Kunst im Bunker

Kunst im Bunker

Peter Tschaikowskis Oper „Die Zauberin“ an der Oper Frankfurt
Die Zauberin. Oper Frankfurt | ©  Barbara Aumüller

Tschaikowski selbst fand, dass „Die Zauberin“ seine bis dahin beste Oper war. Bei Publikum und Kritik des zaristischen Russlands fiel sie bei der Uraufführung 1887 in Sankt Petersburg krachend durch. Zu stark damals die Regimekritik und die musikalische Modernität und Komplexität. Nun hat sie die Frankfurter Oper auf die Bühne gebracht. Andrea Richter fragt sich, wieso dieses Werk nicht die ihm zustehende große Bedeutung in den Spielplänen hat.

Opern waren von jeher eine hochpolitische Angelegenheit. Auf der Folie mythologischer oder historischer Stoffe, angefüttert mit persönlichen Dramen, wurde und wird Aktualität verhandelt. Auch Tschaikowski und sein Librettist Ippolit Schpaschinski taten das in der Zauberin. Sie verlagerten die Handlung ins Mittelalter, um die Missstände im zaristischen Russland anzuprangern. Da lag es für Regisseur Vasily Barkhatov nahe, die heutige politische und gesellschaftliche Situation seines Heimatlandes als Plattform für die Handlung zu wählen, die den Zuständen in zaristischer Zeit stark ähnelt. Er nimmt die orthodoxe Kirche mit ihrem fatalen Einfluss auf die Politik und damit auf die Kunst, auf die Freiheit und auf mögliche Veränderungen besonders ins Visier.

Fein abgestimmt auf die unglaubliche Musik. Denn Tschaikowski blättert in Die Zauberin sein gesamtes Können auf. Alles von ihm steckt darin, im positivsten Sinn. Seine siebente und drittletzte Oper: ein gewaltiges, stark symphonisch geprägtes Werk von Wagnerschen Ausmaßen, hochromantisch und gleichzeitig in die musikalische Moderne weisend, intimen und zarten Solo-Arien und Duetten stehen groß angelegte Volks- und typisch orthodoxe Kirchenchorszenen gegenüber, russischen Volksmelodien Arien im italienischen Stil, und sogar die Komtur-Szene aus Mozarts Don Giovanni wird zitiert. Musikalische Vielfalt innerhalb eines Werks, die ihresgleichen sucht. Unter der Leitung von Valentin Uryupin findet die Vielfalt zu einem berührenden Ganzen zusammen, in jedem Takt ist Tschaikowski hör- und fühlbar. Vier Stunden Musik-Theater total.

Die Oper ist ein Ensemble-Stück, ähnlich den Meistersingern oder dem Rheingold. Dieser Grundkonzeption von Die Zauberin entspricht der Verzicht auf eine oder zwei Alles tragende und bestimmende Solopartien. Es gibt viele Solisten, allerdings mit unterschiedlicher Gewichtung. Jeder von ihnen bekommt die Möglichkeit gesanglich zu strahlen, genau wie der Chor. Um fünf der Solisten rankt sich das Haupt-Geschehen: ein Sopran (Nastasja/Kuma: Asmik Grigorian) ein Mezzosopran (Fürstin: Claudia Mahnke), ein Bariton (Fürst: Iain Macneil), ein Tenor (Juri: Alexander Mikhailov) und ein Bass (Mamyrow/Kudma: Frederic Jost). Damit hat Tschaikowski das damals übliche Stimmlagen-Spektrum ausgeschöpft, und in dieser Produktion setzen sie sich in idealer Weise voneinander ab und ergänzen sich gleichzeitig, mal mit mal ohne den wunderbaren Chorgesang. Herausragend jeder für sich, großartig in der Stimmen- und Spiel-Gemeinschaft.

Die Zauberin. Oper Frankfurt | © Foto: Barbara Aumüller

Vasily Barkhatov hat dazu eine moderne Parabel vom Feinsten entworfen:
Zwei Welten an zwei Spielorten stehen sich in den ersten drei Akten gegenüber: Die der kunstsinnigen, bezaubernden Nastasja, von ihrer Gefolgschaft Kuma (Gevatterin) genannt, die eine Galerie in einer Art Beton-Bunker ohne Tageslicht betreibt. Dort treffen sich moderne, frei denkende Menschen aller Art zum Feiern und zum offenen Diskurs, sprich: heftiger Kritik am Herrscher und vor allem an der Kirche und der Tradition. Sogar Juri, der Sohn des obersten Befehlshabers in Nischni-Nowgorod, schaut kurz vorbei. Sie kommen und gehen, nur Kuma, die Personifizierung der von der diktatorischen Außenwelt abschotteten Kunst, bleibt immer. Freiheit und Natur gibt es für sie nur noch in Gestalt von Bildern und Gedanken. Ein riesiger Wolf steht als warnendes Symbol im Raum. Ein klug gewähltes Requisit! Denn ein Kommandant der während der Zarenzeit gegründeten paramilitärischen „Hundertschaft der Wölfe”, die nach dem Fall der Mauer ihre postsowjetische Auferstehung feierte und im Krieg gegen die Ukraine zum Einsatz kommt, erklärte (laut Wikipedia) gegenüber dem Times Magazin: „… Wir kamen zusammen, organisierten uns selbst, und begannen als Freiwillige, immer wenn es eine Bedrohung für die russisch-orthodoxe Kirche, orthodoxe Gläubige oder die Interessen des russischen Reiches gab, …” Der Wolf symbolisiert also die Macht von Kirche und Staat. Die beiden erscheinen in Gestalt von Juris Vater, General Nikita (Iain MacNeil) und des Priesters Mamyrow (Frederic Jost). Dieser muss entsetzt feststellen, dass sich der General in der der Staatsdoktrin widersprechenden bunten Gesellschaft und ganz besonders in Nastasjas Nähe außerordentlich wohlfühlt. Nikita lässt es sogar zu, dass die Tänzer der Truppe mit Wolfsmasken auf den Gesichtern einen makabren Tanz, der in einem Can-Can endet, aufführen, mit dem sie Mamyrow verhöhnen.

Die Zauberin. Oper Frankfurt | © Foto: Barabara Aumüller

Die andere Welt ist das geräumige, reich-spießige, durch ein Fenster von der Sonne hell erleuchtete Wohnzimmer der Generals-Familie. Die blonde Dame des Hauses und ihre ebenso blonde Tochter machen in rosa Sportkleidung auf rosa Matten Yoga-Übungen und unterhalten sich dabei singend über den Verdacht, dass der Hausherr ein Verhältnis mit der Hexe und bösen Zauberin Nastasja hat. Der noch immer zutiefst beleidigte Besucher Mamyrow bestätigt das gern, denn der General hält sich de facto täglich bei ihr auf. Er denkt überhaupt nur noch an Nastasja und vertraut sich nicht etwa der Gattin, sondern seinem (quicklebendigen!) Schäferhund – die Parallele zu Hitler und seinem Schäferhund Blondi ist unübersehbar! – an. Die Gattin schwankt zwischen Verzweiflung und Wut, schüttet dabei ein Glas Rotwein nach dem anderen herunter. Sohn Juri (mit goldenen Sportschuhen!) mischt sich einen Powerdrink, erfährt von der Untreue des Vaters und schwört, die Nebenbuhlerin zu töten. Er eilt zu ihr, um sie umzubringen. Doch stattdessen verliebt er sich in sie und will sie vor den Racheplänen von Mutter und Priester retten.

Und dann gibt es eine dritte Welt, eine Art märchenhaft, mythische Zwischenwelt im vierten und letzten Akt. Sie liegt räumlich zwischen den Zugängen zu beiden Räumen, von denen sich nun zeigt, dass sie nichts weiter als Kulissen, nichts als Potemkin’sche Dörfer sind. Beide Welten geraten unter der Ägide des bösen Zauberers Kudma, der mit dem rückständigen Priester Mamyrow verschmolzen ist, durcheinander. Niemand weiß mehr, wohin was und wer gehört, wer, wen liebt oder hasst. Totale Orientierungslosigkeit, die in Gewalt endet. Zum Schluss liegen drei Leichen im Wohnzimmer des komplett verwirrten General-Diktators: Die geliebte Nastasja (= Kunst+ Freiheit), sein Sohn Juri (= Zukunft + Liebe) und seine Frau (= Beständigkeit + Tradition). Er weiß nicht weiter, er ist einsam. Sein russisches Haus ist leer und vor allem sinnentleert.

Welches politische Theater! Welche Oper als Vorlage!

Letzte Änderung: 08.12.2022  |  Erstellt am: 07.12.2022

Die Zauberin
Musik von Peter I. Tschaikowski
Text von Ippolit W. Schpaschinski
Uraufführung 1887 im Mariinski-Theater Sankt Petersburg
 
 

Oper Frankfurt
Musikalische Leitung: Valentin Uryupin
Inszenierung: Vasily Barkhatov
Bühnenbild: Christian Schmidt
Kostüme: Kirsten Dephoff
Oper Frankfurt
 
 

Nastasja   Asmik Grigorian
Fürst   Iain MacNeil
Die Fürstin   Claudia Mahnke
Prinz Juri   Alexander Mikhailov
Mamyrow / Kudma   Frederic Jost
Nenila    Zanda Švēde
 
 
Weitere Vorstellungen: 11., 14., 18., 21., 30. Dezember 2022 und 8. Januar 2023. Bitte auf die unterschiedlichen Vorstellungsbeginne achten!

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