Man dreht sich, und das langsam, nur im Kreis
Der Komponist Hanns Eisler erzählte einst die Geschichte von einer Flaschenpost, die sein Exil-Kollege, Theodor W. Adorno im kalifornischen Exil in den Pazifik geworfen haben soll. Deren schlichte Botschaft sei gewesen: „Mir ist so mies“. Das Fazit der beiden Premieren, mit denen das Schauspiel Frankfurt die neue, hoffentlich erste Post-Corona-Saison eröffnet hat, könnte ähnlich lauten, urteilt Martin Lüdke.
I – Anton Tschechows „Onkel Wanja" im Schauspiel Frankfurt
Ein schlüssiger Gedanke: Das Geschehen von Anton Tschechows vielleicht bekanntesten Stück „Onkel Wanja“ wird auf einer Drehbühne vorgeführt. Immer in Bewegung. Ein Kreis, auch wenn er sich dreht, hat schließlich keinen Anfang und kein Ende. Was der eben erwähnte Adorno seinerzeit „Dialektik im Stillstand“ nannte, eine Bewegung, die nichts bewegt, das vollzieht sich konsequenterweise auf der Bühne des Frankfurter Schauspiels. Alles bewegt sich, und es tut sich nichts. Astrow, der Arzt (Wolfram Koch), ist zudem oft mit einem Fahrrad unterwegs und bläst dabei auf einer Tröte, die zwar Frohsinn signalisiert, auf Dauer aber ein lästiges Geräusch bleibt. Die beiden Gäste, die Anfangs gekommen waren, ein unterdessen emeritierter Professor mitsamt Jelena, seiner zweiten, jungen Frau (die erste, Tochter der Landgutbesitzer und Mutter von Sonja, war gestorben), die beiden verschwinden am Ende wieder. Sie werden, wie bisher, weiter von den Erträgen leben, die das Gut, dank der Arbeit von Wanja und Sonja, abwirft. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Der Versuch des Professors, das Gut zu versilbern, scheitert am Ende an Wanjas energischem Widerstand. Die Drehbühne wird sich also weiter drehen. Es gibt keinen Anfang, und ein Ende ist nicht abzusehen. Obwohl Astrow, der mittlerweile versoffene Arzt, der vergeblich hinter der hübschen Jelena her ist, ein Plädoyer hält, das Tschechow bei der ehemaligen Grünen-Vorsitzenden Petra Kelly abgeschrieben haben könnte. „Milliarden von Bäumen sterben (…), Flüsse versanden und trocknen aus, wunderschöne Landschaften verschwinden für immer, das Klima verschlechtert sich und mit jedem Tag wird die Erde wärmer“. Tschechows düstere, in seiner Zeit, Ende des 19. Jahrhunderts, bemerkenswerte Prognose ist mittlerweile eingetreten. Sie ist, wie es in einem makabren Gedicht (von Chr. Reinig) heißt, noch immer interessant, doch auch irgendwie bekannt.
Daran die Aktualität des Stücks festzumachen, scheint mir etwas zu verwegen. Ergiebiger wäre sicher, die Verwandtschaft zwischen Tschechow und Samuel Beckett zu untersuchen. Denn auch, was „Onkel Wanja“ präsentiert, ist ein Endspiel. Und die Gestalten, die es präsentieren, spielen alle den Nachruf auf sich selbst. Peter Schröder, der etwas papageienhafte Professor, zeigt seine einstigen Ansprüche als armselige Parodie. Wolfram Koch, ein stets angesoffener Arzt, ignoriert konsequent die arme Sonja, die sich ihm vergeblich andient und geht stattdessen Elena vergeblich an die Wäsche. Heiko Raulin als Wanja zeigte sich lange Zeit als selbstloser Diener seines Schwagers. Doch am Ende, als er erkannt hat, wie bescheiden die wissenschaftlichen Leistungen des Professor tatsächlich sind, und er zudem sieht, dass sie in keinem Verhältnis zu seinen Ansprüchen steht, da begehrt er überzeugend auf und jagt den armen Gelehrten mit Warnschüssen ums Haus herum. Weshalb der arme Peter Schröder den Professor als Karussellbesitzer vorführen muss, bleibt aber ein Geheimnis der Regie. Melanie Straub als Elena, die zweite Frau des Professors, spielt die fast unnahbar Schöne, die sich immer auch als solche darstellt. Sie hält bis auf weiteres den Frankfurter Rekord im Wechseln ihres Outfits: Alle fünf Minuten zeigt sie sich in neuer, stets ansehnlicher, ihre Figur entsprechend betonender Garderobe. Und auch damit: Bewegung im Stillstand.
Tschechows Stück markiert noch keinen Wendepunkt der Geschichte, steuert aber geradewegs darauf zu. Es zeigt die Ruhe vor dem Sturm. Das macht Jan Bosses Frankfurter Inszenierung durchaus deutlich.
Absurd dagegen, eben dieses Geschehen auf einen Bauplatz zu verlegen. Denn was sich da dreht, ist ein halbfertiges Haus, mit Plastikplanen notdürftig abgedichtet, noch ohne Dach. Was sich Stèphane Laimé bei seinem Bühnenbild gedacht hat, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Wie gesagt: die Drehbühne bietet einen schlüssigen Rahmen, der dem Geschehen voll entspricht. Doch das Gutshaus als einen Rohbau zu präsentieren, führt Tschechows Intentionen als Leere. Hier wird nichts aufgebaut. Es ist der Zerfall, der sich ankündigt. Eine Ruine wäre schlüssig, nicht ein Rohbau, der noch fertiggestellt kann. Das Stück weist nicht in die Zukunft. Es verharrt im Stillstand der Gegenwart.
Der Beifall des Premierenpublikums war allerdings beträchtlich.
II – Henrik Ibsens „Ein Volksfeind" im Schauspiel Frankfurt
Und drei Tage später wurde es richtig lustig. Mensch, was haben wir gelacht. Wir haben uns die Galle aus dem Hals gelacht. Warum? Weil anfangs ein richtiges, dazu noch farbenfrohes Kasperletheater aufgeführt wurde.
Ein für die bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften zeitloser Konflikt: Gemeinwohl versus Kapitalinteressen, die sich, zugegeben, auch mit den Interessen der Allgemeinheit sicher nicht decken, aber immerhin berühren können. Henrik Ibsens Stück ist 1882 entstanden. Die Zahl steht auch hoch oben an der großen Steinwand, die nach hinten die Bühne abschließt. Es bedarf keinerlei Anstrengung, die Aktualität dieses Stoffs herauszustellen. Sowohl die Figuren der Handlung, Vertreter der verschiedenen Gruppierungen des kleinen aufstrebenden Städtchens, wie auch die verschiedenen Interessen, für die sie stehen, sind fugenlos in unsere Gegenwart zu übertragen. Das kleine Städtchen hofft auf den Aufschwung, den das neue Kurbad mit sich bringen soll.
Doch dann stellt der Kurarzt Dr. Stockmann fest, dass das Wasser des Kurbads verseucht ist (und zwar ausgerechnet durch die Kläranlagen in dem Unternehmen seines Schwiegervaters; giftiger Industrieschlamm). Die Sache scheint klar. Dr. Stockmann fordert: Stopp des Baus. Und neue Wasserleitungen. Die Presse stellt sich ebenso auf seine Seite wie die Unternehmer des Ortes. Anfangs. Doch als klar wird, mit welchem finanziellen und zeitlichen Aufwand eine wirkliche Verbesserung verbunden ist, kippt die Stimmung sehr schnell um. Petra Stockmann, Schwester des Badearztes und Bürgermeisterin (im Original, bei Ibsen ist es noch ein Bruder namens Peter), beschwört ihren Bruder, nicht um jeden Preis auf seiner ‚Wahrheit’ zu beharren, sondern auch das Wohl der Stadt mit zu bedenken und nach einem Kompromiss zu suchen. Der Doktor steht vor der Alternative: bringt er die Sache an die Öffentlichkeit und ruiniert dadurch seine Heimatstadt oder nimmt er in Kauf, dass sich mit dem Wasser zwar Menschen vergiften können, aber dafür seine Stadt sich als aufstrebender Badeort etablieren kann.
Ibsen belässt es aber nicht bei dieser starren Gegenüberstellung. Er zeigt in Dr. Stockmann einen ebenso selbstgerecht/eitlen wie sturen Rechthaber, dem es immer auch um seine Selbstdarstellung geht, der also nicht abwägend kalkuliert, sondern sich selbst in den Vordergrund schiebt. Das Gift im Wasser soll als Metapher dienen. Vielleicht liegt darin das Missverständnis. Denn das Gift ist real. Das Problem ist, wie man damit umgeht.
Die Möglichkeiten, über die diese Frankfurter Inszenierung der englischen Regisseurin Lily Sykes verfügt hat – das Stück hatte übrigens zeitgleich in Stuttgart und in Wien ebenfalls Premiere – sind mit bestechender Klarheit im Programmheft dargestellt worden. Auf der Bühne werden sie leider völlig verschenkt. Es lohnt darum auch nicht, die Darsteller eigens hervorzuheben. Sie wurden, teils in kurzen Hosen, aber mit dunklem Jackett, für ein albernes Kasperletheater missbraucht. Am Ende werden sie alle noch in ein Fadenspiel gezwungen, das Fingerfertigkeit und Geschicklichkeit mit dem Geschick gleichsetzt und die ganze Inszenierung vollends ins Leere laufen lässt. Passend dazu allerdings die äußerst farbenfrohen Kostüme von Jelena Miletic, die sich übrigens bei einer späteren Inszenierung von Gorkis „Sommergästen“ sofort wiederverwenden lassen.
Lily Sykes hat sich mit ihrer Parodie des „Volksfeindes“ leider das verkehrte Stück herausgesucht.
Die Tatsache, dass in Wien und Stuttgart ebenfalls auf Ibsens exakt 140 Jahre altes Drama zurückgegriffen wurde, sollte nachdenklicher machen als es die Frankfurter Inszenierung überhaupt erlaubt. Es könnte sich lohnen.
III – Sartres „Die schmutzigen Hände“ im Schauspiel Frankfurt
Am 24. Oktober folgt als dritte Premiere im Schauspiel Sartres Stück „Die schmutzigen Hände“. Dann wird man vielleicht besser sehen, wohin der Hase läuft.
Letzte Änderung: 28.09.2022 | Erstellt am: 28.09.2022
Onkel Wanja
von Anton Tschechow
TEAM
Regie: Jan Bosse
Bühne: Stéphane Laimé
Kostüme: Kathrin Plath
Musik: Carolina Bigge, Arno Kraehahn
Dramaturgie: Gabriella Bußacker
Licht: Marcel Heyde, Jan Walther
Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
TEAM
Regie: Lily Sykes
Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm
Kostüme: Jelena Miletić
Mitarbeit Kostüm: Ivana Kličković
Musik: Fabian Kalker
Dramaturgie: Alexander Leiffheidt
Licht: Ellen Jaeger
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