Reng, deng, deng

Reng, deng, deng

Heiner Goebbels zum 70. Geburtstag
Heiner Goebbels | © Mara Eggert

Wer sich nach nicht-akademischer Kunst auf höchstem Niveau sehnt, geht zu den Aufführungen von Heiner Goebbels. Dabei ist es schon nahezu egal, worum es im Einzelnen geht. Er fordert unsere Intelligenz heraus, bietet musikalische Erfahrungen an, die ebenso beeindruckend sind wie die Bilder und mit ihrer rätselhaften, frappierenden Schönheit ein für alle Mal in unseren Köpfen bleiben. Zum 70. Geburtstag des Künstlers gratuliert Achim Heidenreich.

Das sozialästhetisch reich verästelte Lebenswerk des Komponisten, Intendanten, Universitätslehrers, Kulturmanagers, nach wie vor rührigen Instrumentalisten und gelegentlich sogar melancholischen Sängers Heiner Goebbels entwickelte sich über die Jahrzehnte hinweg – die er ununterbrochen in Frankfurt leibt und lebt – zu einer durchwegs partizipativen, niedrigschwellig angelegten Sozialen Plastik, egal auf welchen künstlerisch-literarischen Expeditionen er sich dabei immer auch befinden mag. Mit seinem formatvielfältigen, musiktheatralischen, meist analog erzeugten medien-künstlerischen und nicht zuletzt mit seinem konzertant-hörstückartigen dramatischen Schaffen hat Heiner Goebbels die vielgescholtene sogenannte Hochkultur aus ihrer vermeintlichen Fallhöhe idealistisch-schöngeistiger Sphäre herunter auf den Boden der theatralischen Tatsachen von und für Menschen aus Fleisch und Blut geholt, also gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt – womit wir gleichzeitig auch den politischen Anspruch von Heiner Goebbels umrissen hätten. Die Rezeption und Teilhabe an diesem vielfarbig schillernden Kunst- und Geistesleben ermöglicht Goebbels auch mittels des bei ihm wiederkehrenden Beats – und sei es das Geräusch tropfenden Wassers in einer seiner installativen Theaterarbeiten, etwa in „Stifters Dinge“ (Lausanne, 2007).

Wofür einstmals also Joseph Beuys seine Lehrbefugnis an einer Kunsthochschule auf’s Spiel gesetzt und durch Erlass des damaligen Wissenschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau, verloren hatte, dass nämlich jeder Mensch ein Künstler sei, ist letztlich zu Goebbels Tagewerk geworden – wenn der Kontext stimmt! Kellerband, Claus Peymann, Männergesangsverein, Heinrich Schliemann, Ensemble Modern, Linksradikales Blasorchester, Heiner Müller, Punk-Band, Ruth Berghaus und, und, und: Heiner Goebbels kriegt alles unter (s)einen großen Macher-Hut. Nichts denunziert dabei das andere, und niemand beansprucht a priori Deutungshoheit, er selbst am allerwenigsten.

Als Direktor des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo lange auch der Free-Jazzmusiker Ekkehard Jost (1938-2017) als Musikwissenschaftler wirkte, prägte Goebbels etliche Medienkünstler und Hörspielmacher mit seinem kulturellen diagonalen Schnitt durch alle Genres und Stilhöhen maßgeblich. Heute bekleidet er dort die renommierte Georg-Büchner-Senior-Professur, die ihn weiter in die Entwicklung der Gießener Universität aktiv einbindet. Als Nachfolger vom ZKM-CEO Peter Weibel hätte sich mancher auch Heiner Goebbels vorstellen könnten. Aber vielleicht hat ihn das früher schon einmal nicht ganz so arg interessiert.

Den oft betonten Beat auf der ersten Zählzeit, ganz gegen jede zeitgenössische Musikgepflogenheit, teilt Goebbels freilich mit dem anderen diesjährigen 70. Geburtstagskind der Neuen Musik, mit Wolfgang Rihm. Bei beiden kann es ganz gehörig grooven. Darin treffen sich die vermeintlich ästhetischen Gegenpole in ihrer jeweils eigenen Klassizität – hört, hört. Dass beide stark Heiner-Müller-affin sind – Goebbels brachte Heiner Müllers Dramen als umjubelte Live-Events mit einer Allstar-Band auf die Hörspielbühne, allen voran „Der Mann im Fahrstuhl“ (1987) oder die ebenfalls soziomusikalisch montierte „Wolokolamsker Chaussee“(1989), Rihm komponierte die Müller-Oper „Die Hamletmaschine“ (1987) oder das Orchesterwerk „Frau/Stimme“ nach Worten Heiner Müllers (1989) und stieg damit gewissermaßen selbst auch in die klangliche Politliga ein – wäre ein weiteres inneres Band zwischen beiden überaus produktiven, gleichaltrig gleichbedeutenden Menschenfreunden, das sie sicher stärker miteinander verbindet als bloß eine gefühlte Skatbruderschaft: Zur gleichen Zeit fanden sie im Abarbeiten am gleichen Material künstlerische Antworten auf dringliche gesellschaftliche Fragen, u.a. was die Rolle von Kunst in der verwalteten Welt überhaupt noch sein könnte? Die Antworten waren ebenso pessimistisch wie auch visionär, denn – was fällt, musst du stoßen – die SED-Diktatur gibt es nicht mehr. Kurz vor dem 9. November 1989 hatte Heiner Goebbels die einzige Kontroverse mit Heiner Müller. Müller fand den letzten Teil „Vergessen und vergessen und vergessen“ als eine zu rasche Beerdigung der DDR. „Diese Passage ist extrem auf Tempo gebaut.“ (Heiner Goebbels) Dann fiel die Mauer! Zwei Tage danach sollte „Der Mann im Fahrstuhl“ in New York in „The Kitchen“ aufgeführt werden. Goebbels Traumrezitator Ernst Stötzner war dabei, auch Heiner Müller sollte wieder selbst lesen. Alle waren überrascht, dass auch Heiner Müller tatsächlich wieder dabei war. Als Goebbels ihn nach der Aufführung auf seine Kritik ansprach, antwortete Müller lakonisch: „Das hat sich erledigt“. Sie kehrten in eine komplett auf den Kopf gestellte Welt und dennoch nach Hause wieder zurück: contradictio in adjecto.

Für Goebbels und Rihm spielt dabei über die Jahrzehnte hinweg das Ensemble Modern eine katalysatorartige Rolle, gleiches gilt auch für das Ensemble Modern selbst: Goebbels und Rihm gaben und geben dank ihrer offenen Werkstrukturen dem innovativen Klangkörper mit ihrem Schaffen Zukunft im Wortsinn, also auch künftig zuversichtlich zu bleiben, wie auch sie durch Aufführungen ihrer Werke durch das Ensemble Modern immer wieder, aller Repertoirebildung zum Trotz, als Zeitgenossen immer wieder aktualisiert werden, etwa mit Rihms später auch choreographierten „Jagden und Formen“(1995-2001, Zustand 2008) oder Goebbels teils aleatorisch choreographiertem „Schwarz auf Weiß“ (1996) oder seinem statuarischer Dauerbrenner „Eislermaterial“ (1998) mit dem grandiosen Sepp Bierbichler als kopfstimmigen Eisler-Interpreten. „Dass ein gutes Deutschland blühe,“ (zumindest, dass der zeitgenössischen Musik und Kunst) wie Bierbichler schütter-greisenhaft Brechts Kinderhymne im „Eislermaterial“ intoniert, daran hat Heiner Goebbels dank seines kreativen herrschaftsfreien Dialogs einen sehr großen Verdienst.

Genau das ist seine geschichtliche Leistung. Frei nach Wolfgang Niedecken hier unser Wunsch an Heiner Goebbels: Bliev so wie du bis, jraaduss!.
 
 
 

Siehe auch:
Heiner Goebbels im SWR

Heiner Goebbels im HR

Letzte Änderung: 17.08.2022  |  Erstellt am: 17.08.2022

divider

Kommentare

Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.

Kommentar eintragen