Ein Spielfilm für das Kino ist oft voller Stilisierungen, um die Wucht des Unmittelbaren zu mildern und dem Publikum die schützende Distanz zu erhalten. Nicht so die Filme des Österreichers Ulrich Seidl, die einfühlsam und schonungslos wirken. Das mochte den SPIEGEL im Herbst 2022 dazu verleitet haben, ihm Manipulation von Kindern für seinen jüngsten Film „SPARTA“ zu unterstellen. Marli Feldvoß hat 2010 mit dem Regisseur gesprochen.
Der 1952 geborene Österreicher Ulrich Seidl drehte 1980 mit „Einsvierzig“ seinen ersten Kurzfilm an der Wiener Filmakademie; der Durchbruch gelang ihm erst 2001 mit seinem ersten Spielfilm „Hundstage“, der in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde. Ein Spätberufener. Heute gilt der als Extremfilmer verschrieene Ulrich Seidl, der nur an Originalschauplätzen und vorwiegend mit Laiendarstellern arbeitet, als eine Art poète maudit, der nicht aufhört, in die Abgründe der menschlichen Seele zu blicken.
Zur ersten vollständigen Retrospektive seines Werks auf dem Münchner Filmfest hat er einige Ausschnitte aus seinen beiden, damals neuen Filmen, dem Dokumentarfilm „Im Keller“ und dem Spielfilm „Paradies“, mitgebracht.
Marli Feldvoß: Herr Seidl, wie schaffen Sie das, an zwei so unterschiedlichen Filmen (dem Dokumentarfilm „Im Keller“ und dem Spielfilm „Paradies“) gleichzeitig zu arbeiten?
Ulrich Seidl: Meine Arbeitsmethode ist ja so, dass ich – während ich drehe – schon schneide und mich an den Ergebnissen orientiere, um den Film weiter zu entwickeln. Vom „Keller“ gibt es also schon zwei oder drei Episoden, die so einen Rohschnitt haben. Das Thema ist nicht der Josef Fritzl und die Frau Kampusch. Schon weit vorher hab ich ein Konzept zum Thema „Keller“ gehabt, weil ich beim Drehen von „Hundstage“ entdeckte, dass in vielen Einfamilienhäusern die Keller viel größer sind als die Wohnräume. Ich habe auch festgestellt, dass die Menschen in ihrer Freizeit gern in den Keller gehen, um das Eigentliche zu tun, was ihnen Spaß macht. Und in „Paradies“ geht es um drei Frauen und drei Welten. Im wesentlichen um das Bild, das man als Frau in einer Gesellschaft hat und wie man damit umgeht.
Mir scheint, dass Sie in Ihrem ersten Kinofilm „Good News“ (1990) ihre Figuren noch mit Samthandschuhen angefasst haben. Ich sehe in den Folgefilmen „Tierische Liebe“ oder „Models“ eine Radikalisierung des Blicks und der Themen.
Ich sehe überhaupt nicht, dass ich bei meinen späteren Filmen mit den Menschen und Darstellern anders umgegangen bin. Je mehr man Menschen und diverse Milieus kennenlernt, desto eher kann man auch damit umgehen. „Tierische Liebe“ war natürlich ein radikalerer Film als „Good News“. „Good News“ ist sozusagen ein Erstentwurf meiner Vorstellung, Filme aus verschiedenen Welten zusammenzusetzen. Ich bin bei der episodenhaften Erzählweise geblieben. Ich erzähle immer auf mehreren Ebenen, die zusammengeführt, gegeneinander oder parallel gestellt werden.
Dennoch hat man das Gefühl, dass die Gewalt in ihren Filmen zugenommen hat. Gibt es eine Grenze des Darstellbaren?
Die gibt es wahrscheinlich, aber man kann sie a priori nicht festlegen. Ich entscheide immer situativ, wo meine Grenzen liegen. Ich bin mir bewusst, dass ich hier die Verantwortung übernehmen muss, die Menschen so darzustellen, dass es ihnen gerecht wird, obwohl es Kunstbilder sind. Es ist ja keine zufällige Kamera, sondern eine künstliche Kamera, die jemanden zeigt, ohne dass er falsch dargestellt wird.
Alle Szenen, ob Pornographie oder Gewalttaten sind hergestellt. Aber es ist so, dass man alles für bare Münze nimmt. Es scheint anders zu funktionieren als im Mainstream-Kino. Da wird man auch gepackt, aber es geht nicht so unter die Haut. Gibt es da einen Trick?
Indem ich es möglichst authentisch inszeniere, so dass man sich als Zuschauer nicht entziehen kann. Dass man das nicht für etwas hält, das mit dem eigenen Leben nichts zu tun hat. Sondern dass man merkt: das könnte mir auch passieren. Das ist das Verstörende, dass man hineingezogen wird in diese Welt. Das ist mir ganz wichtig, das so herzustellen.
Sind Sie ein Sittenchronist, ein Verhaltensforscher oder ein Seelendoktor?
Ein Sittenchronist. Ich glaube schon, dass meine Filme Sittengemälde sind, weil sie etwas zeigen und widerspiegeln aus einer Gesellschaft. Ich handle es zwar an Einzelschicksalen ab, aber es steht für die Allgemeinheit, für die ganze Gesellschaft.
Was ist das Österreichische daran? Sie befinden sich dabei in einer illustren Gesellschaft aus der Malerei- und Literaturgeschichte, sogar ein Sigmund Freud gehört dazu. Diese Art von schwarzem Humor und von Selbstbeschmutzung gibt es doch nirgendwo sonst in Europa.
Man kann es nicht genau definieren. Ich bin auch aus meiner eigenen Biografie dazu gekommen. Ich bin in sehr strengen katholischen bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Und ich habe mich, seit ich denken kann, dagegen gewehrt, gegen eine falsche Moral, eine Verlogenheit. In Österreich werden die Dinge sehr gern unter den Teppich gekehrt. Dieser Verdrängungsmechanismus ist sehr stark. Geschichtlich hat Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang nicht zugegeben, dass wir auch Täter waren. Wir waren immer die Opfer.
Für mich erreicht Ihr letzter Spielfilm „Import-Export“(2007) eine neue „zärtliche“ Qualität.
Ich sehe von meiner Herangehensweise keinen Unterschied. Bei jeder Figur bin ich auch gespalten. Das eine mag ich, das andere nicht. Aber ich weiß, warum sich das so darstellt. Ich zeige zwei Charaktere, mit denen sich der Zuschauer identifizieren kann. Da sind zwei Menschen, die kämpfen um ihre Existenz und für ihre Existenzberechtigung in einer Gesellschaft, die ihnen feindlich gesinnt ist. Deswegen haben sie die Sympathie des Zuschauers. Anders als bei „Hundstage“ wo die Charaktere nicht unbedingt die Sympathie des Zuschauers hatten.
Sie sprechen vom Filmemachen als einem „Leidensweg“.
Ich glaube nicht, dass ich das so gesagt habe. Es ist „auch“ ein „Leidensweg“. Das Filmemachen, so wie ich es betreibe, ist ja auch eine große Bereicherung. Weil ich mit Menschen eine Reise mache. Weil ich vieles sehe und sehen darf und kennenlerne und Verhältnisse mit Menschen eingehe. Das ist auch sehr oft ein Leidensweg, weil man Anteil nimmt am Schicksal anderer Menschen und weil das oft nicht sehr leicht zu ertragen ist.
Sie behaupten, dass Sie mit Ihren Filmen die geheimen Wünsche Ihrer Laiendarsteller erfüllen. Wie finden Sie die heraus?
Indem ich mich eingehend mit den Menschen befasse und mir die Zeit nehme, sie auch gut kennenzulernen. Und genauso können sie mich kennenlernen. Das ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit, dass ich weiß, mit wem ich es zu tun habe. Ich möchte ja auch, dass sich das mit meinen Absichten trifft, was das für ein Film werden soll und was man wie erzählen soll. Dass das auch zusammenpasst mit der jeweiligen Person.
Das Interview wurde auf dem Münchner Filmfest 2010 geführt.
Zuerst erschienen in: Film & TV Kameramann, 9/2010
Letzte Änderung: 08.08.2023 | Erstellt am: 08.08.2023
Kommentare
Es wurde noch kein Kommentar eingetragen.