Kein Programm für die Zukunft

Kein Programm für die Zukunft

Agnès Varda im Gespräch
Agnès Varda

Der Kinofilm, sollte man meinen, ist ein Gesamtkunstwerk, dessen Komposition aus Bildern, Erzählungen, Dialogen, Geräuschen und Musik besteht. Und doch werden wir immer wieder darauf hingewiesen, dass es beim Film vor allem um die Bilder geht. So auch von der 2019 gestorbenen Regisseurin Agnès Varda, die mit Marli Feldvoß 2009 über ihren Film „Die Strände von Agnès“ gesprochen hat.

Vorbemerkung

Da steht sie ganz allein am Strand, eine kleine alte Frau, die sich mit vorsichtigen Schritten im Rückwärtsgang bewegt und, direkt zum Zuschauer gewandt, erklärt: „Ich spiele die Rolle einer kleinen geschwätzigen Alten, die ihr Leben erzählt, aber eigentlich sind es die anderen, die mich interessieren.“ Agnès Varda tritt hier zum ersten Mal als Filmerzählerin „vor“ die Kamera, eine selbstbewusste Selbstdarstellerin, die über die Vergänglichkeit des Lebens, ausnahmsweise einmal ihr eigenes, philosophiert.

Agnès Varda hat sich in ihrem langen Künstlerleben immer wieder neu erfunden. In radikalen Umschwüngen. Aus heiterem Himmel beschloß die gelernte Fotografin (damals Hausfotografin des Théâtre Nationale Populaire von Jean Vilar), Filmemacherin zu werden. Mit 26 Jahren fuhr sie mit einer geliehenen 16mm-Kamera gen Süden und drehte mit ein paar Freunden ihren ersten Film „La Pointe Courte“, den Schnitt überließ sie dem gefragten jungen Cutter Alain Resnais.

Schon mit ihrem Filmdebüt „La Pointe Courte“ (1954/55) erregte die junge Künstlerin so viel Aufsehen, dass Filmguru André Bazin sie samt ihrer Filmdosen sofort nach Cannes losschickte. Mit ihrem von der Literatur inspirierten ‚alternierenden Erzählstil‘ sollte sie den ersten Film der Nouvelle Vague drehen. Mit den Spielszenen einer Ehe, im Wechsel mit den realistisch gefilmten Beobachtungen aus einem Fischerdorf, zeigte Agnès Varda, daß es ihr um eine eigene Filmsprache ging, um ihre Cinécriture, wie sie es später formulierte, filmgeschrieben, eine Arbeitsmethode, die ohne klassisches Drehbuch auskommt. Die großen Stilfragen, mit denen sich Varda bis zuletzt auseinandersetzte, lagen von Anfang an auf dem Tisch: Wie verbinde ich Dokument und Fiktion? Wie geht das Wahre und das Falsche zusammen? Wo hört die Realität auf? Wo fängt die Fiktion an? Sie hinterfragte immer wieder den „Blick“ im Kino, indem sie neue Erzählstrategien ausprobierte, um den Erzählstrom zu fragmentieren. Das gilt in gleichem Maße für ihre Dokumentar- wie Spielfilme. Die symmetrischen Effekte wurden zum Erkennungszeichen der Künstlerin, lineares Erzählkino interessierte sie nicht. Ihre späteren Doppelfilme diskutieren diese Fragen im größeren Maßstab. Etwa „Mur Murs“, ein Spielfilm, der lügt, und „Documenteur“ (1980/81), ein Dokumentarfilm, der lügt: „Man weiß nicht so genau, ob die Kunst das Leben nachahmt oder das Leben die Kunst.“

Bei uns erinnert man sich an ihre großen Erfolge, den ersten Spielfilm „Cléo de cinq à sept“ (Cléo zwischen 5 und 7, 1961) in schwarz-weiß und in Echtzeit gedreht, einer der ersten neuen Frauenfilme überhaupt. Auch an ihren seinerzeit als „unmoralisch“ missverstandenen Film „Le Bonheur“ (Das Glück, 1965), der in Erzählstruktur und Farbwahl die rituelle Struktur der familialen und sexuellen Interaktionen eines Paars beobachtet.

Agnès Varda war bereits 57 Jahre alt, als sie sich mit ihrem fraglos besten und erfolgreichsten Film „Sans toit ni loi“ (Vogelfrei, 1985) wieder ganz neu erfand. Der Goldene Löwe in Venedig läutete den Beginn einer zweiten Karriere ein. Im Grunde variiert sie darin das Thema ihres frühen Erfolgsfilms „Cléo de cinq à sept“. Anders als die Sängerin Cléo lehnt die Aussteigerin Mona (Sandrine Bonnaire) jedes soziale Verhalten oder Selbsterkenntnis ab und geht dem sicheren Tod entgegen. Ein analysierender, kühler Blick fällt auf die Figur, die im frostklaren südfranzösischen Winter per Anhalter unterwegs ist; er stützt sich auf ein strenges Erzählkorsett, das die Figur, jedes Wort, jeden Schritt, jede Begegnung, jeden Farbton mit Bedeutung auflädt, doch ihre Geschichte wird nur noch nach Zeugenaussagen rekonstruiert. Varda nennt ihren Film „das unmögliche Porträt einer Frau.“ Agnès Varda ist am 29. März 2019 mit 90 Jahren in Paris gestorben. Marli Feldvoß

Agnès Varda im Gespräch mit Marli Feldvoß zu ihrem Film „Die Strände von Agnès“

Agnès Varda hinter der Kamera
Marli Feldvoß: Madame Varda, Ihr neuer Film „Die Strände von Agnès“ ist wie ein großes Feuerwerk an Ideen, das mit unglaublicher Leichtigkeit abbrennt, als wäre ihnen das alles nur so zugeflogen.

Agnès Varda: Ich habe den Film zwar spontan gemacht, habe mich aber sehr langsam vorangetastet, um die Unordnung zu strukturieren. Erst seit der Film fertig ist und ich ihn auf den Festivals gesehen habe, merke ich, was eigentlich drinsteckt. Als ob etwas aus dem Film herauskommt, was ich selbst gar nicht gesagt habe. Das Entscheidende am Medium Kino ist die Auswahl der Bilder. Ich habe aus meiner Erfahrung, aus meinem „Lebenswerk“ Bilder ausgesucht, um Disparates zusammenzufassen. Das Interessante ist eben, dass ich jetzt Dinge sehe, die ich vorher gar nicht wahrgenommen habe.

Wie meinen Sie das?

Auf eine sehr bewusste Art durchläuft mein unbedeutendes kleines Leben viele wichtige Ereignisse aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zum Beispiel bin ich keine Jüdin und niemand aus meiner Familien war direkt vom Holocaust betroffen. Aber ich habe davon gehört und Jahre später eine Installation über „Die Juden und die Gerechten“ gemacht. Und wie zufällig fügt sich diese Installation in meine Jugend ein, als ich Pfadfinderin war und auf Pfadfinderlagern unterwegs war, während Juden in die Schweiz emigriert sind. Ganz direkt habe ich die Revolutionen in China und Kuba mitgekriegt und meine persönliche feministische Revolution, den Kampf für Abtreibung und Empfängnisverhütung. Das sind Ereignisse, die jeder kennt, die ich aber so erzähle, wie ich sie wahrgenommen habe. Auch meine Erfahrungen als Filmemacherin sind eingeflossen, Methodenwechsel, Themenwechsel, auch neue Kameratechniken. Nicht zu vergessen mein Privatleben mit Jacques Demy, den ich 1958 kennengelernt habe, die Höhen und Tiefen einer Beziehung, die 32 Jahre währte.

Warum wollten Sie unbedingt selbst den Film über Ihr Leben drehen?

Es ist eigentlich immer ein Mysterium, wie es dazu kommt, dass ich einen Film drehe. In diesem Fall dachte ich mir, bald werde ich 80, da muss irgendetwas geschehen. Mir kommt es so vor, als ob das vielen Künstlern so geht, wenn sie älter werden. Ich habe mir die „Essais“ von Montaigne wieder einmal vorgenommen und eine sehr schöne Formulierung gefunden: „Da meine Nächsten, meine Freunde, meine Familie mich verlieren (was bald geschehen wird), werden sie sich vielleicht freuen, wenn sie nachlesen können über meine Stimmungen und mein Leben und wie es mir so ging.“ Das hat mich sehr beeindruckt, dass der große Philosoph ganz einfache Dinge aus seinem Leben erzählen wollte. So wie jeder andere Alte auch. Die Frage aber war, wie setze ich das filmisch um? Dazu sind mir drei Mittel eingefallen: Erstens wollte ich erzählen und mich selbst spielen, zweitens mein Archiv, das alles enthält, was ich gemacht habe, als eine Art Datenbank benutzen, drittens wollte ich mein Interesse an Malerei und Landschaften einbringen, auch die schönste Landschaft der Welt: den Strand. Ich habe dafür eineinhalb Jahre gebraucht, weil der Film langsam reifen musste.

Eine zentrale Rolle spielt der Innenhof in Ihrem Haus in Paris, ist das Ihre Lebensader?

Ich wohne in diesem Hof seit 1951. Aber er ist heute sehr verändert, deshalb haben wir den Hof in seinem damaligen Zustand im Studio rekonstruiert. Es ist auch eine Stilfigur, man betritt niemals das Haus, man kommt immer durch den Hof. Es ist so, als hätte ich eine Grenze um das gezogen, was ich preisgeben will. Um das Thema Strände noch zu unterstützen, haben wir einen Strand vor unserem Haus aufschütten lassen. Das hat mit Hilfe des Pariser Rathauses geklappt.

Gibt es noch Austausch zwischen den alten Filmemachern der Nouvelle Vague?

Die alte Garde der Nouvelle Vague trotzt der Zeit. Resnais und Marker arbeiten unentwegt. Sie sind älter als ich, alle über 80. Aber ich weine der Nouvelle Vague nicht nach. Wichtiger ist heute das Wiedererstarken des Films durch junge Filmemacher aus anderen Kulturen. Ich denke an Abdellatif Kechiche oder Rabah Ameur-Zaïmeche, auch an die Ecole Desplechin.

Warum sehen wir so wenig französische Filme in den letzten Jahren?

Es gibt seit zehn Jahren nur wenig Austausch zwischen dem deutschen und dem französischen Kino, mit England verhält es sich ähnlich. Kein Vergleich mit der Zeit zwischen 1960 und 1975. Der französische Film ist heute mehr in Amerika und in Japan gefragt.

Sind „Die Strände von Agnès“ der Schlussstrich unter das Kino der Agnès Varda?

Eigentlich war ich dabei, mich vom Kino zu entfernen und habe in den letzten fünf Jahren hauptsächlich an Installationen gearbeitet. Das fing 2003 auf der Biennale von Venedig an, wo ich ein gewaltiges Triptychon mit Kartoffeln ausgestellt habe. Das hat mir sehr großen Spaß gemacht; es war anschließend noch in Kirchen und Museen zu sehen, davor wurden 700 kg echte Kartoffeln auf dem Boden ausgeschüttet. Und vor zwei Jahren habe ich acht Installationen in der Fondation Cartier in Paris ausgestellt. Es geht um ein Nachdenken über den Raum. Auch darum, wie man Filme anders sehen kann. Am Ende von „Die Strände“ sehen Sie das „Haus des Kinos“, eine Leichtmetallkonstruktion, deren Wände aus 3.600 Metern Filmmaterial bestehen. Ich finde es spannend, auf konzeptionelle Art mit Film umzugehen. Es ist zwar in Mode, aber es passt derzeit besser zu mir. Wenn man heute Kino macht, sind die technischen Zwänge sehr ermüdend. Aber ich habe kein Programm für die Zukunft.

 
 
 

Das Interview wurde in Tübingen 2009 geführt.

Agnès Varda hat mit „Varda par Agnès” ein weiteres Biopic gedreht, das kurz vor ihrem Tod im Februar 2019 auf der Berlinale seine Uraufführung erlebte. Unter diesem Titel hatte sie bereits 1994 eine reich bebilderte Biographie veröffentlicht. Marli Feldvoß hat 1994 im Auftrag des WDR, sieben Kurzfilme von 5 bis 30 Minuten mit Agnès Varda in Paris gedreht, die zusammen mit der Varda-Retrospektive des WDR 1994/5 ausgestrahlt wurden; gefolgt von BR, HR, NDR, SFB, SR u.a..

Letzte Änderung: 12.01.2022  |  Erstellt am: 12.01.2022

Varda par Agnès

Agnès Varda Varda par Agnès

Regie: Agnés Varda, Didier Rouget
Sprache: Französisch
Tonformat: Dolby Digital 5.1
Bild: Widescreen
Untertitel: Deutsch

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