Torsten Rüther hat viel Staunenswertes in die Welt gesetzt, aber als Spielfilmregisseur, Drehbuchautor und Produzent hatte er sich vor „Leberhaken“ noch nicht bekannt gemacht. Damit jedoch, gleichsam aus dem Stand, beansprucht er mehr Aufmerksamkeit, als zu erwarten war. Alban Nikolai Herbst hält den Film, auch im Vergleich mit dem thematisch verwandten „Million Dollar Baby“ von Clint Eastwood, für ein künstlerisches Ereignis.
Luise Großmann und Hardy Daniel Krüger in Torsten Rüthers „Leberhaken“
Stellen wir uns vor, nicht Eurydike (nennen wir sie Steph), sondern Orpheus (nennen wir ihn Rick) wäre im Hades gefangen. Und weil der unter dem Wedding Berlins liegt, wissen die beiden es nicht, weder was geschieht noch wer sie sind. Auch, weil dieser Orpheus nicht den Gesang hat. Statt dessen wurde er einstmals besungen – eine Art Kriegsgott, Ares mithin, so daß uns, spielen wir dies weiter durch, das Mädchen auch Aphrodite ist, und sie kommt, ihren gebrochenen Mann wieder aufzurichten. Was sie gleichfalls nicht weiß. Und so, in dem Moment, da sie den in den Hades dieses Mannes führenden Türspalt durchtritt, beginnt eine Geschichte, in der sich die Mythen nicht nur wiederbegeben, sondern verschiedene legen sich aufeinander, durchdringen sich und werden zum Parkett, auf dem die zweie agieren. So begibt sich Allegorie, erst recht, wenn moralische Zeiten es nicht mehr erlauben. „Venus ist eine glitschige Göttin, und sie kennt keine Regel“, sagt Dieter Betz. In jedem Fall wärn wir den Haupteinwand los, Torsten Rüthers Leberhaken bediene einmal mehr ein Gründungskonstrukt des Patriarchats. Denn wer schützt hier wen?
In Wahrheit will Steph nur Boxerin werden. Doch wird in der Kunst jedes Mädchen, das auf den Mann trifft, zur Allegorie, und umgekehrt auch. Kunst ist immer Menschheitsgeschichte, nicht die Erzählung persönlichen Schicksals. Weil dieses Verwandeln Rüthers Film als neue ovidsche Metamorphose durchzieht, ist er – von einer kleinen Sequenz abgesehen, die, wenn auch nur wenige Sekunden lang, um so schmerzhafter fehlgeht – Clint Eastwoods auf ersten Blick verwandtem Million Dollar Baby von 2004 haushoch überlegen, vor dem er sich dennoch bescheiden verbeugt. Anders aber als Eastwoods ist Rüthers Film gar kein Boxfilm, sondern das Boxen selbst nur Metapher. Deshalb muß er auch nicht die Genres vermischen. Schon gar nicht braucht er eine Morgan-Freeman(sch)liche Identifikationsfigur, die letztlich nur sentimentales Klischee ist. Nein, Rüther konzentriert, indessen Eastwood, um Spannung aufzubauen, sein Boxerinnendrama sogar zu einem Film über Sterbehilfe mutieren läßt, herzzerreißend zwar und darstellerisch großartig. Doch die Wendung verwässert den Kern und macht ihn beliebig.
Rüthers Blick gilt allein der Interaktion und einer fast schicksalhaften (mythischen eben) Dynamik, selbst wenn auch er es, der Autorregisseur, nicht gewußt haben sollte. Wo Eastwood eine „realistische“, breit angelegte Kinosaga erzählt, die sich immer schon bekannter Muster bedient (was an der Kasse freilich aufging), muß Rüther uns, um die hohe Spannung aufrechtzuhalten, nur zweimal den Adrenalinstoß verpassen, nämlich als Schläge tatsächlich. Der erste trifft mit der Faust in den Bauch, der zweite als geschmetterter Tennisball hart an den Kopf. Und jeweils geht das Mädchen zu Boden.
Beide Male spüren wir, worum die Geschichte sich wirklich dreht und daß sie imgrunde eine ewige ist. Deshalb wird Krügers Hand, als er die Wunde versorgt, zur sein Modell so liebevoll wie scharf distanzierend positionierenden Hand Piccolis in Jacques Rivettes La Belle Noiseuse (1991), und Ricks auf ersten Blick Machismo entblößt sich als larmoyante Flucht vor der eigenen wie des Mädchens Courage. Schwach ist hier der Mann, auch wenn es anders aussieht und beide es nicht durchschauen.
Aber Rick ahnt es, spürt es spätestens dann, als Steph mit den Boxsäcken tanzt, den verkleideten Phalli. Übrigens schwingt da – aus dem Episodenfilm Aria von 1987 – ein wenig Godards „Aramide“ mit, bloß ohne Ironie. Man kann ja ironisch nicht lieben. Die Ernsthaftigkeit ist, was Aphrodite und Ares verbindet. Denn auch töten läßt es ironisch sich nicht, so wenig wie einen Faustkampf gewinnen. Es ist dies, wie die Liebe, kein Spiel.
Das läuft hier drunter immer mit.
Zum Beispiel die Füße. Oh, diese zierlichen Füße! Rick heißt das Mädchen, sie zu entblößen. Erst müssen sie – Steph kocht, hat doch die schicken teuren Sneakers für Profis gekauft – in Schläppchen, dann sind selbst die noch zuviel Tand. „Der Fuß ist das Fundament“, sagt Rick. „Wenn wir zwischen ihm und dem Fußboden eine Schwingung kreieren wollen, dann stören die Schuhe.“ Die Füße verbinden uns mit der Erde, die Faszien der Sohlen sind ein Organ der Verbindung. In sie münden die meisten Nervenenden. Etwas dazwischenzuschieben bedeutet Entfremdung.
Aus solchen sinnlichen Genauigkeiten bezieht Rüthers Film ebenso die Kraft wie aus der Zusammenführung intensiven Theaterspiels mit den an sich entfremdeten, weil technisch, nicht sinnlich vermittelten Möglichkeiten des Spielfilms, auf die allein sich Eastwood verläßt. Wie fürs Theater haben Großmann und Krüger statt dessen geprobt.
So braucht Leberhaken den riesigen Aufwand von Handlungsperspektiven und Geschehen nicht und ist doch kaum eine Viertelstunde kürzer als das anscheinende erfolgreiche Vorbild. Ja, er, der Aufwand, liefe sogar der hier erreichten wunderbaren Intensität scharf zuwider. Und den erzählten Gebrochenheiten, beider, des Mädchens, des Mannes. Noch einmal mythisch gesprochen, ist Rick ja ein Kriegsgott, der für alle Zeiten besiegt worden ist, und Steph Aphrodite, die es erst wird. Bei Eastwood hingegen ist einzig er, also Dunn, gebrochen; hingegen seine Kämpferin bleibt plan bis zum tragischen Schluß. Sie lernt imgrunde nicht dazu, außer vielleicht ganz zuletzt. Auch Verlierer, sagt Rick, könnten es sein, die gewonnen haben. Und merkt dabei nicht, daß er, der dem Mädchen scheinbar so Überlegne, ihr letztlich unterliegen wird.
Diese geradezu hegelsche Dialektik deutet sich neu und neu in dem Film an, selbst noch, als Steph so weit – und zu weit – geht, sich ihm anzubieten, wenn er sie denn trainiere. „Du darfst mich auch ficken“, sagt sie und realisiert ein wenig spät, damit das Gegenteil dessen zu erreichen, was sie will. Auch deshalb übrigens, weil der geschwächte Mann zu einem Liebesakt wahrscheinlich gar nicht mehr fähig wäre. Unversehens sieht er sich damit konfrontiert. Und wir verstehen seinen Rückzug. Auch den in den Hades.
So etwas auf die Bühne des Filmes zu bringen, gelingt allein als Theater. Insofern sind Rüthers Personen Figuren höchster Kunst und dürfen, anders als bei Eastwood, niemals banal werden; selbst ihre Sprachen, inklusive Jugendslang, sind Realisierung von Sprachkunst und letztlich also Rezitation. Die Dialoge sind artifiziell, also da noch gebaut, wo sie wie Alltagssprache wirken, und zwar, damit sie so wirken. Auch daher der, anders als bei Eastwood, Parabelcharakter des Films, der doch so realistisch zu sein scheint. Damit nämlich auf der Bühne eine Küche als Küche wahrgenommen wird und nicht als Küche-auf-der-Bühne, muß etwas anders an ihr sein. Die Bühne soll ja vergessen werden. Für Sprache gilt dies genauso.
Rüthers Film gelingt beides und zugleich noch mehr. Was von einer Bühne herunter nicht möglich wäre, nämlich Ricks ständig schweres Atmen zu hören, nicht selten ein Ächzen, wird, weil Leberhaken eben auch Film ist, der Filmmusik Basso continuo. Ähnlich die perkussiven Schläge, die die tatsächlichen des Trainings begleiten, sie suggestiv akzentuieren. Bei Eastwood gibt es von so etwas nichts; er muß nach dem Publikum mit der Speckseite schmeißen. Rüther hingegen, um Einsamkeit auszudrücken, genügen Großmanns und Krügers Gesichter. Sie wissen, die zwei, was sie darstelln und wahrscheinlich in diesen Momenten auch sind. Und also braucht es kein 30-Millionen-Budget; zwei Kameras und drei Tage Drehzeit genügen und nachher sensibelst montierenden Schnitt. Eine tiefe Verbeugung vor Habiba Laout.
Und überhaupt Krüger! Wie Rick hier seinen, wie er selbst ist, maroden Schreibtisch durchwühlt, meistens nach Medikamenten, derweil er bei Youtube die großen alten Kämpfe anschaut, masochistisch im eignen Vergangensein, und dann mit dem Willen der Jugendlichen konfrontiert wird, die notgedrungenermaßen Grenzen nicht respektiert, geht über das meiste, was wir von, ich sage mal, Asphaltcowboys als Charakterstudien sahen (ich schließe Bukowski da mit ein), weit, weit hinaus. Und ebenso Luise Großmann, ihr uninteressantes, weil hübsch-beliebiges Antlitz, das unversehens Renaissancezüge annimmt, in die sich zu Pop geglätteter Punk mischt und wirklich Geschichte, ein Geworfensein also, das aber nicht ausgestellt werden muß; ein einziges Telefonat mit dem Vater genügt (und wir hören nur sie). Auch das ist anders als bei Eastwood die schon karikaturhaft entsetzliche Familie des Schützlings von Dunn. Bei dem ist sie nicht nur fast Parodie, während Stephs gerade durch ihre Abwesenheit menschlich spürbar und schmerzhaft präsent bleibt – auch ihrerseits, ecco, geworfen. Wohin wir schauen, Herr & Knecht. Das geht schon ganz zu Anfang los, in den ersten Einstellungen, die Stephanies Aufbruch in die Unterwelt zeigen, des Berliner Weddings also, wohin es den einst herrlichen Ares dekonstruierend verbannt hat. Was das Mädchen nun erlebt – und aber selbst erzeugt –, ist die rekonstruierende Macht Aphrodites, die sich indes noch nicht weiß.
Und ja, es ist auch ein Film über Väter-und-Töchter-Erotik, doch derart dezent erspielt, daß es um Sehnsucht nach Erfüllung geht, nicht um Übergriff, gar einen Mißbrauch, den Krügers Rick sehr viel mehr scheut als seine, symbolisch gesprochen, Aphrodite-Tochter Steph. Die will ihn sogar provozieren, und wenn Rick am Ende am Boden liegt, auf der Matte, läßt sich das durchaus als Rache lesen – dafür nämlich, daß er sich verweigert hat. „Läßt sich“ wohlgemerkt, nicht: ist so zu lesen. Doch immerhin, in den Ring gestiegen ist er schon, viel zu selbstgewiß indes, den eigenen Ratschlag an sie zu befolgen: sich im Spiegel zu betrachten und als eigentlichen Gegner zu begreifen.
Es sind auch diese Momente, die Rüthers Film zu einem der großen machen, der europäischen großen, gleichberechtigt an die Seite zu stellen denen Beineix’, Carax’, Godards, Rivettes und/oder du Welz’. All das ist mehrdeutig, flirrend, und schwingt in höchst beglückender, doch gleichzeitig verstörendster Ambivalenz. Ein Nein ist ein Ja ist ein Nein ist ein Ja. Und: ein Vielleicht.
Vielleicht.
Irgendwo wurde geschrieben, es bleibe offen, ob sie, das Mädchen, etwas gelernt hat. Das ist die falsche Frage. Denn Steph braucht nichts als Training. Also läßt Rick sie exerzieren. Darin ist er nach wie vor groß. Doch dann liegt er am Boden.
Steph hingegen trat nur ein.
Letzte Änderung: 03.04.2023 | Erstellt am: 03.04.2023
Leberhaken
Deutschland 2021, Minuten
Regie Torsten Rüther
Drehbuch Torsten Rüther
Produktion Torsten Rüther
Musik Justin Michael La Valle,
Tobias Wagner, Dominic Miller
Kamera Maher Maleh,
Andres Lizana Prado
Schnitt Habiba Laout
Besetzung
Luise Großmann: Steph
Hardy Daniel Krüger: Rick
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