Mein Leben der Musik gegeben
Mit John Cage, der vor 30 Jahren gestorben ist, betrat ein Komponist die Musikgeschichte, der mit fast allen schriftlichen Traditionen europäischer Klangerfindung brach. Das machte ihn zur Ikone der neuen Kunstmusik. In den Auszügen aus einem Interview, das Bernd Leukert 1975 mit dem Komponisten führte, erklärte er, worum es ihm ging.
John Cage hat sich, nachdem er als bester Schüler in der Geschichte seiner Schule dieselbe verlassen hatte, sehr früh für Musik und Poesie interessiert. Während seines Literaturstudiums schrieb er seine ersten Gedichte und wollte Dichter werden. In Paris, wo er gotische und griechische Architektur studierte, lernte er die europäische literarische und künstlerische Avantgarde kennen. Auf Reisen durch Europa malte er und schrieb Gedichte, auf Mallorca erste Kompositionen. 1932, nach seiner Rückkehr in die USA, studierte er Komposition bei Richard Buhlig, schließlich, zwischen 1935 und 1937, privat Kontrapunkt bei Arnold Schönberg. Stetig erweiterte er seinen Bekanntenkreis aus Komponisten, Malern, Galeristen und Autoren. Immer wieder arbeitete er als Pianist und Korrepetitor für Tanzklassen und Ballettkompanies. 1938 gründete er ein Schlagzeugensemble und traf den Tänzer Merce Cunningham, der sein Arbeits- und Lebenspartner wurde. 1952 entwarf er am Black Mountain College das erste Happening, das über die Beteiligten und das Publikum in alle Künste ausstrahlte. Seit den 50er Jahren arbeitete er mit Zufallsoperationen, die die überlieferte Bedeutung der künstlerischen Kreation außer Kraft setzten. Zu seinen bekanntesten Stücken gehört 4’33’’. Und das ist keine Musik.
Bernd Leukert: Meine erste Frage ist: Braucht unsere Gesellschaft überhaupt Musik?
John Cage: Es gibt viele Antworten auf diese Frage. Aber eine davon ist, dass Musik eine Änderung des Bewusstseins bewirkt. Und natürlich würden viele Leute an einer solchen Antwort nicht sehr interessiert sein. Sie glauben, Musik sollte der Unterhaltung dienen. Aber ich war Mitte der vierziger Jahre so weit, dass ich keine Musik mehr schreiben wollte, es sei denn, ich fände einen guten Grund dafür. Und seitdem habe ich eine Menge Musik geschrieben, und der Grund dafür, dass ich das hinnehme, hat Tradition sowohl im Orient als auch im Okzident, nämlich Bewusstsein zu verändern, hauptsächlich, das Bewusstsein zu befreien von Vorlieben und Abneigungen und von seiner Neigung, sich vor der Welt zu verschließen, und es zu öffnen für Erfahrungen, die außerhalb der Vorlieben und Abneigungen des Ichs liegen. Deshalb verwende ich und verwendete ich seit 1951 Zufallsoperationen. Ich erzeuge eine Situation, die unabhängig von meinem Geschmack und meinem Gedächtnis entsteht; und das erweitert meine Erfahrungen.
Brauchen wir, braucht unsere Gesellschaft überhaupt Komponisten?
Nun – wie Sie wissen – was ein Komponist ist, hat sich erheblich verändert. Und ich habe an dieser Veränderung meinen Anteil gehabt. … Jetzt haben wir eine große Menge Musik, bei der der Unterschied zwischen Aufführendem, Komponisten und Zuhörern verwischt ist. Diese hierarchischen Ideen des Komponistseins werden erheblich verändert, – jetzt.
Vielleicht mehr in Amerika als hier.
Ich meine, … einige Leute meinten, dass wirklich alle neuen Ideen, nicht nur, was die Musik betrifft, sondern auch die Malerei, heutzutage aus Amerika kommen. Dass wir so interessante Arbeit machen, liegt vielleicht daran, dass unsere Regierung so schlecht ist (lacht). – Es handelt sich um eine Theorie, die ich in den späten 40ern in Paris von einem Weißrussen mitbekam, der hieß Pierre Souvtchinskij. Der meinte, die einzige Möglichkeit, gute Kunst zu bekommen, ist, eine schlechte Regierung zu haben (lacht). … Wir können uns einer schlechten Regierung fast immer sicher sein. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine gute Regierung gibt, so weit sie tut, was die meisten zu tun pflegen, d.h. mit anderen Regierungen streiten. …
Ich glaube, dass wir einer Umgebung gegenüberstehen, die tatsächlich ruiniert ist, die bankrott ist, – überall. Und ich glaube, dass wir viel zu tun haben. Und Etüden (wie die Etudes Australes für die Pianistin Grete Sultan) spiegeln die Wichtigkeit der Arbeit wider und auch, wie man sich solchen Dingen hingeben muss, auch wenn sie einem nicht unbedingt liegen.
Andererseits, wenn ich ein Stück für Orchester schreibe, wie das jetzt der Fall ist, weiß ich von vorneherein, dass die Musiker nicht arbeiten werden. Sie können es sich nicht leisten zu arbeiten. Der Geldaufwand für eine Probe des Boston Symphony Orchestras dürfte enorm groß sein. 102 Leute in einer Zeit der Inflation, – das dürfte etwa 10 000 Dollar kosten, und diese 102 Leute werden wahrscheinlich irgendein verfluchtes Stück von Haydn oder Beethoven oder irgendetwas spielen müssen, ein Stück, das die ganze Probenzeit in Anspruch nimmt, gerade deshalb, weil sie es sich nicht leisten können, in einem solchen Stück Fehler zu machen, während in meiner Musik sie so viele Fehler machen können, wie sie wollen. Frage: Was mache ich bloß in einer solchen Situation? Soll ich einfach aufgeben und sagen, die ganze Gesellschaft sei unnütz? Oder soll ich eher versuchen, meine Energien in einem positiven Sinn anzuwenden? Nun werde ich wahrscheinlich, wie ich es zu machen gewohnt bin, affirmativ arbeiten. …
Was würden Sie einem Komponisten sagen, dem die Zuhörer weglaufen? Wie nimmt man wieder Kontakt mit dem Zuhörer auf?
Ich würde dem Komponisten sagen, dass es eine völlig normale Sache ist, den Kontakt mit den Zuhörern zu verlieren. Genauso ist es normal, Kontakte aufzunehmen. Beide Möglichkeiten haben mit Abneigung und Zuneigung zu tun; und das Wichtigste an der Musik ist, sich von Abneigungen und Zuneigungen zu befreien (lacht). Ich habe einmal eine indische Musikerin, die traditionelle, nicht avantgardistische Musik machte, gefragt, was ihrer Meinung nach in Indien eine Zuhörerschaft sei. Sie hat gesagt, eine Person ist eine Zuhörerschaft. Man kann sogar – und es wäre vielleicht gut, wenn ein Komponist sich dieser Tatsache bewusst würde – selbst die eigene Zuhörerschaft sein (lacht). …
In Deutschland gibt es die Rundfunkanstalten, die als die großen Mäzene der Neuen Musik fungieren. Aber es gibt heute die Tendenz, weniger Neue Musik, und wenn, dann zu ungünstigen Sendezeiten, meistens spät in der Nacht, zu senden. Was sollen Komponisten tun, wenn selbst diese kleine Möglichkeit wegfiele? Sind sie dann in der Lage zu überleben?
Um Gotteswillen, ja. Ich mag Rundfunkanstalten nicht. Ich mag es nicht, wenn Klänge aus Lautsprechern kommen, nur dann, wenn es sein muss. Ich will damit sagen, wenn es sich um elektronische Musik handelt, die so hergestellt werden muss. Dann habe ich nichts dagegen. Aber Musik im Hörfunk hat sonst keine lebendige Qualität …
Schönberg hat einmal gesagt, als er nach seinem Hörer befragt wurde: Ich weiß nur, dass er da ist, und dass er, soweit er nicht unentbehrlich ist, weil’s im leeren Saal nicht klingt, mich stört.
Das ist keine menschenfreundliche Bemerkung. Er hat viele böse Bemerkungen gemacht. Als er mich unterrichtete – ich war Teilnehmer eines Seminars von etwa 40 Leuten in diesem Fall –, hat er behauptet, sein Ziel im Unterricht ist es, ihnen das Komponieren unmöglich zu machen. Er dachte wahrscheinlich, dass so eine Bemerkung und herausfordern würde, vorausgesetzt, dass etwas an uns dran sei. Ich hatte mich bereits dafür entschieden, mein Leben der Musik zu widmen, also wusste ich, dass es ihm nicht gelingen würde, weil ich komponieren musste … – um zu leben. Ich hatte mein Leben der Musik gegeben, also musste ich weitermachen, um es zurückzubekommen (lacht).
Haben Sie ein Gefühl für Ihre Zuhörer?
Ich kann es mir nicht leisten, an die Zuhörer zu denken. Das ist vollkommen unmöglich, und Schönbergs Bemerkung dürfte damit zu tun haben. Aber wenn er sagt, dass er die Zuhörer nur für die Akustik braucht, ist das nur selbstsüchtig. Aber auch Thoreau hat vor vielen Jahren gesagt – und ich neige immer mehr dazu, die Ideen aus seinem Tagebuch mir zu eigen zu machen –, dass er den Zuhörer keinen Gefallen täte, wenn er etwas „für sie“ machte. Er muss stattdessen beste Arbeit leisten. Er muss sich dem widmen, was er tut, und keine Änderungen daran vornehmen, nur um irgendeinem Idioten gefallen zu wollen oder sogar einem Gescheiten. …
Wenn Sie ein bestimmtes musikalisches Vokabular verwenden, haben Sie dann immer einen Grund dafür, dieses Vokabular zu wählen und nicht ein anderes?
Das ist bei mir nie der Fall. Ich verwende die Zufallsoperation. … Ich habe den Schwerpunkt der Verantwortung des Komponisten verlagert. Statt eine Auswahl zu treffen, stellt er Fragen, und ich habe neulich dieses Prinzip als eine Antwort auf das bekommen, was man „Koan“ nennen könnte, was Schönberg uns aufgegeben hatte, indem er uns mit einer Frage an die Tafel schickte. Ich habe das Problem gelöst, habe mich umgedreht und die Hand erhoben, wozu er uns gebeten hatte. Und er sagte: „Ja, das stimmt. Und nun geben Sie mir eine andere Lösung des Problems.“ Und das habe ich gemacht, und das drei-, viermal. Endlich meinte ich, es gäbe keine weiteren Lösungen. Und er sagte – und ich fand es hervorragend –: „Was ist das Prinzip, das hinter all diesen Lösungen steckt?“ Es hat ungefähr vierzig Jahre gedauert, aber ich beantworte diese Frage jetzt folgendermaßen: Das Prinzip, das hinter all diesen Lösungen steckt, ist die Frage, die man stellt.
Deutsch von Bernd Leukert und Eric Fiedler
Das Interview fand am 17. Juni 1975 im Foyer des Hotel Tulpenfeld in Bonn statt.
Letzte Änderung: 12.08.2022 | Erstellt am: 12.08.2022