Singende Vagabunden

Singende Vagabunden

Richard Strauß’ „Salome“ in Meiningen
Salome/ Dara Hobbs | © Staatstheater Meiningen/Michael Reichel/arifoto.de

In Meiningen fand die „Salome“ von Richard Strauß in einem Boxring statt. Wie der Kampf ausging, berichtet Achim Heidenreich, der das Ereignis zum Anlass nahm, über das Verhältnis der Zeitgenossen Arnold Schönberg und Richard Strauß nachzudenken, das in der einschlägigen Literatur als unvereinbar erscheint, in der vergangenen Realität aber sich als einvernehmlich darstellt.

An sein noch recht traditionell-großorchestrales Oratorium „Gurrelieder“ (1900-1903) mag Arnold Schönberg eher weniger gedacht haben, als er in seiner „Harmonielehre“ (veröffentlicht 1911) den Begriff des vagierenden Akkords vor allem für verminderte Septakkorde und übermäßige Dreiklänge definierte. In ihnen sei die Tonalität schwebend oder auch gänzlich aufgehoben und jeder Ton eines solchen Akkords könnte der Leitton zu einem neuen tonalen Zentrum sein – bye, bye Kadenz. Eher dürfte es sein Monodram „Erwartung“ (1909) über eine verzweifelt durch den nächtlichen Wald irrende Frau gewesen sein, in dem der 1874 in Wien geboren Komponist jede auch nur kleinste menschlich-seelische Regung musikalisch auszudrücken vermochte, als er über die dann so bezeichnete Freie Tonalität reflektierte, die es ohne das Vagieren der Akkorde nicht gäbe. Oder er dachte an die Klangvagabunden in seinen expressionistischen 15 Gedichten aus „Das Buch der hängenden Gärten“ von Stefan George für Singstimme und Klavier nur wenig früher.

Allerdings ist das Prinzip „Leitton, ich folge Dir!“ auch in anderen Werken der Zeit mitunter sogar derart plastisch, dass die Spannung eines Halbtonschritts zum Greifen nah zu sein scheint: Diese vokal und instrumental intensive Erfahrung vermittelte die neue Inszenierung von Richard Strauß 1905 in Dresden uraufgeführter, tristanakkorddurchdrungener, durchkomponierter Oper „Salome“ auf den fast unverändert verwendeten Text vom damaligen Skandalautor Oscar Wilde am Staatstheater Meiningen. Als mehr oder weniger halbkonzertante Aufführung mit dem Orchester auf der Bühne, einem Boxring davor sowie mit einer Balustrade, auf der sich eine neureiche Feiergesellschaft teilnahmslos am sonstigen Geschehen der Völlerei hingibt (Regie: Verena Stoiber, Bühne: Susanne Gschwendner, Video: Jonas Dahl), gelingt es der Meininger Hofkapelle unter ihrem derzeitigen ersten Kapellmeister Harish Shankar mit frappant-präziser Intonation, fast schon filmmusikalisch sich steigerndem, actionerfahrenem Timing dieser sich apokalyptisch zuspitzenden Handlung in jedem Moment klanglich-formalen Halt zu geben.

Szenenfoto | © Foto: Michael Reichel/arifoto.de/Staatstheater Meiningen

Mit Strauß‘ Oper über den egoistisch-verzogenen Backfisch Salome (enorme Sicherheit in den Höhen ihres dramatischen Soprans: Dara Hobbs), die den geforderten Kopf des Propheten und Moralapostel Jochanaan (Shin Taniguchi als baritonal überzeugender Unheilbeschwörender Johannes der Täufer) partout küssen will – und sei er auch vom Rumpf abgetrennt –, wird in Meiningen, wo der Komponist kurzzeitig selbst Kapellmeister war, als nacherlebbare Symphonische Dichtung mit reichlich hypertrophem Gesang zu einem Triumph der Mittelstimmen – derart transparent ist die Hofkapelle in der Lage zu spielen, und so kann man es sich nur wünschen. Boxring und Ballustrade mitsamt der medialen Verdopplung durch zwei ständig zoomende Livevideos verdeutlichen in ironisch gebrochener Distanz zum dringlichen Klanggeschehen, dass es letztlich auch egal ist, welcher Sender eingeschaltet ist. Hauptsache es flimmert. So wurde beim irgendwie auch peinlichen, aber das sollte wohl so empfunden werden, Zweikampf im Boxring von Salome und Jochanaan niemandem in die Ohren gebissen, stattdessen galt es diese zu spitzen, um selbst auch kleinste Nuancen der orchestralen Meisterschaft von Strauß nicht zu verpassen.

Es kann nur so gewesen sein: „Salome“ muss Schönbergs Vorlage für den vagierenden Akkord gewesen sein und mit der „Erwartung“ hat er dies nur noch einmal selbst ausprobiert, oder? Zwischen beiden Komponisten gab es damals eine enge Seelenverwandtschaft. Warum sonst hätte Richard Strauß Schönberg insgesamt fünf Mal nach Berlin empfehlen sollen. Strauß‘ letzte Empfehlung, Schönbergs Kompositionsprofessur, endete 1933 mit der sofortigen Entlassung aus allen Ämtern nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Das Vagieren wurde bittere Realität als Gang ins Exil nach Los Angeles. Strauß wurde zum Präsidenten der Reichsmusikkammer ernannt.

Letzte Änderung: 28.06.2023  |  Erstellt am: 28.06.2023

SALOME
Musikdrama in einem Aufzug von Richard Strauss
nach Oscar Wildes gleichnamiger Dichtung
Deutsch von Hedwig Lachmann und vom Komponisten
Musikalische Leitung: Harish Shankar
Regie: Verena Stoiber
Kostüme: Clara Hertel
Bühne: Susanne Gschwender
Video: Jonas Dahl
Live-Kamera, Videoassistenz: Philipp Weber
Dramaturgie: Claudia Forner

Besetzung
Herodes: Johannes Preißinger
Herodias: Tamta Tarielashvili
Salome: Dara Hobbs
Jochanaan: Shin Taniguchi
Narraboth: Alex Kim
Page der Herodias: Marianne Schechtel
1. Jude: Andreas Kalmbach
2. Jude: Stan Meus
3. Jude: Johannes Mooser
4. Jude: Rafael Helbig-Kostka
5. Jude / 2. Soldat: Mikko Järviluoto
1. Nazarener / Kappadozier: Selcuk Hakan Tıraşoğlu
2. Nazarener / 1. Soldat: Tomasz Wija
Sklave: Heidi Lynn Peters

Weitere Aufführungen am: 9. u. 12.07.23, Wiederaufnahme Spielzeit 23/24 am 3., 24.11., 21.12.23, 13.01.24:

Staatstheater Meiningen

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