Leiche und Leberwurst

Leiche und Leberwurst

Nikolai Erdmanns Stück „Der Selbstmörder“ am Wiener Burgtheater
Nikolai Erdmann, Der Selbstmörder“ | © Matthias Horn/Burgtheater

Zwei Umstände, die sich bedingen, werden bei zeitgenössischen Inszenierungen historischer Stücke gern beklagt: die mit der Zeit sich verwirkenden Anspielungen, weil ein wahrnehmbarer Wandel diese Bezüge preisgibt, und der Aktualisierungswille, weil das Publikum für unfähig gehalten wird, den Transfer zu leisten. Martin Lüdke hat das Stück „Der Selbstmörder“ des russischen Autors Nikolai Erdmann am Wiener Burgtheater gesehen und es als problematisch empfunden.

Geschrieben wurde Erdmanns Komödie „Der Selbstmörder“ im letzten Drittel der Zwanziger Jahre des XX. Jahrhunderts. Stalin war damals dabei, seine Herrschaft zu befestigen, Rivalen auszuschalten. Doch der Stalinismus stand noch bevor. Zu lachen gab es schon nicht mehr viel. Aber gefährlich war es noch nicht. Die Versuche, Erdmanns Stück auf die Bühne zu bringen, immerhin von Meyerhold und Stanislawski, zwei der berühmtesten russischen Regisseure jener Zeit (und überhaupt), waren keineswegs aussichtslos, auch wenn sie sich schon ziemlich schwierig gestalteten. Zu einer öffentlichen Aufführung ist es aber nicht mehr gekommen. Das Stück wurde verboten, der Autor in die Verbannung geschickt. Dabei ging es doch tatsächlich nur um die Wurst, genauer um eine Leberwurst.

Es ist mitten in der Nacht. Der arbeitslose Kleinbürger Semjon Kodsekalnikov wacht auf. Er hat nicht nur Hunger, sondern auch Appetit nach, genau, nach Leberwurst. Er weckt seine tief schlafende Frau. Fragt nach einer Leberwurst. Mascha, ebenso schlaftrunken wie verärgert, reagiert aggressiv. Als sie richtig zu sich kommt, merkt sie, dass ihr Mann verschwunden ist. Sie befürchtet Schlimmstes. Nämlich Semjons Selbstmord. Nachbarn, die bei den damaligen Moskauer Wohnverhältnissen keinen weiten Weg hatten, kommen flugs hinzu. Das Gerücht vom Selbstmord verbreitet sich in Windeseile. Und das hat Folgen.

Das Bühnenbild von Michael Sieberock-Serafimowitsch nimmt Motive der russischen Futuristen auf, für die es damals auch schon langsam schwierig wurde. Die Spielfläche ist bis an den Bühnenrand weit nach vorne gerückt. Eine Art Zaun, dicht stehende Balken oder Stahlträger, hinter dem in kurzen Abständen Züge, vielleicht auch U-Bahnen, die blinkend vorbeirattern, getreu dem Lenin’schen Motto: Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Davor, in karger Andeutung, das Schlafzimmer des Paares, hinter der Rückwand tauchen, als das Ehepaar zu streiten beginnt, immer wieder die Köpfe der Nachbarn auf. Später steht dort der aufgebahrte Sarg, und es bleibt noch Platz genug, damit sich Familie, Mitbewohner und interessierte Nachbarn versammeln können, um den armen Semjon, der überhaupt nicht daran dachte, sich umzubringen, aus unterschiedlichen, aber jeweils eigennützigen Motiven zum Selbstmord zu drängen. Kleinbürger, die nicht gesellschaftliche, sondern rein private Interessen verfolgen. Erdmanns Ansatz bleibt dabei aber stets ambivalent. Keine Spur von sozialistischer Solidarität, sondern reiner Egoismus bestimmt das Handeln. Stanislawski wagte es trotzdem, sich persönlich bei Stalin für Erdmanns „Selbstmörder“ einzusetzen. Der schien nicht abgeneigt, aber Lazar M. Kaganowitsch, ab 1930 Mitglied des ZK der KPdSU, und enger Vertrauter Stalins, verstand keinen Spaß und sorgte 1932 endgültig für ein Aufführungsverbot. In der Folge wurde Erdmann 1933 aus Moskau nach Sibirien verbannt. Erst in Chruschtschows „Tauwetter“ wurde er rehabilitiert und konnte 1956 nach Moskau zurückkehren. Doch gelang es ihm nicht wieder, sich als Autor zu etablieren. Er schrieb Texte für den Zirkus und erlebte gerade noch die erste öffentliche Aufführung seines „Selbstmörders“ in Schweden, 1969. Im Jahr darauf starb Nikolai Erdmann, arm und vergessen.

Ein beklagenswertes Schicksal. Aber weißgott kein Einzelfall. Warum also diese Ausgrabung?

Nikolai Erdmann, Der Selbstmörder“ | © Foto: Matthias Horn/Burgtheater

Letzte Änderung: 12.11.2021  |  Erstellt am: 12.11.2021

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