Komponieren bedeutet wörtlich ‚zusammenstellen’, ,zusammenfügen’. Man fragt sich allerdings, wo Komponisten zeitgenössischer Kunstmusik, die nicht wiederholen mögen, was schon zu hören war, ihre Töne her beziehen. Jede Komponistin, jeder Komponist wird die Frage mit jedem Stück anders beantworten. Bei Nicolaus A. Huber (geb. 1939), von dem einige Werke auf der CD ‚AION’ veröffentlicht wurden, sind die Klangquellen nicht unbedingt hörbar, aber Ernst August Klötzke beschreibt sie.
Der Titel dieser Doppel-CD ist dem Ältesten der darauf gebannten Kompositionen von Nicolaus A. Huber entlehnt. „Aion“ ist nicht nur Titel, sondern auch Motto und Coda der Zusammenstellung von unterschiedlich besetzten Werken, die zwischen 1968 und 2019 entstanden sind.
Anfang der 1990er Jahre äußerte der Musikwissenschaftler Ulrich Dibelius, Huber habe einen „Codazwang“. Er spielte mit dieser Aussage darauf an, dass es in Hubers Oeuvre überwiegend eine Summierung des stückimmanenten Materials am Ende gibt, um damit nicht nur abzuschließen, sondern gleichfalls, um neue Perspektiven als Musilschen „Möglichkeitssinn“ zu eröffnen.
Diese zweifache Belegung eines formalen Abschnitts lässt sich – und hier kommt „Aion“ als das letzte (Coda) und zugleich älteste (Motto) Werk auf der Doppel-CD erneut ins Spiel – übertragen auf eine grundsätzliche Sicht Hubers, in der die zu durchleuchtenden Phänomene nie singulär betrachtet, sondern immer in manchmal überraschenden Verbindungen kontextualisiert werden.
Die Gottheit Aion repräsentierte eine nicht-lineare Zeitauffassung. Wenn man von unserer Erfahrungen, also der linearen Abfolge zeitlicher Ereignisse ausgeht, dann lässt ein nicht-lineares Zeitmodell zu, dass sich alle Kausalitäten aus ihren vertrauten und unmittelbaren Zusammenhängen herauslösen lassen. Dieses Denken prägt Hubers Musik als Über- und Unterbau des Klingenden, dessen Auswirkungen hörbar und in einem körperlichen Sinne spür- und erfahrbar werden. So schafft er Nahbereiche zwischen großen Distanzen (wie etwa enharmonisch umgedeutete Töne am Klavier die größtmögliche Nähe (wegen der identischen Taste) und gleichzeitig die größtmögliche harmonische Distanz darstellen). Dabei kreisen Hubers „Themen“ um den Menschen, dessen Handeln, Empfinden, Denken und Erkenntnis mögliche Ausgangspunkte von Musik werden.
Die erste der insgesamt sieben Kompositionen „Angel Dust“ (2007/08) für Posaune und Akkordeon ist das Ergebnis einer Lesart dessen, was Huber unter dem Begriff „Entprägung“ komponiert. Wie er im dazugehörigen Werkkommentar schreibt, interessierten ihn Psychoschockversuche, die u.a. von der CIA durchgeführt wurden, um die totale Zerstörung einer Persönlichkeit herbeizuführen. Der Komponist übersetzt solche Themen dahingehend, dass in „Angel Dust“ mit „…Töne(n), deren Lautstärken nicht ihre eigenen sind, sondern mit denen sie uns Hörer um Aufmerksamkeit bitten, ja sie geradezu erflehen“, exemplarisch ein Perspektivwechsel gefordert ist, durch den jedes akustische Ereignis seziert und seine Einzelteile aus ihrer gewohnten Umgebung und tradierten Hierarchie herausgelöst werden können.
Dies wird hörbar in einer hervorstechenden und lustvollen Exklusivität im Umgang mit den Instrumenten und ihren Typologien und mit der Zeit als Wechselspiel der Anwesenheit und Abwesenheit von Klang: die Musik scheint dabei in ihren Einzelereignissen vertraut und fremd zugleich.
Zehn Jahre später schrieb Huber das Duo für Flöte und Klarinette „Blanco y Verde“ (2018), in dem er in der Farbe Grün eine „Beziehungsmöglichkeit“ zur Musik sieht und im Booklet schreibt: „… denn wir sehen Grün nur, wenn 5 Photonen pro Sekunde in unser Auge wandern. Das ist eine einfache Quintole auf 1 Viertel = 60.“ Weiter führt er aus, dass demnach die Zahl „5“ eine besondere Rolle in seinem Stück spielt und leitet aus ihrer möglichen Aufteilung eine Wachstumsstruktur ab, die eine der Gestaltungsgrundlagen von „Blanco y Verde“ darstellt. Hörbar wird ein In- und Gegeneinander von Klang- und Pausenfarben, von Identitäten, die energetisch auseinanderdriften und immer wieder in verwandelten Qualitäten zueinander geführt werden.
Das erinnert an die Abfrage des Mikrofonstatus in Videokonferenzen. Üblicherweise sagen wir etwas, wenn der Bildschirm uns fragt, ob wir denn unsere eigene Stimme hören. Diese Antwort schallt dann allerdings stark verändert und verzerrt wieder zu-rück, die Charakteristika der eigenen Stimme sind bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und durcheinandergewirbelt. Wir könnten dies als entlokalisierte Teilspektren der Stimme bezeichnen, Huber nennt es in „Blanco y Verde“ „quantenverschränkt“.
In den 80er und 90er des 20. Jahrhunderts Jahren entstanden (vielleicht als Reaktion auf Nonos Quartett „Fragmente – Stille, an Diotima“) eine Reihe von Hölderlin-Vertonungen. Auch Huber hat sich, auf die ihm eigene Art, in mehreren Kompositionen mit Hölderlin auseinandergesetzt, unter anderem entstand dabei ein Duo für Kontrabass und Klavier, das er mit „Ohne Hölderlin“ (1992) betitelt hat. Dieses dritte Stück auf der ersten CD zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass hier eine besondere Coda („Tischrück-Coda“) die Komposition beschließt, sondern auch, dass die aus Hubers Musik bis in die 90er Jahre vertrauten körperlich-rhythmischen Gestalten (er nennt das „Konzeptionelle Rhythmuskomposition“) als Strukturträger und Strahlenbündel für andere Parameter ganz im Zentrum stehen.
1994 komponierte Huber das Stück für großes Orchester und Zuspielungen „En face d’en face“, das am Ende der ersten CD platziert ist. Wieder findet sich darin eine besondere Ausgangsposition, die zur Entstehung des Stückes geführt hat und sich im Titel widerspiegelt. Dieser geht, so Huber, „auf ein Darstellungsprinzip der alten ägyptischen Malerei und Reliefkunst zurück“, bei der ihn interessiert, dass das Bild nicht wiedergibt, was das Auge sieht. Die Gleichzeitigkeit von Profil- und Frontalansicht versteht er als „höhere Vollständigkeit, die sich nicht an die Zeitgrenzen der einmaligen Blickerfassung hält.“ Er komponiert das als hörbare „Mehrfachdarstellung“ eines Gedankens, die eine Verflechtung von unterschiedlichen klanglichen Qualitäten zur Folge hat. Die Virtuosität der Farben steht dabei für die perspektivische und emotionale Beweglichkeit. Und die Coda? Es gibt sie, diesmal (der Blick in die Partitur verrät es) als ca. Einminütige: „Vom Dirigenten zu arrangierende Feier des Verschimmerns. Das Verschimmern des Klangs soll nicht einfach ein „Schluss“ sein, sondern durch die Länge (quantitative Zähigkeit) die Bedeutung einer Struktur bekommen“ – so der Komponist.
Das jüngste Stück, mit dem die zweite CD beginnt („ALGOL Nachspiel zu AION für Klavier mit Luftzeichnung und Maultrommel“), hat Huber 2019 geschrieben. Mit dem Verweis auf AION wird deutlich, dass die „thematische“ Bandbreite von Nicolaus A. Huber sich wie Wellen darstellen lässt, in denen der Sprung von der jeweils größten Ausdehnung zum Beginn der Ausbreitung immer möglich, vielleicht sogar nötig ist.
Die in AION im Zentrum stehende Auseinandersetzung mit Archetypen findet in ALGOL dahingehend einen Widerhall, dass Huber, der sich seit einigen Jahren aus der kompositorischen Sicht mit den Möglichkeiten von Quanten beschäftigt, in einem Briefwechsel zwischen dem Quantenphysiker Wolfgang Pauli und C. G. Jung eine Grundlage gefunden hat, um beide Perspektiven zu verbinden.
Daraus resultiert eine Musik, deren energetische Aufgeladenheit, die sich nicht nur, wie zu erwarten wäre, in „fff“- Ausbrüchen offenbart, sondern ebenso als verdichtete Entladung im „ppp“. Töne und Tonverbindungen werden durch die sie einbettenden Parameter als räumliche Distanzen wahrnehmbar. ALGOL, das „Nachspiel“ (Coda?) zu AION, in dem sich der damals achtzigjährige Komponist mit sich selbst als ca. dreißigjähriger konfrontiert, zeigt sich als „Anti-Dorian Gray“. In der zeitlichen Distanz steckt die Spannung, aus ihr resultiert die Könnerschaft und auch eine gewisse befreite Gelassenheit. Wieder, wie in AION, spielt Sprache eine Rolle, anders als bei AION erscheint sie nun mehr als Klang- denn als Bedeutungsträger.
Im Ensemblestück (mit Zuspielungen) „Rose Sélavy“ aus dem Jahre 2000, das als Zweites folgt, setzt sich Huber mit Marcel Duchamp auseinander, dessen Un-/Eigenartige Kunst ihn immer wieder fasziniert. Das Stück besticht durch die immense Offenheit der musikalischen Zusammenhänge und die fein und widerborstig herauspolierten Klänge. Es ist ein Stück Musik, das einen nicht in Ruhe lässt, und von dem man auch nicht in Ruhe gelassen werden will. Hinter jedem Ton lauert Unerwartetes, das sich mehr und mehr als gewollt loser Zusammenhang in einer atemberaubenden Dichte ausbreitet, wobei sowohl die Dichte als auch die Grade der Ausdehnung zur zarten Einzelfarbe führen können. Eine Coda? Es lohnt sich, hörend danach zu suchen.
Nun, zum guten Schluss, AION (1968/72), das sich fraglos im Zusammenhang mit den anderen Kompositionen auf den CDs als frühes Werk identifizieren lässt. Für vierkanaliges Tonband und Gerüche wurde es geschrieben und produziert, die Befassung mit den Archetypen bei C. G. Jung waren der Ausgangspunkt. Huber benennt AION als gedachtes „akustisches Arbeitspapier“. Im Kontext mit solchen, vermeintlich Unfertiges bezeichnenden Begriffen, die in den ausgehenden 60er Jahren häufig zu finden sind, stellt sich AION jedoch als ein – im offenen Sinne Hubers – geschlossenes Stück dar. Die große Distanz zwischen der Zeit, in der es entstanden ist und der Gegenwart wird besonders im „ungeschützten“ Umgang mit Sprache darin deutlich. Gleichzeitig ist es aber, und auch dies macht die Zusammenstellung auf den beiden CDs lobenswert, schon der spätere Huber, der mit einem vielschichtigen Geflecht menschlicher Beziehungen bis hin zu ungeahnten Fernen, präsent ist.
Hubers Musik lebt von den klugen und verstehenden Interpret*innen, die sie mit dem eigenen Kopf und dem eigenen Herzen hörbar machen. Ohne Ausnahme sind die Aufnahmen und Mitschnitte mit Catherine Vickers (Klavier), Michinori Bunya (Kontrabass), Mike Svoboda (Posaune), Stefan Hussong (Akkordeon), Erik Drescher (Flöte), Matthias Badczong (Klarinette), dem Ensemble Musikfabrik (Leitung Jacques Mercier) und dem Orchester des HR (Leitung Friedrich Goldmann) von einer herausragenden Qualität, die dem Wert der Musik mehr als gerecht werden und mit den Kompositionen auf Augenhöhe stehen!
Das Booklet, in dem ausschließlich Werkkommentare des Komponisten zu finden sind, ist hilfreich, da es – wie immer – darum geht, mit Worten den Hörraum zu erweitern.
Beim Hören der CDs „AION“ kommt mir ein Satz aus Christa Wolfs „Kassandra“ in den Sinn, der als zwanglose Coda variiert lautet: „und öffnete die Ohren vor Glück“.
Letzte Änderung: 13.07.2022 | Erstellt am: 13.07.2022
Nicolaus Anton Huber (geb. 1939) Werke - „Aion"
Künstler: Mike Svoboda, Stefan Hussong, Erik Drescher, Matthias Badczong, Michinori Bunya, Catherine Vickers, hr-Sinfonieorchester, Musikfabrik, Elektronisches Studio des WDR, Friedrich Goldmann, Jacques Mercier
Label: Neos, DDD, 1972-2021
Bestellnummer: 10911367
Erscheinungstermin: 10.6.2022
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