Die Massenmedien befürchten, ihre Massen zu verlieren, indem sie sie überfordern. Indem sie also das Gegenteil tun, opfern sie ihre vornehmste Aufgabe. Gegen diese fürsorgliche Herabwürdigung hat Michael Haneke seine Filme gesetzt. Im „Das weiße Band“ geht es „um ein gesellschaftliches Klima, das den Radikalismus ermöglicht“. Als der Film 2009 herauskam, sprach Marli Feldvoß mit dem Regisseur und Drehbuchautor.
Michael Haneke im Gespräch mit Marli Feldvoß zu seinem Film „Das weiße Band“
Marli Feldvoß: Gibt es das weiße Band?
Michael Haneke: Ja, sicher. Die meisten Geschichten, die im Film vorkommen, habe ich in verschiedenen Büchern gefunden. Ich habe Berge von Literatur über Erziehung und über das Leben im 19. Jahrhundert gelesen. Die Geschichte vom weißen Band war als ein Erziehungsratschlag für Eltern gedacht, weil das Tragen des weißen Bandes die Kinder nicht nur ständig erinnere, sondern auch vor den anderen bloßstelle. Das sei eine sehr effiziente und unbrutale Methode. Man müsse also nicht schlagen, sondern könne einfach mit einem weißen Band denselben Effekt erzielen. Das zu verwenden, hat sich mir förmlich aufgedrängt.
Wann haben Sie mit dem Filmprojekt angefangen?
Das ist schon fünfzehn, zwanzig Jahre her, dass ich die Grundidee hatte. Die bestand aus einem Kinderchor in einem Dorf, der die von den Vätern verordneten Ideale verabsolutiert und sich dadurch zu Richtern derer macht, die ihnen Wasser predigen und Wein trinken. Dort, wo eine Idee zur Ideologie wird, wird sie von denen ergriffen, denen es schlecht geht. Das ist sozusagen das Grundmodell jeder Form von Terrorismus. Das stand so als Idee dahinter.
Gibt es nicht auch sympathische Terroristen?
Ich glaube, dass Terrorismus einfach unsympathisch ist. Weil es immer auf Kosten von jemand geht. Ich habe zum Beispiel Ulrike Meinhof persönlich gekannt; die war ein sehr sympathischer, sehr intelligenter, sehr engagierter, warmherziger, humorvoller Mensch, was man sich gar nicht mehr vorstellen kann. Aber ab einem bestimmten Punkt war sie das alles nicht mehr. Sobald einer gegen den andern Gewalt ausübt, hört die Sympathie auf. Ich kann den vielleicht verstehen, warum der dorthin gekommen ist, aber deshalb kann ich es nicht gutheißen.
War die historische Distanz notwendig, um diese Geschichte zu erzählen?
Theoretisch könnte man einen Film zum gleichen Thema heute irgendwo in einem islamischen Land drehen. Dann würde er zwar ganz anders ausschauen, aber die Grundidee wäre die gleiche. Die sozialen Verhältnisse wären anders, auch das Umfeld, die Ideologien, aber der Zeitpunkt wäre im Prinzip egal. Da wir von Frau Meinhof geredet haben – es könnte auch ein Film über den linken Faschismus in dieser Zeit sein. Mich interessiert daran: Was ist der gemeinsame Nenner von jeder Form von Terrorismus?
Sie haben zwanzig Jahre von der ersten Idee bis zur Umsetzung gebraucht, wieso das?
Das hat einen ganz banalen Grund. Ich hab’s früher nicht machen können, weil ich’s nicht finanzieren konnte. Sobald ich mit einem historischen Film mit Kindern in den Hauptrollen ankam, haben alle abgewunken. Jeder, der sich da ein bisschen auskennt, weiß, dass das ein halbes Vermögen kostet. Aufgrund der Erfolge meiner letzten Filme haben die Leute dann gesagt: Na ja, vielleicht zahlt es sich trotzdem aus. Aber es war mein teuerster Film bisher, hat ungefähr 12 Millionen Euro gekostet. Ist ja viel Geld.
Warum haben Sie den Film in Schwarzweiß gedreht, aber nicht auf Schwarzweiß-Material?
Es gibt zwei Gründe, warum wir es nicht auf Schwarzweiß-Material gedreht haben: Der erste ist ein ganz banaler: Der Vertrag des deutschen Produzenten mit dem deutschen Fernsehen beinhaltet, dass der Film im Fernsehen in Farbe kommen soll. Und alle, Produzent wie ich, haben gesagt, wenn der Film Erfolg hat, wird man wohl auch das deutsche Fernsehen dazu bringen können, davon Abstand zu nehmen. Daran arbeiten wir noch. (Lacht) Der eigentliche ästhetische Grund aber war, dass es kein Schwarzweißmaterial gibt, das so lichtempfindlich ist, dass man mit Kerzen und Petroleumlampen drehen kann. Wir haben es auf Farbe gedreht und dann digitalisiert. Es wird aber auf Schwarzweißmaterial kopiert.
Ist das nicht ein Widerspruch? Da kommt der Film jetzt auf einer Festplatte daher (so wurde er in Cannes und anderswo vorgeführt), aber dahinter steht die „alte“ Ästhetik des Schwarzweißfilms.
Aber nein, es ist kein Widerspruch. Vor zwei Jahren wäre das noch gar nicht möglich gewesen, weil die Digitalprojektion noch nicht soweit war, wie sie jetzt ist. Und jetzt haben wir Bilder, wie sie der August Sander gemacht hat. Wir haben eine Brillanz im Bild, die auf einem Schwarzweißmaterial nicht möglich ist. Ich schlage mich gerade damit herum, dass der Film auf Film übertragen wird. Gestern haben wir die Nullkopie gesehen, die war natürlich nicht annähernd so gut wie das, was wir digital gesehen haben. Die Brillanz kriegen sie nicht, weil die Grauwerte in den Mitteltönen überfordert sind. Es ist ein Fortschritt! Ich war wahnsinnig glücklich, dass dies zufällig gerade jetzt möglich war. Und wir tun alles im Moment, um die gleiche Brillanz auf den Film zu übertragen. Bei heiklen Einstellungen merkt man die Grenzen des Materials. Ich war nie ein Materialfetischist. Ich war auch einer der ersten, der, als der Avid heraus kam, gesagt hat: dann schneiden wir mit dem Avid. Das ist die Sentimentalität von alten Cuttern, dass sie unbedingt das Material in der Hand halten wollen. In zehn Jahren wird Film sowieso überholt sein. Es geht ja nicht um das Material, sondern darum, was man mit dem Material transportiert.
Sie geben – wie in Ihren anderen Filmen – in „Das weiße Band“ keine Antworten, sondern lassen „alle Fragen offen“. Denken Sie manchmal daran, dass Sie dadurch den Zuschauer überfordern könnten?
Das ist ja ein Klischee, dass der Zuschauer überfordert sei, weil er daran gewöhnt ist, mit Antworten vollgestopft zu werden. Die Frage ist nur, wenn Film eine Kunstform sein will, ob das der Weisheit letzter Schluss ist, die Erwartungen zu erfüllen, die der Zuschauer durch die Erzählhaltungen des Fernsehens eingetrichtert bekommen hat. Ich glaube nicht. Bei der Musik oder bei der bildenden Kunst regt sich kein Mensch drüber auf, dass es „keine Antwort“ gibt. Man lässt etwas auf sich wirken, und es bewegt irgendetwas. Nur dort, wo die Sprache ins Bild kommt, wird alles auf den Begriff gebracht. Und in dem Moment, wo es auf den Begriff gebracht wird, ist es tot. Da kann ich sagen: Ja, hab ich kapiert! Danke! Ich versuche hingegen, die Dinge gegen dieses Auf-den-Begriff-bringen offen zu halten. Dass mir die Freiheit bleibt, die mir in den anderen Künsten gelassen wird, nämlich Eigenintiative zu entwickeln, auch gegenüber einem Kunstwerk, das mit Sprache und mit Eindeutigkeiten zu tun hat. Und dass ich dadurch als Zuschauer mehr aktiviert werde, als wenn mir jede Antwort – wie im Fernsehen – gleich dreimal gegeben wird. Damit wird das Publikum heute genährt. Das sind die ästhetischen Vorstellungen, die dieses Medium zur Breitenwirkung gebracht haben. Ich will gefordert werden! Wenn ich nur die Sachen bestätigt kriege, die ich éh schon weiß, dann habe ich zwei Stunden Zeit verloren. Mich haben immer die Filme oder Bücher weitergebracht, die mich ein bisschen irritiert haben. Dann hat das viel mehr in mir bewirkt.
Haben Sie keine Angst vor Falschsehen oder Überinterpretation?
Gegen Missverständnisse ist kein Kraut gewachsen. Wenn Sie zehn Leute das gleiche Ereignis beschreiben lassen, werden sie zehn verschiedene Ereignisse hören. Damit muss man leben. Es gibt keine todsichere Methode, dass jeder kapiert, was der Autor will. Wär ja stinklangweilig. Wär die gesamte Bildende Kunst zum Wegschmeißen.
Der Dorfpfarrer steht am Schluss des Films noch einmal im Fokus. Er ist es, der verhindert, dass die Fragen noch einmal gestellt werden, und er will sie auch nicht beantworten. Beziehen Sie sich auch auf Ingmar Bergman?
Es liegt in der Natur der Sache. Wenn Sie einen Film über ein Dorf im neunzehnten Jahrhundert machen, haben sie alle Repräsentanten vom Baron bis zum Bauern unten da drinnen. Und der Pfarrer ist ein wesentlicher Bestandteil, in dem Fall der Ideologieträger, wenn Sie so wollen. Das hat nur insofern mit Bergman zu tun, als seine Filme ähnliche Themen behandeln. Ich bin ein großer Bewunderer von Bergman, aber ich würde ihn nicht imitieren wollen.
Es hat auch das Vernichtende von Bergman.
Das hab’ ich schon oft gehört. Ich finde meine Filme überhaupt nicht vernichtend, ich finde, sie verunsichern ein bisschen. Ich kann von mir nicht sagen, dass ich ein Optimist wäre. Ich bin schon zutiefst überzeugt von dem, was in meinen Filmen vorkommt: dass die Menschen nicht sehr viel zu lernen bereit sind. Das ist schon so. Je älter man wird, umso mehr muss man das feststellen. Aber ich bin kein Pessimist, ich halte mich für einen genauen Beobachter der Wirklichkeit, für einen Realisten. Ich versuche, den Zuschauer in eine bestimmte Richtung zu stoßen, dass er sich wehrt. Ich stelle eine Behauptung auf und denke: Jetzt musst Du schauen, wie Du mit der Behauptung fertig wirst. Weil ich das für produktiv halte.
Das Interview wurde auf dem Filmfest München 2009 geführt und in der Filmzeitschrift „Filmbulletin“ (Schweiz) veröffentlicht.
Letzte Änderung: 04.05.2022 | Erstellt am: 04.05.2022
Zum Weiterlesen:
Marli Feldvoß Unterwegs im Kino
Kritiken und Essays
474 Seiten
ISBN 978-3-465-04512-0
Klostermann/Nexus 96, Frankfurt 2013.