – besteht darin, daß wir es hier genießen. So lassen die Navigators aus den Unsicherheiten Möglichkeiten werden, Voraussetzung für Freiheit. Genau das ist es, was uns an diesem Abend fast erlöst hat, zumindest doch erleichtert. Und auch, wenn mich die Frage nachher noch tagelang beklemmt (wer schluckte da nicht?):
Und jetzt? Gilt jetzt ›Eingabe‹ statt ›Eingebung‹?
Hat uns Nico and the Navigators Trupp nicht nur einen Abend großen Vergnügens, sondern eine Art von Hoffnung geschenkt – egal, ob wieder auch sie Illusion ist.
Letzte Änderung: 18.12.2024 | Erstellt am: 18.12.2024
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