Roter Nagellack

Roter Nagellack

von Kirill Serebrennikov
Kirill Serebrennikov | © Thalia Theater

Der russische Theater-, Opern- und Filmregisseur Kirill Serebrennikov ist eine der wenigen verbliebenen unabhängigen Stimmen der russischen Zivilgesellschaft. Jetzt hat er in seinen Social-Media-Kanälen mit einem poetischen Essay Stellung bezogen und sehr viel Aufmerksamkeit erhalten.

Ich sehe mir jeden Tag Bilder des Krieges an. Ich schaue sie mir immer wieder an und sehe zerstörte Städte, verbrannte Autos, getötete Menschen. Dieser rote Nagellack auf der Hand einer Toten… Jeden Tag, wo auch immer ich bin, fühle ich mich, als ob Flugzeuge über mich hinwegfliegen, als ob ich um mein Leben in einen Luftschutzkeller rennen müsste. Meine Freunde, egal ob sie gegangen oder geblieben sind, weinen seit Wochen, Männer, Frauen … Aus irgendeinem Grund weine ich nicht. Irgendetwas staut sich in mir auf, und es gibt kein Ventil dafür.

J.M. Coetzee hat einen guten Roman geschrieben: „Warten auf die Barbaren”. Die Barbaren, auf die der Held in einer Festung gewartet hatte, kamen von innen. Die neue Barbarei wurde schon länger erwartet. Für Barbaren ist ein anderes menschliches Wesen nichts anderes als Beute. Fleisch und Ressource. Es ist Haar. Haut. Schädel. Sklavenarbeit. Einige besonders raffinierte Barbaren machten Lampenschirme aus Menschenhaut, Kelche aus Schädeln, stopften Kissen mit Menschenhaar… Barbaren gehen zum Postamt, um ihre Beute nach Hause zu schicken. Die Pakete enthalten Haare, Schädel, Haut, rot lackierte Nägel. Die Barbaren schlagen sich eifrig durch, sie sind ihrer Sache sicher, zuversichtlich. Der Krieg entmenschlicht schnell, und keine Kultur kann die schlimmsten Verbrechen verhindern, wenn der Staat das Recht dazu gibt.

Die Deutschen begriffen erst etwas vom Krieg, als sie zu den Gräben mit den Leichen der Häftlinge von Auschwitz und Buchenwald geführt wurden. Und als man sie zwang, diese Leichen mit ihren eigenen Händen zu begraben, ohne Handschuhe. Und auch erst nach dem Nürnberger Tribunal. Aber vor 1945 sprachen sie von „Entjudung”, darüber, dass die Juden „kein eigenes Land haben dürfen“ und, dass „es ein solches Volk nicht gäbe“. Fast das Gleiche kann man heute in Russland hören: „Entukrainisierung“, „Entnazifizierung“. Und auch: „Sie dürfen kein eigenes Land haben, es gibt kein solches Volk.“

Ich hatte einen seltsamen Traum: Ich bin ein junger Mann in Tarnkleidung, der gezwungen wird, einem toten ukrainischen Mädchen, das in einem Sarg liegt, ein Buch vorzulesen. Es fühlt sich fast wie in Gogols alter Erzählung „Wij” an, aber es passiert jetzt, in diesem Krieg. Ich kann nicht lesen, die Zeilen sind verschwommen, aber ich kann auch das Mädchen nicht ansehen. Ich murmle etwas vor mich hin. Das Mädchen hat roten Lack auf den Nägeln…

Kultur ist in Russland ist immer gegen den Staat, oppositionell, trotzig. Manchmal mit dem Geld des Staates, aber trotzdem nicht in seinem Namen und nicht für ihn. Staat und Politik in Russland töten und spalten. Sie zerstören Familien. Sie zerstören Leben. Die Kultur rettet und sammelt das, was in der Menschheit noch menschlich ist. Russland ist von vielen Regierungen regiert worden, und alle waren von kannibalistischer Natur. Die seltenen Jahre, in denen die Macht in Russland die Menschen nicht verschlang, werden als „Tauwetter“ bezeichnet. Aber die Macht legte nur eine Pause ein, erholte sich nur, bevor sie wieder anfing, die Menschen zu verschlingen. In der Kultur geht es immer um das, was den Staat nicht interessiert, was für ihn nicht wichtig ist. Es geht um die Barmherzigkeit gegenüber den Gefallenen. Es geht um Mitgefühl. Es geht um die Abgründe und Höhen des menschlichen Geistes. Es geht um Verzweiflung. Es geht um Einsamkeit. Es geht um Menschen, die lächerlich, unwichtig, erbärmlich, nutzlos und unzeitgemäß erscheinen. Es geht um Minderheiten.

Deshalb hat der russische Staat die Kultur nie sonderlich respektiert oder gar geliebt. Die Machthaber empfinden die Kultur als Pflichtprogramm, das in der Schule aufgezwungen wird. Und so mussten alle diese uninteressanten Bücher lesen. Mussten sich diese Filme ansehen, von denen sie nicht viel verstanden. Mussten Musik hören, die sie irgendwie seltsam fanden. Sie zuckten mit den Schultern. Aber sie lasen, sahen und hörten es trotzdem… Denn es gab natürlich keine Kunst, die offenherzig, wahrhaftig und mit Talent über die “gottgewollte” Macht der russischen Regierung sprechen würde, „über den Stolz und die Größe des russischen oder sowjetischen Reiches“, das wie einst im Zweiten Weltkrieg wieder Nazis besiegen könnte… Oder besser gesagt, manchmal ordnete die Regierung solche Stoffe an und zwang die Künstler, solche Bücher zu schreiben, Filme zu drehen, Lieder zu singen und Gedichte zu rezitieren. Und sie zwang andere, all das zu lesen, zu sehen und zu hören. In den meisten Fällen kam dabei purer Mist heraus.

…Das tote Mädchen erhebt sich aus seinem Sarg. Sie kommt auf mich zu, während ich leise vor mich hinmurmle. Ich schaue sie nicht an. Ich schaue sie nicht an. Sie kommt näher und versucht, mir in die Augen zu sehen. Ich verstecke meine in den russischen Buchstaben. Plötzlich sagt sie zu mir: „Pst.“ Ich kann nicht aufhören zu lesen, ich murmle etwas auf Russisch. Sie sagt laut auf Ukrainisch: „Sei still. Sprich nicht! Ich will, dass es still ist.” Ich bin so erschrocken, dass ich aufhöre. Aber ich kann nicht aufblicken. Sie sagt auf Ukrainisch: „Sieh mich an.”…

Soldaten meines Landes sind in ein fremdes Land eingedrungen und haben begonnen, es zu zerstören, Menschen zu massakrieren und Häuser niederzureißen. Särge und gestohlener Hausrat werden aus der Ukraine nach Russland geschickt, Krüppel kommen zurück und bringen nichts als… Hass mit. Diese Bomben des Hasses, die soviel Kraft haben wie mehrere Hiroshimas, sprengen das Leben meines Landes in Stücke. Sie haben die Zukunft eines jeden Menschen, einer jeden Familie vermint. Dieser Hass wird jede Hoffnung auf Wohlstand und Freiheit zunichte machen. Ein Leben in Angst und Hass ist das, was uns, die Zeugen, die Teilnehmer, die Opfer dieses Krieges erwartet. Auch wenn wir gegen ihn protestieren.

Der Staat fängt Kriege an, um die Schar seiner „Märtyrer“ zu vergrößern, denn es geht ihm nur um Vorbilder und faszinierende Apokryphen. Niemand kümmert sich um die toten Soldaten, die auf den Feldern verwesen, um erschossene Zivilisten, die am Straßenrand zurückgelassen werden: Sie sind wertlos, verschwendete Ressourcen, sie verderben die triumphale Statistik, sie sind weg. Die Kunst denkt an diese verlassenen Toten, an ihre letzten Worte, an ihre Träume, an ihre ungeborenen Kinder. Die unbestatteten Toten sind die Helden der wahren Literatur, des ehrlichen Kinos, des aufrichtigen Theaters.

…ich bin still. Die tote ukrainische Schönheit ist still. Eine Pause… Sie sieht mich an. Ich schaue auf ihre Hände mit den leuchtend roten Nägeln. Ich möchte einen Kreidekreis malen. Sie flüstert auf Ukrainisch: „Das hilft dir nicht, Junge. Das wird nichts nutzen.” Ich weiß, dass es das nicht tut. Aber ich möchte die Verzweiflung durchbrechen, die mich zermürbt. Mit dem Knarzen von Kreide, oder einem Herzschlag. Aber alles ist still.

Diejenigen, die einen Krieg beginnen, verlieren immer. Diejenigen, die Zivilisten vergewaltigen, ermorden und foltern, sind Kriegsverbrecher. Und diejenigen, die sie rechtfertigen, sind es auch. Es ist unmöglich, mit Sadisten und Mördern zu sympathisieren. Ich habe Mitgefühl mit denen, die unwissentlich in das schreckliche Verbrechen des Krieges verwickelt wurden. Und mit denjenigen, die noch nicht das Blut unschuldiger Menschen an ihren Händen haben.

Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, was in einem Soldaten vorgeht, der sich gegen seinen Willen in einem fremden Land befindet und auf Befehl seines Vorgesetzten tötet, nur damit man ihn „in Ruhe lässt“. Es schaudert mich, wenn ich mir die Eltern vorstelle, die zuerst den „Sondereinsatz” unterstützten und dann die verlogene Meldung erhalten, ihr Kind sei „durch einen Unfall” ums Leben gekommen. Ich habe Angst und leide mit ihnen. Ich habe Angst um diejenigen, die auf die Propaganda hereingefallen sind. Früher oder später werden sie erkennen, in welchem Morast sie gelandet sind.

…Eine Frau aus Butscha hat vor dem Krieg online Manikürekurse besucht. So ist sie zu ihren rot lackierten Nägeln gekommen. Und dann kamen Leute aus meinem Land, Leute, die dieselbe Sprache sprechen wie ich, und diese Leute haben sie getötet. Vielleicht fanden sie die Farbe zu provokant…

Ich halte ein Buch in der Hand, das auf Russisch geschrieben ist. Die Buchstaben sind tot. Meine Lippen sind trocken. Das tote ukrainische Mädchen steht vor mir und sagt: „Schau mich an, Junge. Sieh mich einfach an.“ Ich denke: „Ich kann nicht, ich kann nicht.” „Du musst, Junge, du musst.“ Ich sage nichts, ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie flüstert: “„Kannst du sehen?” Ich sage: “Ich kann nicht…” Sie lacht: „Schau mich doch an! Du brauchst keine Angst zu haben.” Ich sage leise: „Dann hebe meine Augenlider.” Jemand hebt meine Augenlider und zwingt mich zu schauen. Ich habe Angst, aber ich schaue hin. Ich schaue. Es herrscht Krieg.
 
 
 

„Der Text ist“, so Joachim Lux, „aus Anlass von 90 Tagen Krieg in der Ukraine entstanden.” In ihm nimmt Kirill Serebrennikov, der nach jahrelangem Hausarrest, Berufsverbot und angedrohtem Arbeitslager derzeit „artist in residence“ am Thalia-Theater ist, Stellung.

Deutsche Fassung: Thalia Theater, Joachim Lux, Korrekturdurchsicht: Katya Voronova

Letzte Änderung: 02.06.2022  |  Erstellt am: 01.06.2022

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Kommentare

Frieder W. Bergner schreibt
Kann man diesen Text lesen, ohne Tränen der Trauer und des Zorns in den Augen zu haben? Ich glaube, man kann nicht! Und kann man auf die abstruse Idee kommen, russische Kunst aus dem Kanon der Weltkultur zu verbannen, weil auch Russland von einem Despoten und Kriegsverbrecher regiert wird? Ich sehe, man kann! Und was kann man all jenen raten, die jetzt gegenüber der russischen Kunst mit der Sanktionskeule herumfuchteln? Lest, verdammt nochmal, diesen wunderbaren Text, ihr Idioten!

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